Die nachhaltige Transformation von Lieferketten ist eines der zentralen Zukunftsthemen für die europäische Industrie. Getrieben durch regulatorische Vorgaben und steigende Anforderungen von Kunden und Investoren bietet diese Entwicklung Unternehmen die Chance, ihre Geschäftsmodelle neu zu denken und nachhaltiger und profitabler zu gestalten. Was oft als zusätzliche Belastung empfunden wird, eröffnet neue Perspektiven für resiliente und wertschöpfende Lieferketten, die Unternehmen langfristig Wettbewerbsvorteile sichern. Nachhaltigkeit ist also kein Widerspruch zu Profitabilität, sondern ein strategischer Hebel, um den Herausforderungen globaler Märkte erfolgreich zu begegnen, neue Werte zu schaffen und dem Konkurrenzdruck von immer effizienteren traditionell-linearen globalen Lieferketten entgegenzutreten.
Die Herausforderung besteht darin, neue Lösungswege zu finden, die über die bloße Weiterentwicklung des Status Quo hinausgehen. Statt auf lineare Fortschritte zu setzen, müssen Unternehmen mit verknüpften „Was-wäre-wenn“-Szenarien radikale Veränderungen in Bereichen wie Produktdesign, Geschäftsmodellen und Lieferketten-Ökosystemen denken. Grundlage dafür sind technologische, regulatorische und infrastrukturelle Entwicklungen, die heute oder in naher Zukunft verfügbar sein werden.
Um zukünftige Wertschöpfungspotenziale zu nutzen und eine starke Ausgangsposition zu schaffen, müssen Unternehmen zunächst die regulatorischen Anforderungen der Nachhaltigkeit erfüllen. Doch dabei sollte es nicht bleiben: Wer die Nachhaltigkeitsziele als Chance begreift, kann sein Risikomanagement verbessern, die Attraktivität für Investoren steigern und sich mit nachhaltigen Produkten und Dienstleistungen klare Wettbewerbsvorteile sichern.
Strategien zur Einhaltung regulatorischer Anforderungen entlang der Lieferkette
Die Gesetzgebung für Lieferketten wird immer komplexer und anspruchsvoller. Unternehmen müssen nicht nur selbst Gesetze einhalten, sondern auch sicherstellen, dass in ihren Lieferketten Menschenrechte und Umweltstandards eingehalten werden. Neue Gesetzte sind jedoch oft unklar, widersprüchlich oder unvollständig. Viele Unternehmen haben Schwierigkeiten, die für sie relevanten Vorschriften zu identifizieren. Die Branche, die Unternehmensgröße, die bedienten Märkte und die Aufstellung des Produktionsnetzwerks – also die Struktur der Lieferkette – sind entscheidend, welche Gesetze gelten und wann diese in Kraft treten.
Unschärfen in Regularien
Unklare und widersprüchliche Regelungen führen häufig dazu, dass Unternehmen wichtige Entscheidungen hinauszögern und damit wertvolle Zeit auf ihrer Transformations-Roadmap verlieren. Ein Beispiel hierfür ist der Konflikt zwischen der Erhöhung des „Post-Consumer-Rezyklat-Anteils“ in neuen Produkten und den Regelungen zur Verlängerung der Nutzungsdauer durch das „Recht auf Reparatur“. Während Reparaturvorgaben dazu beitragen, dass Produkte länger genutzt werden, wird gleichzeitig mehr Rezyklat benötigt, das erst durch die Entsorgung von Altprodukten zur Verfügung steht. Je nach Produktlebenszyklus und Produktionsmenge kann dies zu einer regionalen Knappheit an Recyclingmaterial führen. Viele Unternehmen sehen daher derzeit keine ausreichende Planungssicherheit, um größere Investitionen in Nachhaltigkeit zu tätigen.
Schritte zur Einhaltung regulatorischer Anforderungen
- Regelmäßiges Monitoring der Gesetzesentwürfe auf nationaler und internationaler Ebene
- Fallbezogen öffentliche oder expertenbasierte Kommentierungsoptionen nutzen
- Zeithorizonte bis Inkrafttreten, gegebenenfalls in Abhängigkeit von Unternehmensparametern oder länderspezifischer Umsetzung
- Minimale Anforderungen für das eigene Geschäft analysieren
- Welche Strukturen, Technologien oder Funktionen im Unternehmen existieren bereits, um die Anforderungen der Regulatorik zu erfüllen?
- Ausweiten der Recherche auf etablierte Anbieter für Lösungen im Kontext der jeweiligen Regularien
- Integration von Aktivitäten zur Einhaltung der Vorgaben in die Standardprozesse und IT-Systeme
- Nutzen externer Plattformen und zeitnahe Umsetzung von (Daten-)Schnittstellen
- Synergien zwischen bestehenden Systemen für die Berichterstellung nutzen, Konsolidierung der Datenquellen und IT-Systeme
- Klare Zuordnung der Verantwortlichkeiten in Bezug auf neue Regularien
- Trainings durchführen wo erforderlich
Die Nichteinhaltung der Regulatorik kann für Unternehmen erhebliche finanzielle, rechtliche und reputative Folgen haben. Um diese Risiken zu vermeiden, müssen Unternehmen ein wirksames Risikomanagement einführen, ihre Lieferketten sorgfältig überwachen und Maßnahmen zur Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen umsetzen.
Am Beispiel der EUDR möchten wir verdeutlichen, wie wichtig es ist, sich frühzeitig mit regulatorischen Anforderungen auseinanderzusetzen und deren Bedeutung für das eigene Unternehmen zu erkennen. Die EUDR zielt darauf ab, die Entwaldung zu bekämpfen und nachhaltige Praktiken in den Lieferketten zu fördern. Der erste Eindruck, dass vor allem Branchen betroffen sind, die direkt mit dem Rohstoff Holz zu tun haben, ist möglicherweise irreführend. Tatsächlich umfasst die EUDR über 800 Produktgruppen, die neben der Lebensmittelindustrie auch in der Automobilindustrie (Gummi) oder im Maschinen- und Anlagenbau (Schmierstoffe auf Basis natürlicher Rohstoffe) Verwendung finden. Neben der Frage, welche Unternehmen sich aktiv um die Einhaltung der EUDR bemühen müssen, kann das Verständnis der Regelungen wichtige Hinweise auf mögliche Störungen in der Lieferkette geben. Bei Einführung der EUDR könnte es zu massiven Verzögerungen beim Import der betroffenen Produktgruppen kommen, wenn die erforderlichen Nachweise nicht zum Stichtag vorliegen und die Behörden die Einhaltung strikt handhaben.
Aufwände reduzieren und von Multiplikatoren profitieren
Die Einhaltung von Gesetzen und Vorschriften mag auf den ersten Blick als reiner Kostenfaktor erscheinen, der neben der Vermeidung von finanziellen und Image-Risiken keinen zusätzlichen Nutzen schafft. Wenn Unternehmen jedoch die daraus neu gewonnenen Erkenntnisse als Grundlage für eine umfassende strategische Neuausrichtung nutzen, kann dies einen signifikanten Return on Invest generieren.
Hürde „Optimierte Linearwirtschaft“
Ein wesentliches Hemmnis für die ganzheitliche Transformation zu nachhaltigem Wirtschaften sind die Investitionen der Vergangenheit. Diese zielten häufig auf die Optimierung linearer Geschäftsmodelle ab und liegen teilweise noch vor dem jeweiligen kalkulierten Break-Even-Point. Dies bedeutet, dass neben einem möglichen Beharrungsmoment auch eine klare ökonomische Barriere für schnelle und investitionsintensive Maßnahmen besteht. Für die Automobilindustrie sind etwa die neu errichteten Giga-Fabriken eine Investition in die Produktivität der linearen Fertigung von schlecht recycle- oder wiederverwendbaren Batterien. Man sollte daher nicht mit einer zeitnahen flächendeckenden Umstellung dieser Produktionsanlagen auf zirkuläre Modelle rechnen.
Erfolgreiche (Teil)-Transformation in ein nachhaltiges Geschäftsmodell bzw. in eine Circular Economy
In der Summe führen die bestehenden und neuen regulatorischen Anforderungen dazu, dass Unternehmen für zahlreiche Aspekte Transparenz in den eigenen Prozessen, in der Lieferkette sowie in nachgelagerten Nutzungs- und Verwertungsphasen schaffen müssen. Dieses umfassende Bild des Status Quo ist ein idealer Startpunkt, um die Nachhaltigkeitsstrategie oder auch die Transformation in eine Kreislaufwirtschaft strategisch zu bewerten. Ziel ist es dabei, die Umsetzung signifikanter Wertepools zu ermöglichen und damit die im Vorfeld investierte Zeit und Ressourcen für mehr als nur reine Compliance- und Berichtszwecke zu nutzen.
Ganzheitlicher Ansatz
Wenn Unternehmen ihre Transformation strategisch angehen, ergeben sich eine Reihe von Werttreibern oder „Wertepools“. Sie reichen von der Verbesserung der Mitarbeiterzufriedenheit über die Erhöhung der Attraktivität für Investoren bis hin zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Zahlreiche Beispiele aus unterschiedlichen Branchen zeigen, dass durch die Einführung umfassender Recyclingprogramme die Umweltbelastung reduziert und gleichzeitig die Produktionskosten im zweistelligen Prozentbereich reduziert werden können. Auch neue Geschäftsmodelle wie “Mieten statt Kaufen” tragen zur Ressourcenschonung bei. Kosten können weiter gesenkt werden, wenn die Produkte nach Ablauf der Mietdauer zurückgegeben, überholt und erneut vermietet werden können.
Die Fokusbereiche für die Status-Quo-Einschätzung umfassen typischerweise den Einkauf, Supply Chain und die Produktion. Eine radikale Neuausrichtung bezieht zusätzlich die Bereiche Vertrieb, Forschung & Entwicklung, Finanzen und Organisationsentwicklung mit ein.
Multi-dimensionale Ziele im Widerspruch?
SG-Zielsetzungen werden häufig unabhängig voneinander betrachtet und als additiv oder sogar widersprüchlich wahrgenommen. Es gibt jedoch klare Zusammenhänge sowohl bei der Datenerhebung als auch bei den Umsetzungshebeln. Eine LkSG-getriebene Analyse und Monitoring-Plattform kann beispielsweise auch als Grundstruktur für die Transparenz und Reduktion der Emissionen in der Lieferkette fungieren. Ebenso wirken sich Maßnahmen der Kreislaufwirtschaft häufig positiv auf Treibhausgasemissionen und teilweise auf die soziale Dimension aus, etwa durch die Lokalisierung von Arbeitsschritten in der Wiederaufbereitung, Reparatur oder im Recycling mit wesentlich vereinfachter Transparenz zu den Arbeitsbedingungen.
Bereits die frühzeitige Identifikation der benötigten Informationen zu Produkten, Materialströmen und Lieferketten und deren möglichst gebündelte und technologiegestützte Erhebung kann den initialen Aufwand der ESG-Berichtserstellung bereits deutlich senken. Auch auf der Maßnahmenseite gilt: Umfassende Ansätze sparen Zeit, Aufwand und reduzieren die Komplexität der Umstellung auf nachhaltige Lieferketten.
Auch die Frage, ob der ökologische Wandel zwangsläufig im Widerspruch zu ökonomischem Erfolg steht, kann klar verneint werden. Einzelne Aspekte wie beispielsweise die Energiewende stellen für die Industrie zwar eine große Herausforderung dar, andererseits sind die Effizienzpotenziale zur Einsparung immer noch signifikant, insbesondere wenn der Primärbedarf energieintensiver Materialien, Teile oder Komponenten im Rahmen der Kreislaufwirtschaft durch eine Nutzungsintensivierung gesenkt wird. Kritisch ist in diesem Kontext die Frage, wie die Hersteller bei einer Umstellung auf haltbarere Produkte trotz sinkender Stückzahlen ihre Margen halten können. Teilweise gelingt dies durch ein grünes Premium im Produktpreis, bei langlebigen Produkten sollte über die Umstellung des Geschäftsmodells nachgedacht werden, zum Beispiel Pay-per-Use oder Refurbishment-Ansätze. Ist deren Finanzierung geklärt, verzeichnen viele Pioniere bereits heute eine positive ökonomische Bilanz, die im Einklang mit den Vorteilen in der ökologischen und sozialen Dimension steht.
Marge vervielfachen durch Wiederverwendung
Das Potenzial eines mutigen ganzheitlichen Ansatzes lässt sich am konkreten Beispiel eines Herstellers von Wasserzählern veranschaulichen. Das Unternehmen sah sich vor mehr als einem Jahrzehnt mit stark steigenden Rohstoffkosten konfrontiert. Anstatt der Konkurrenz zu folgen und auf minderwertige und damit billigere Rohstoffe umzusteigen, wurde das Produkt im Design langlebiger und damit teurer gemacht. Parallel dazu wurden die Techniker zur Rückgabe zerlegter Altgeräte motiviert und die Produktion auf modernste Industrie 4.0-Standards umgestellt. Die Kosten für die Rückwärtslogistik und die weitgehend automatisierte Aufarbeitung liegen weit unter dem erwarteten Wert, da >95 Prozent des Produktwertes wiederverwendet werden. Ab der 2. Nutzungsrunde ist die kombinierte Marge signifikant höher als im linearen, traditionellen Modell. Die Anpassungen an Produkt, Produktion und Geschäftsmodell sind jedoch aufwändig und langwierig.
Lösungen & Infrastruktur zur Unterstützung der Transformation
Erhobene ESG-Daten und Informationen gezielt nutzbar zu machen, ist aufgrund der komplexen Wirkzusammenhänge fast ausschließlich mit methodischer und toolbasierter Unterstützung möglich. Selbst bei großer Offenheit für alternative Lösungswege erfordert die detaillierte Bewertung nachhaltiger Geschäftsstrategien häufig Ansätze, die sowohl finanzielle Wirkmechanismen abbilden als auch Szenarien zum Testen der Robustheit der Lösungsalternativen ermöglichen.
ESG-Technologien und methodische Ansätze
Die Angebotslandschaft in diesem Bereich ist noch jung und dynamisch. Die ideale Kombination von Werkzeugen zur effektiven und effizienten Regularien-Erfüllung (Berichten & Verbessern) und zur strategischen Bewertung zukünftiger Optionen ist abhängig vom Industrie-Segment, dem geografischen Fokus der Geschäftstätigkeit sowie der aktuellen Datenlage und Systemlandschaft. Methodische Unterstützung bieten beispielsweise Konzepte wie MACC (Marginal Abatement Cost Curve), Eco-Design, Circular Solutions Engineering und der Circular Business Model Canvas. Darüber hinaus kommen nach einer ersten grundsätzlichen strategischen Ausrichtung weitere Methoden und Technologieplattformen zum Einsatz, die sich jedoch teilweise noch in der Entwicklung befinden. Der wohl weitreichendste Schritt sind dann industrieübergreifende Kollaborationen, die sich in einzelnen Industrien auch schon herausbilden und für die beteiligten Unternehmen hohe Effizienzpotentiale aufweisen (z. B. Catena-X für die Automobilbranche).
ESG im Branchenfokus
Die Erfolgsfaktoren für eine grüne Transformation können maßgeblich von der jeweiligen Branche geprägt sein. Teilweise stehen einzelne Aspekte der ESG-Dimensionen stark im Vordergrund, wie z.B. Treibhausgasemissionen in energieintensiven Industrien oder Arbeitsbedingungen beim Abbau von Rohstoffen. Ebenso kann der Fokus auf dem nachhaltigen Umbau der eigenen Produkte und Lieferketten wie bei Konsumgütern oder gleichzeitig auf dem Auf- und Ausbau innovativer Nachhaltigkeitslösungen bei Investitionsgütern liegen.
So entsteht beispielsweise für den Maschinen- und Anlagenbau sowie für Anbieter von Automatisierungstechnik ein neuer Markt. Neben der Fragestellung, wie die eigenen Produkte in der Nutzungsphase sowie wie deren Herstellung und die Lieferkette nachhaltiger ausgerichtet werden können, gibt es einen wachsenden Bedarf an Lösungen im jeweiligen Kundenumfeld, etwa wenn es um die Automatisierung von „Re-X“*-Prozessen oder um Quantensprünge in der Energieeffizienz geht. Auch hier ist die Digitalisierung von Produkten und Prozessen entlang der gesamten Lieferkette sehr häufig die Voraussetzung für bezahlbare und effiziente Lösungen.
Fazit: Angst, Chance oder Vision?
Die Nachhaltigkeitsregulatorik wird weiterhin hohe Anforderungen an Unternehmen und ihre Lieferketten stellen. Durch Technologieeinsatz und eine vorausschauende Organisation kann der zusätzliche Aufwand reduziert werden. Für viele Organisationen bietet die neu gewonnene Transparenz eine ideale Basis, um teils radikale Neuausrichtungen des Produkt- und Serviceportfolios, der Geschäftsmodelle und des Ökosystems zu entwerfen und zu bewerten. Die neu entstehenden Wertepools ermöglichen es, ökologisch nachhaltige und gleichzeitig hoch profitable Alternativen zu bespielen. Um die komplexen Zusammenhänge beherrschbar zu machen, ist der Einsatz von Technologie und Methodik unabdingbar.
* Re-X: u. A. Recycle, Repair, Reuse, Reduce, Remanufacture, Refurbish, Refuse, Retrofit
Die Autoren:
Martin Neuhold ist Chemieingenieur und startete seine Karriere 2000 bei Unilever. Er betreute ab 2003 bei Celerant Consulting Lean Six Sigma-Programme. Von 2010-2017 verantwortete er als Partner bei Kienbaum Partner die Service Line Process Excellence und leitete anschließend bei EY das Marktsegment Advanced Manufacturing sowie Supply Chain & Operations in Europa West. Seit 2010 beschäftigt er sich mit Circular Economy und nachhaltigen Lieferketten. 2023 wechselte er zu PwC in das Leadership Team „Operations Transformation“.
Michael Thon ist Partner in der Nachhaltigkeitsplattform bei PwC Deutschland. Mit seinem Hintergrund im Beschaffungs- und Betriebsmanagement leitet er die „Sustainable Supply Chain“-Praxis und unterstützt Kunden in verschiedenen Branchen dabei, ihre Abläufe umzugestalten, Umweltbelastungen zu reduzieren und ihre soziale und wirtschaftliche Leistung zu verbessern.