Mit dem Industrial Metaverse Wachstumspfade realisieren

Die Tatsache, dass mögliche Wachstumspfade trotz der signifikanten Vorteile des Industrial Metaverse noch nicht vollständig als dynamische Wettbewerbsvorteile genutzt werden, kann auf vier Hauptursachen zurückgeführt werden. Um dies zu ändern, sind gezielte Maßnahmen erforderlich, die ein Umdenken in der Transformation ermöglichen. Dabei stehen die neuen Werttreiber Humans@center, Innovation@scale und Technology@speed im Fokus.

Das Industrial Metaverse, charakterisiert durch die Integration und Interaktion innovativer und disruptiver Technologien und Ansätze, wird das Fundament der zukünftigen Wertschöpfung bilden. Es entwickelt sich zu einem führenden Ökosystem, das weit mehr als eine vollständige Virtualisierung bietet. Es wird sich in den kommenden Jahren kontinuierlich weiterentwickeln, neue Technologien integrieren und ein immer breiteres Spektrum von Anwendungsfällen abdecken.

In einer Studie von EY und Nokia aus dem Jahr 20231) wurde der Mehrwert bereits detailliert betrachtet. Insgesamt kann das Industrial Metaverse als signifikanter Beitrag für die Wettbewerbsfähigkeit gesehen werden. Es bietet:

  • erweiterte Innovationsfähigkeiten, z.B. durch erweiterte Zusammenarbeit und Nutzung von Simulationen und Modellen
  • mehr Kosteneffizienz in der Produktentwicklung, z.B. durch Virtualisierung
  • einen positiven Einfluss auf die Nachhaltigkeit, z.B. durch die Reduktion von physischen Prototypen oder Reisen
  • eine Reduktion der CapEx und OpEx, z.B. durch eine verbesserte Planung und Simulation oder durch effizientere Ressourcennutzung

Das Industrial Metaverse wird in der Breite noch nicht ganzheitlich als dynamischer Wettbewerbs­vorteil betrachtet und operationalisiert.

Trotz des erheblichen Potenzials zögern viele Unternehmen, in das Industrial Metaverse zu investieren. Laut einer Umfrage von EY 2023 haben mehr als 50 Prozent der Führungskräfte noch keine solchen Investitionen gestartet. Das Kundenumfeld von EY zeigt, dass sich viele Unternehmen noch primär auf die Themen „Product-Lifecycle-Management Durchdringung“ und „Digitaler Zwilling“ konzentrieren. Der Hype um das Metaverse ist also in der produzierenden Industrie noch nicht vollständig angekommen bzw. hat – bis auf einzelne Anwendungsfälle – wieder nachgelassen. Hierfür sehen wir vier wesentliche Ursachen:

Ursache 1: Wahrnehmung als ferne Zukunftstechnologie

Viele Unternehmen sehen das Industrial Metaverse als eine Investition in eine ferne Zukunft und nicht als unmittelbare Notwendigkeit. Es scheint eine Diskrepanz zwischen der Vision des Industrial Metaverse und den realen Fähigkeiten der Industrialisierung zu geben. Es wird noch keine Notwendigkeit gesehen, umfassend in das Industrial Metaverse zu investieren. Teilweise ist eine Entwicklung von einer anfänglichen Euphorie hin zu einer realistischen Betrachtung zu beobachten, die eine vorsichtige Investitionsstrategie einschließt. Viele Unternehmen investieren jedoch bereits in Schlüsseltechnologien wie künstliche Intelligenz, Internet of Things oder Extended Reality, die als wichtige Bausteine für das Industrial Metaverse dienen.

Ursache 2: organisationale und kulturelle Widerstände

Ein Hindernis sind organisationale und kulturelle Widerstände. Viele Unternehmen haben fest etablierte Strukturen und Abläufe, die in der Regel in Silos organisiert sind, was die unternehmensweite Digitalisierung erschwert. Neben der schwierigen internen Kollaborationskultur wird die Notwendigkeit, mit anderen Unternehmen zusammenzuarbeiten und sich gegenüber Partnern zu öffnen, um das volle Potenzial des Industrial Metaverse auszuschöpfen, oft unterschätzt. Dies bringt Herausforderungen mit sich, da die erforderliche enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Entitäten neue Anforderungen an Abstimmung und Koordination stellt. Laut einer EY-Studie1)  sind in 31 Prozent der Fälle die mangelnde Bereitschaft der Mitarbeitenden eine Herausforderung. Diese Resistenz gegenüber Veränderungen zeigt sich beispielsweise bei IT Product Ownern, die ihre historisch gewachsenen Verantwortungsbereiche häufig als Lebenswerk sehen. In 45 Prozent der Fälle wurden zudem das fehlende Fachwissen bzw. die Verfügbarkeit der richtigen Skills bemängelt.

Ursache 3: technologische Barrieren und ­fehlender offener Ökosystemgedanke

Teilweise haben Unternehmen den Eindruck, dass der Einstieg in das Industrial Metaverse durch die Einführung von wenigen (monolithischen) Softwarelösungen möglich ist und unterschätzen dabei die Komplexität einzelner Use Cases und die notwendige Integrationsleistung. In der Softwareentwicklung herrscht häufig noch ein konventionelles Mindset. Traditionelle Simulationsmethoden sind zudem oft nicht skalierbar und stoßen in Bezug auf Datenmenge und Komplexität an ihre Grenzen. Es fehlt an Infrastrukturen für unternehmensübergreifende Marktplätze, um komplexe Use Cases in einem gemeinsamen Ökosystem umzusetzen. Technologische Barrieren und der fehlende Ökosystemgedanke erfordern somit neue Denkweisen.

Ursache 4: wirtschaftliche Hemmnisse und ­Mangel an schneller Nutzengenerierung

Viele Unternehmen zögern, in das Industrial Metaverse zu investieren, da sie von den hohen Anfangskosten und der Unsicherheit bezüglich einer schnellen Rentabilität abgeschreckt werden. Oft werden Budgets vorrangig für sicherere, schneller profitable und dringlichere Projekte eingesetzt. Zudem sehen viele Entscheidungsträger keinen unmittelbaren Mehrwert im Metaverse, da dessen Vorteile meist erst langfristig sichtbar werden. Die Umsetzung und das Sichtbarwerden des Nutzens heutiger Lösungen dauern schlichtweg zu lange.Die Unsicherheit, verbunden mit der Erwartung eines großen Durchbruchs und dem Mangel an kleinen, sofort wirksamen Erfolgen, macht es Unternehmen schwer, sich auf große Investitionen in das Industrial Metaverse einzulassen.

Der gemeinsame Nordstern kann mithilfe sechs zentraler Säulen definiert werden. Darauf aufbauend können konkrete Aktivitäten oder Fokusbereiche festgelegt werden. Dies gewährleistet eine gut geführte Reise, die kontinuierlichen Mehrwert erzeugt, zusätzliche Chancen eröffnet und Unternehmen näher an das Metaverse heranführt. Quelle: EY

Stellhebel und Werttreiber zur Realisierung des Industrial Metaverse

Um das Industrial Metaverse umfassend zu operationalisieren und erfolgreich als dynamischen Wettbewerbsvorteil zu nutzen, sind neue Denkansätze erforderlich. Anstelle der traditionellen Werttreiber Skalierbarkeit, Effizienz und Fokussierung ist ein neuer Kern der Wertschöpfung erforderlich. Unternehmen müssen ihre transformatorische Denkweise von einem nachhaltigen zu einem dynamischen Wettbewerbsvorteil umorientieren. Eine Flexibilisierung von Wettbewerbsvorteilen ermöglicht eine schnellere Reaktion auf veränderte Marktbedingungen und eine gezieltere Generierung von Mehrwerten. Transformation Realized bietet einen Ansatz, der die Ausrichtung von Transformationen auf einer Metaebene fokussiert.

„Die drei Werttreiber Humans@center, Innovation@scale und Technology@speed schaffen den neuen Kern der Wertschöpfung.“

Der Transformationsansatz beginnt mit der Definition der Zukunftsvision inklusive einer Außen-innen- und Innen-außen-Sicht. Die Diskrepanz in der Wahrnehmung des Industrial Metaverse erfordert einen gemeinsamen Orientierungspunkt, quasi einen Nordstern, als Grundlage für die Transformationsreise. Es bedarf der Orchestrierung der Zielbildelemente sowie der bereits laufenden Initiativen in einer übergreifenden Roadmap. Eine abgestimmte Strukturierung der Elemente des Industrial Metaverse und die gemeinsame Ausrichtung auf den Nordstern hilft, Projekte, die bereits das Metaverse betreffen, einzuordnen. Ebenfalls können fehlende Elemente und Bedarfe stufenweise identifiziert und ergänzt werden. Konkrete Maßnahmen können über entsprechende Workshop-Konzepte erarbeitet werden.

Eine mögliche Strukturierung ist das „Periodensystem“ der Transformation, das beispielsweise Elemente in die Säulen „Metaverse Business Model Innovation“, „Solution Experience“, „Product & Service Development“, Manufacturing & Supply Chain“, „Customer Experience“ und „AI Workforce Optimization“ einordnet. Einzelne IT-Lösungen müssen nicht eindeutig zugeordnet werden, sondern können für mehrere Zielbildelemente genutzt werden. Basierend auf dem gemeinsamen Nordstern kann die Transformation entworfen und entsprechende Maßnahmen und Wachstumspfade definiert werden.

Die hohe Komplexität und Interaktion der sich ergebenden Maßnahmen, erfordert ein robustes und fachlich orientiertes Projekt- und Portfoliomanagement. Entlang der Transformationsreise müssen Abhängigkeiten, Budgets, Ressourcen und Fortschritte kontinuierlich überwacht werden, um zielgerichtet dynamische Wettbewerbsvorteile zu generieren.

1. Humans@center

Der Werttreiber Humans@center stellt Mitarbeitende und Kunden in den Mittelpunkt der Organisation, um exponentielle Werte zu schaffen. Zunächst muss die Organisation auf eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung ausgerichtet werden.

Die Transformation zum Industrial Metaverse muss als gemeinsame Vision verstanden werden, um Silokämpfe zu eliminieren. Führungskräfte müssen durch Authentizität und Vorbildfunktion Widerstände gezielt und konstruktiv angehen. Entsprechend den definierten Maßnahmen müssen die richtigen Fähigkeiten entwickelt werden.

Darüber hinaus müssen die Kunden der Transformation im Fokus stehen. Die strategischen Zielbildelemente des Industrial Metaverse müssen über zielgruppenorientierte Use Cases definiert werden. Durch Proof of Value oder Demonstratoren kann der Mehrwert bereits in einem frühen Stadium nachgewiesen werden, was sich positiv auf die Veränderungsbereitschaft und die Effektivität von Umsetzungskapazitäten auswirkt.

2. Innovation@scale

Kontinuierliche Innovation ist ein wesentlicher Bestandteil der Wettbewerbsfähigkeit im Industrial Metaverse. Neben einer Innovationskultur bedarf es eines kontinuierlichen und durchgängigen Prozessmanagements als Grundlage, um flexibel auf neue Bedürfnisse und technologische Entwicklungen reagieren zu können. Diese Prozesse müssen silo- und unternehmensübergreifend gedacht und durch einen durchgängigen PLM-Backbone für transaktionale Daten unterstützt werden. Modulare Softwarearchitekturen unterstützen dabei die für die notwendige Integration neuer Technologien benötigte Flexibilität. Neben flexiblen Betriebsmodellen kann die notwendige Skalierung nur durch innovative Ökosysteme erreicht werden. Dazu müssen Infrastrukturen, Schnittstellen und Standards aufgebaut werden, um eine gemeinsame Kollaboration zu ermöglichen.

3. Technology@speed

Technologie muss als Kern der Transformation verstanden werden, um das Industrial Metaverse zu realisieren. Die klassisch kostenorientierte IT-Abteilung im Backoffice muss sich zu einer strategischen Frontoffice-Funktion entwickeln, um durch ein ganzheitliches, zukunftsgerichtetes und agnostisches Technologiedenken Mehrwerte zu generieren. Es braucht ein Umdenken in der Softwareentwicklung, um kostengünstiger und schneller spezifische Applikationen zu entwickeln. Durch Kollaboration mit Technologieanbietern können neue Technologien schneller eingeführt und entsprechende Funktionalitäten bereitgestellt werden. Eine unterstützte bzw. automatisierte Softwareentwicklung ermöglicht es zudem, knappe Kapazitäten zielgerichteter einzusetzen.

Die einzelnen Bestandteile der Stellhebel werden in den noch folgenden Beiträgen konkreter beleuchtet.

1) Quellenangabe: The metaverse at work: A first look at how companies are navigating the industrial and enterprise metaverse, EY & Nokia, June 2023

Die Autoren:

Dr. Adrian Reisch ist Partner bei Ernst & Young (EY Consulting) und leitet das Beratungsgeschäft im Bereich Product Lifecycle Management (PLM), Digitaler Zwilling und Industrial Metaverse. Er berät Großkunden vor allem in den Bereichen Strategieentwicklung, Prozessdesign und -optimierung, digitale End-to-End-Lösungen sowie Unternehmenskultur.

 

 

Oliver Meier-Kunzfeld, ebenfalls Partner bei Ernst & Young (EY Consulting), konzentriert sich auf die digitale Transformation der Automobilindustrie. In diesem Rahmen unterstützt er OEMs bei der Entwicklung von Strategien, dem Prozessdesign und der Umsetzung in IT-Lösungen.

 

 

 

Niklas Kalenbach ist Manager im Bereich Business Consulting bei Ernst & Young. Er betreut umfassende Geschäftstransformationen in den Bereichen R&D, Einkauf und Operations, mit einer ganzheitlichen Betrachtung der Wertschöpfungskette.