Herr Vollmer, wie weit sind Unternehmen mit der Digitalisierung im Dokumentenmanagement schon?
Vollmer: Heute haben alle Unternehmen erkannt, dass die Digitalisierung der eigenen Geschäftsprozesse hohe Priorität hat. Doch von der Erkenntnis bis zur vollzogenen digitalen Transformation der Geschäftsprozesse ist der Weg alles andere als trivial. Denn die echte Herausforderung sind durchgängige Prozesse, nicht bloß einzelne digitale Inseln. Die führen zu Medienbrüchen, wie wir sie heute vielfach zum Beispiel bei den Banken erleben.
Online-Banking ist aber doch heute ein Standard bei allen Banken?
Vollmer: Ja, im Frontend funktioniert der digitale Prozess. Aber die Kunden sind nicht zu 100 Prozent digital, sondern hybrid. Die Hälfte der Kunden nutzt Online-Banking. Davon will die Hälfte aber dennoch auch papiergebundene Aufträge bei der Bank absetzen oder Kontoauszüge per Post erhalten. Nach unserer Erfahrung erfolgen heute noch mehr als drei Viertel der Kommunikation zwischen Finanzinstitut und Kunde über physische Dokumente.
Wo kommt es da zu Medienbrüchen?
Vollmer: Immer dann, wenn eingehende Dokumente nicht vollautomatisiert weiterverarbeitet werden können. Und das betrifft rund 90 Prozent der eingehenden Dokumente. Diese werden ausgedruckt und bearbeitet. Im Anschluss werden Informationen wieder in ein anderes IT-System eingegeben.
Digitale Prozesse sind also nur ein Feigenblatt, um beim Kunden gut dazustehen?
Vollmer: Nein, sie sind nur der Beweis dafür, dass sich Unternehmen immer noch sehr schwertun, Prozesse ganzheitlich und durchgängig zu digitalisieren. Und das ist schließlich die Voraussetzung dafür, die operative Effizienz der eigenen Organisation zu erhöhen. Darum sollte es bei der Digitalisierung doch eigentlich gehen. Schnelle und effiziente Prozesse tragen deutlich mehr zur Kundenzufriedenheit bei als ein vermeintlich digitalisiertes Frontend.
Wenn Kunden aber physisch und digital kommunizieren wollen – wie können Unternehmen damit umgehen?
Vollmer: Wir verbinden die digitale und die physische Welt und vereinheitlichen die Prozesse. Dabei ist es dann gleichgültig, ob ein Brief oder eine E-Mail oder ein Fax das Unternehmen erreicht. Die Informationen aus den Dokumenten können elektronisch ausgelesen, erkannt und dann bearbeitet werden. Dank intelligenter Automatisierung können wir Informationen extrahieren und für andere IT-Systeme nutzbar machen.
Wie leistungsfähig ist Künstliche Intelligenz (KI) heute schon?
Vollmer: Wir nutzen KI-Software heute bei einem großen deutschen Kunden dafür, eingehende Dokumente vollautomatisch zu klassifizieren und zuzuordnen. Beides erfolgt aufgrund von „angelerntem“ Wissen. Kommt die KI nicht zu einem Ergebnis, greift ein Mitarbeiter ein, und die Software lernt daraus für die Zukunft. KI zeichnet sich ja gerade da durch aus, dass sie sich selbstlernend ständig verbessert und über Mustererkennung Texte lesen und Intentionen erkennen kann. Das heißt, die Software kann entscheiden, was der Inhalt des Dokuments ist und wie damit umzugehen ist. Das beschleunigt die weitere Bearbeitung nachhaltig.
Die KI ändert dann die Adresse im Bestandssystem?
Vollmer: Nein, die KI-Software stellt die Informationen bereit, ein Software-Roboter – Robotic Process Automation ist das Konzept dahinter – kann dann die Daten ins Bestandssystem eintragen. Dabei nutzt der Roboter dieselbe Schnittstelle, dasselbe Interface, das für den Sachbearbeiter gedacht ist, er imitiert die Handlungen eines Mitarbeiters. Damit bekommen wir nämlich eine andere Herausforderung der Digitalisierung in den Griff: die der Altsysteme.
Der Software-Roboter kann also mit den vorhandenen IT-Systemen arbeiten?
Vollmer: Das ist der große Vorteil der Robotic Process Automation. Gerade in Banken und Versicherungen sind jede Menge alte Großcomputer- Systeme im Einsatz, für die die Entwicklung von Schnittstellen einen immensen Aufwand darstellen würde. Das bremst die Digitalisierung auch bei den besten Absichten stark aus. Deshalb arbeiten die Software-Roboter auf der Basis der Bedienoberflächen, die vorhanden sind. Und das pausenlos und rund um die Uhr – die Zahl der Arbeitsvorgänge ist nur durch die Geschwindigkeit des Altsystems begrenzt.
Wie schnell und einfach lassen sich solche Lösungen einführen?
Vollmer: Die Frage ist gar nicht einmal, wie schnell intelligente Automatisierung eingeführt werden kann, denn die Systeme selbst sind in wenigen Wochen startklar. Viel wichtiger ist die Frage nach Strategie, Konzept und Technologieeinsatz angesichts des sich rasant entwickelnden Angebots von Technologien und Lösungen. Genau dort setzt unser Geschäftsmodell an, Prozessverantwortung zu übernehmen und kontinuierlich Digitalisierung und Effizienz voranzutreiben. Für unseren Auftraggeber bedeutet das, kein eigenes Technologierisiko einzugehen. Das beschleunigt die Digitalisierung ganz entscheidend.
Noch ein Ausblick zum Schluss: Wann wird der physische Weg denn gänzlich verschwunden sein?
Vollmer: Ich schätze, dass der Anteil der physischen Dokumente Jahr für Jahr um bis zu fünf Prozent sinkt. Ausgehend von einem Anteil heute von rund 80 Prozent physischer Dokumente können wir uns also getrost darauf einstellen, dass wir noch eine ganze Weile beide Welten bedienen müssen. Der Endkunde ist und bleibt noch eine lange Zeit hybrid. Dabei verschieben sich die Schwerpunkte nur langsam. Es gibt also noch jede Menge zu tun – für SPS als Outsourcing-Dienstleister und die Unternehmen selbst.
Jörg Vollmer ist seit Anfang 2015 CEO von Swiss Post Solutions (SPS), einem globalen Anbieter von Outsourcinglösungen für Geschäftsprozesse und innovative Dienstleistungen im Bereich des Dokumentenmanagements.