Wie Pharmaunternehmen erfolgreich Innovationen von morgen gestalten

Die Pharmaindustrie hat in den letzten Jahren beeindruckende Durchbrüche erzielt. Dennoch stehen CEOs mehr denn je unter hohem Innovationsdruck. Patentabläufe und striktere regulatorische Rahmenbedingungen zwingen sie zu immer höheren Investitionen in Forschung und Entwicklung, um den Renditeerwartungen des Kapitalmarkts gerecht zu werden. Die Folge ist ein verschärfter Wettbewerb, der die gesamte Branche vor neue Herausforderungen stellt und neue Denkweisen erfordert.

Eigentlich könnten Pharmavorstände stolz auf die Erfolge der letzten Jahre sein:

  • Die rasche Entwicklung neuer Impfstoffe rettete in der COVID-19-Pandemie Millionen von Leben.
  • Der Kampf gegen Alzheimer, lange Zeit ein schwieriges Krankheitsfeld, hat mit neuen Therapien, die das Fortschreiten des geistigen Verfalls verlangsamen, die ersten echten Erfolge seit Jahrzehnten erzielt.
  • Eine neue Generation von Medikamenten gegen die Volkskrankheit Fettleibigkeit wird die individuelle Krankheitslast erheblich reduzieren, Folgeerkrankungen vermeiden und die psychische Gesundheit verbessern.

Tatsächlich ist die Stimmung in vielen Führungsetagen jedoch angespannt: Denn getrieben von Patentabläufen müssen forschende Pharmaunternehmen kontinuierlich neue Therapien entwickeln, um ihre Wettbewerbsposition zu verteidigen. Ein langwieriges, risikobehaftetes und teures Unterfangen: Bis eine neue Therapie auf den Markt kommt, vergehen im Schnitt mehr als zehn Jahre, nur eines von fünfzehn Projekten ist erfolgreich1+2). Zuletzt flossen weltweit über 260 Mrd. Euro in die Forschung und Entwicklung neuer Therapien: ein neuer Rekord, Tendenz weiter steigend2).

Verstärkt wird dieser Innovationsdruck durch die angespannte finanzielle Situation der öffentlichen Gesundheitssysteme weltweit: Angesichts der Vielzahl neuer Arzneimittel evaluieren Regulierungsbehörden immer kritischer deren therapeutischen Mehrwert im Vergleich zum etablierten klinischen Standard. Deutlich wird dies durch die immer häufigeren Eingriffe in grundlegende regulatorische Rahmenbedingungen. So führte in den letzten Monaten der größte Pharmamarkt USA erstmals Preisverhandlungen für ausgewählte Medikamente ein, Deutschland verschärfte die Preissetzung neuer Medikamente und die Europäische Kommission diskutiert grundlegende Änderungen beim Schutz des geistigen Eigentums.

Ein sich selbst verstärkender Effekt entsteht: Grundlegende Veränderungen der Rahmenbedingungen machen langfristige Investitionen noch weniger planbar und dürften die ohnehin hohen Renditeerwartungen von Investor:innen weiter erhöhen. Damit steigt der Druck auf die Pharma-CEOs, sich durch innovative Produkte zu differenzieren, um nicht in eine Kostenspirale zu geraten. Neue Technologien wie Zell- und Gentherapien, die das Potenzial haben, Krankheiten zu heilen, statt nur Symptome zu behandeln oder den Krankheitsverlauf zu verzögern, fördern zudem eine beispiellose „Winner-takes-it-all“ Dynamik. Eine sich immer schneller drehende Innovationsspirale.

Das Wechselspiel aus angespannten öffentlichen Gesundheitssystemen sowie steigendem Innovationsdruck für Pharmaunternehmen sorgt für zunehmende Innovationsdynamik. Quelle: Kearney

Vor diesem Hintergrund müssen sich Pharmaunternehmen mit grundlegenden Ansätzen des Innovationsmanagements auseinandersetzen. Wir sehen fünf zentrale Handlungsfelder:

Handlungsfeld 1: Strategische Wettbewerbsvorteile im Spannungsfeld zwischen Therapiegebiet und Forschungsplattform

Um sich erfolgreich am Markt zu positionieren, sollten Pharmavorstände systematisch Marktsegmente mit „ungedecktem Bedarf“ mit ihren eigenen Wettbewerbsvorteilen abgleichen und gezielt interne Fähigkeiten stärken.

Dabei zeichnen sich zwei grundlegende Ansätze ab: Zum einen die Spezialisierung auf bestimmte Therapiebereiche, Arzt- und Patientensegmente und zum anderen die Spezialisierung auf proprietäre, biotechnologische Plattformen, mit denen potenziell ganz unterschiedliche Krankheitsbilder adressiert werden können (z.B. mRNA, Zell- und Gentherapien). Beide Ansätze bringen bestimmte Herausforderungen mit sich, die es gezielt zu managen gilt: Für Unternehmen mit Fokus auf Therapiebereiche gilt es insbesondere, externe Innovation zu stärken, um bei Bedarf die interne Forschung und Entwicklung durch Zukauf oder Einlizensierung zu unterstützen und so sicherzustellen, dass vorhandene Kapazitäten optimal genutzt werden. Viele kleinere Biotech Plattformunternehmen stehen hingegen vor der wegweisenden Entscheidung, in welchen Bereichen der Wertschöpfungskette sie selbst spezialisierte Fähigkeiten aufbauen oder ob sie gezielt Partnerschaften eingehen, um ihre Produkte im Erfolgsfall gemeinsam auf den Markt zu bringen. Die Entscheidung ist allerdings nicht schwarz oder weiß: So sind einige traditionelle Pharmaunternehmen gerade dabei, ihre starre Orientierung auf bestimmte Therapiegebiete aufzuweichen, um das Beste aus beiden Welten zu vereinen: Ein Balanceakt, der eine bewusste Auseinandersetzung mit den gewünschten Kollaborationsmodellen der verschiedenen Bereiche erfordert.

Handlungsfeld 2: Standortwahl als Schlüssel zur Optimierung klinischer Forschungs- und Entwicklungsprozesse

Um Kapitalrendite und Innovationsproduktivität weiter zu verbessern, sollten Pharmavorstände die Allokation ihrer geografischen Forschungsinvestitionen und -budgets überprüfen. Denn die
Entscheidung, wo Arzneimittel künftig erforscht werden sollen, wird zunehmend komplexer und erfolgskritischer: Sie hat einen wesentlichen Einfluss auf Erfolgswahrscheinlichkeit, Entwicklungsgeschwindigkeit und -kosten, aber auch auf den kommerziellen Erfolg des neuen Präparats.

Wie eine aktuelle Studie von Kearney und dem Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa)3) zeigt, ging Deutschland bei dieser Entscheidung in den letzten Jahren immer häufiger leer aus. Zwar kann Deutschland im internationalen Standortwettbewerb nach wie vor mit hoher Qualität bei der klinischen Forschung und Versorgung sowie mit gut ausgebildeten Fachkräften punkten, doch Bürokratie, Digitalisierungslücken und fehlende Kooperationen im Ökosystem machen den Forschungsstandort Deutschland im internationalen Vergleich zunehmend unattraktiv.

Die Bundesregierung hat den Warnschuss gehört und nicht zuletzt mit der Pharmastrategie ein wichtiges Signal an die pharmazeutische Industrie gesendet. Das geplante Medizinforschungsgesetz sieht Aufholschritte bei der Verbesserung der Rahmenbedingungen für (klinische) Forschung vor, wie etwa die Verkürzung von Genehmigungsverfahren. Unternehmenslenker:innen sollten darauf vorbereitet sein, wie sie veränderte Rahmenbedingungen zu ihrem Wettbewerbsvorteil nutzen können.

Handlungsfeld 3: Translation entlang der gesamten Wertschöpfungskette

Um den Wertbeitrag ihrer Innovationen effektiv zu maximieren, sollten Pharmavorstände eine deutlich stärkere Vernetzung ihrer Unternehmensbereiche vorantreiben. Die erfolgreiche Übersetzung von Medikamentenforschung hin zu Regelversorgung und Markterfolg muss sichergestellt und bereits im frühen Stadium mitgedacht werden.

In der Praxis arbeiten bis heute wesentliche Unternehmensbereiche entlang der pharmazeutischen Wertschöpfungskette in vielen Organisationen noch zu isoliert: Forschung & Entwicklung konzentrieren sich auf eine möglichst schnelle Zulassung, während Marktzugang und Vertrieb auf erfolgreiche Preis- und Erstattungsverhandlungen sowie Umsatzmaximierung abzielen. Dadurch entsteht häufig die Situation, dass während der Forschungs- und Entwicklungsphase eines Projekts Nachweise für die Wirksamkeit und Sicherheit eines Medikaments gesammelt werden, für eine erfolgreiche Nutzenargumentation und in späteren Verhandlungen jedoch zusätzliche oder andere Belege erforderlich sind. Dieses Versäumnis ist zu diesem Zeitpunkt kaum mehr zu korrigieren, wodurch wertvolle Chancen vertan werden.

Beispielsweise sollten auch Forschungs- und Entwicklungsleiter:innen anteilig für den Markterfolg neuer Produkte verantwortlich gemacht werden können. Ein Ansatz, für den Vorreiterunternehmen bereits erste Blaupausen entwickelt haben.

Handlungsfeld 4: Patient:innen im Fokus des Innovationsprozesses

Um Medikamentenforschung zu beschleunigen und Risiken zu minimieren, sollten Pharmavorstände bereits während der Forschungs- und Entwicklungsphase systematischer und strategischer die Bedürfnisse der Patient:innen berücksichtigen. Denn bereits hier sind die Unternehmen auf die Teilnahme von Patient:innen an klinischen Studien angewiesen. Es zeigt sich, dass Studien, die auf die Bedürfnisse der Patient:innen zugeschnitten sind, schneller Teilnehmer:innen gewinnen und halten können. Dies hat nicht nur einen positiven ökonomischen Effekt; in hochkompetitiven Forschungsbereichen wie der Onkologie, in denen  Patient:innen oftmals aus einer Vielzahl von Studien wählen können, ist die Einbindung von Patient:innen absolut erfolgskritisch. Dies kann keinesfalls eine nachträgliche Überlegung sein, da wesentliche Entscheidungen bereits früh getroffen werden. Die Patientenperspektive muss also bereits beim Design von Forschungsprogrammen und Studien im Mittelpunkt stehen.

Handlungsfeld 5: Daten und KI für effizientere Forschung & Entwicklung

Um schneller und kostengünstiger forschen zu können, sollten Pharmavorstände gezielt die Nutzung von Daten und Künstlicher Intelligenz weiter vorantreiben. Erfolgsentscheidend ist dabei eine radikale Priorisierung mit Blick auf Wertbeitrag und Machbarkeit.

Der Einsatz von Daten und KI kann die Entwicklungsdauer neuer Medikamente um ein Vielfaches reduzieren und damit die Medikamentenforschung nachhaltig transformieren: So könnten durch die Analyse von Patientendaten neue Wirkstoffe schneller identifiziert oder durch die Nutzung synthetischer Daten die aufwändige Rekrutierung von Patient:innen für klinische Studien minimiert werden. Infolgedessen haben Pharmaunternehmen in den Aufbau umfassender KI-Fähigkeiten investiert. Allerdings konnten viele kostenintensive Programme ihren Wertbeitrag gegenüber den Entscheidungsträger:innen nicht ausreichend nachweisen und wurden daher oft nach Millioneninvestitionen wieder eingestellt.

Um die Komplexität zu reduzieren, sollten sich Pharma-Manager:innen auf die eigenen Stärken rückbesinnen. Es gilt, strategische Bereiche mit hohem Wertbeitrag zu identifizieren, aber auch solche, in denen schnell Ergebnisse gezeigt und Vertrauen zurückgewonnen werden kann. Schlüssel zum Erfolg sind dabei Partnerschaften mit ausgewählten Technologieunternehmen.

Die Beispiele in den folgenden Beiträgen von Bayer, Boehringer Ingelheim, Roche und dem vfa zeigen, wie Unternehmen entlang dieser Handlungsfelder arbeiten – und warum der Standort Deutschland trotz aller Hindernisse weiterhin von großer Bedeutung ist. Eines ist deutlich: Pharma-CEOs müssen weiterhin mutig sein und Durchhaltevermögen beweisen. Denn einfache Lösungen reichen nicht mehr aus, um im Innovationswettbewerb der Pharmaindustrie nachhaltig erfolgreich zu sein.

Quellenangaben:
1) Forschungsprojekte in „Phase 1“ der klinischen Forschung, welche die Zulassung erreichen.
2) Kearney Analyse basierend auf Evaluate Pharma.
3) Philipp et al. (2023). Pharma-Innovationsstandort Deutschland. Kearney / vfa. https://www.de.kearney.com/pharma-innovationsstandort-deutschland

Das Autorenteam:

Marc P. Philipp ist Partner und Geschäftsführer bei Kearney und leitet den Bereich Pharma & Gesundheitswesen in DACH. Mit 20 Jahren Erfahrung, u.a. als Leiter des Forschungsmanagements der Charité, berät er Vorstände und Führungskräfte bei Strategie- und Transformationsfragen mit Fokus auf Produktivitätssteigerung in Forschung & Entwicklung.

 

 

Pia Kürzdörfer ist Senior Managerin bei Kearney im Bereich Pharma & Gesundheitswesen. In ihrer Arbeit unterstützt sie Führungskräfte der pharmazeutischen Industrie, insbesondere in den Bereichen Forschung, Entwicklung und Innovation. Sie berät bei der Strategieentwicklung und begleitet die Umsetzung von Transformationsprozessen.

 

 

Andrea Graf ist Senior Consultant bei Kearney im Bereich Pharma & Gesundheitswesen. Sie unterstützt führende Pharmaunternehmen bei der Entwicklung und Umsetzung innovativer Strategien, insbesondere in den Bereichen Marktzugang und Kommerzialisierung.

 

 

 

Kearney ist eine der führenden globalen Unternehmensberatungen. Seit nahezu 100 Jahren vertrauen uns Führungsetagen, Regierungsstellen und gemeinnützige Organisationen. Das Erfolgsrezept, um unseren Klienten zum Durchbruch zu verhelfen? Unsere Mitarbeiter:innen mit ihren individuellen Interessen und Stärken. Und unser Antrieb, große Ideen nicht nur zu Papier zu bringen, sondern auch umzusetzen.