Vorbereitet sein auf den Versicherungsfall – mit New Work und agilen Methoden

Die Zeiten sind unsicher, dynamisch und komplex – gerade auch für die Versicherungsbranche. Unternehmen müssen sich so aufstellen, dass sie in der Lage sind, nicht nur auf Veränderungen zu reagieren, sondern auch nach vorne zu blicken und Innovationen voranzutreiben. „Ambidextrie“ heißt hier die Herausforderung, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wesentliche Grundlagen hierfür sind Agilität und New Work.

Nicht erst seit der Covid-19-Pandemie ist deutlich geworden: Die Welt steht an einem Wendepunkt. Viel beschrieben wird insbesondere die VUCA-Welt, eine Welt, die sich durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität auszeichnet. Da können unerwartete Situationen auf Unternehmungen zukommen, mit denen man vorher nicht rechnen konnte. Das Gesundheitswesen und damit auch Versicherungen waren überdurchschnittlich belastet und mussten kurzfristig reagieren. Es ist davon auszugehen, dass solche Situationen zukünftig öfter auf uns zukommen werden.
Unterdessen erleben Konzepte wie „New Work“ und „Agilität“ einen Hype – was auf den ersten Blick verwundert. New Work, ein Konzept, welches eine Gestaltung von Arbeit beschreibt, die dem Menschen mehr gibt als sie nimmt, wurde von Frithjof Bergmann schon 1976 entwickelt. Auch Agilität und insbesondere agile Methoden kennen wir schon seit den 1960er Jahren, und das agile Manifest als Grundlage für das heutige Verständnis von Agilität ist auch schon über 20 Jahre alt. Seine Grundsätze jedoch sind passender denn je:

  • Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge
  • Funktionierende Software ist wichtiger als umfassende Dokumentationen
  • Zusammenarbeit mit dem Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlungen
  • Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans

Der Mensch rückt zunehmend in den Vordergrund in der sogenannten neuen Arbeitswelt. Im Recruiting richtet sich das Augenmerk mehr auf Einstellung und Werte als auf die Fachkompetenzen, die natürlich weiterhin wichtig bleiben. Mitarbeiter:innen in der Personalentwicklung werden zum Beziehungsmanager und Coach. Während man früher Projekte nach dem Wasserfall-Modell durchgeführt hat, werden jetzt eher kleine Prototypen entwickelt, um schneller zu einer Produktreife zu kommen.
Das geht auch im Dienstleistungssektor. Anstelle des großen Beratungsprojekts werden kleinere Teilprojekte verkauft und mit dem Kunden gemeinsam Weiterentwicklungen vorangetrieben.
Der Kunde steht im Vordergrund, selbst Hochschulen sehen ihre Studierenden teilweise als Kund:innen an: Es ist eine generelle Kundenzentrierung in der Gesellschaft zu beobachten, was sich auch auf den Umgang mit Arbeitnehmer:innen auswirkt. Arbeitgeber:innen werden ein Umfeld schaffen müssen, in dem Mitarbeitende gerne arbeiten und auch in der Lage sind, agil und flexibel zu handeln. Das betrifft alle Branchen – und insbesondere der Kampf um IT-ler wird hart.

Die Herausforderung der Ambidextrie

In diesen unsicheren Zeiten bleibt als Grundvoraussetzung bestehen, dass Menschen und Organisationen in der Lage sind, auf Veränderungen zu reagieren – auch in stabilen Branchen wie der Versicherungsbranche. Es kommt auf die sogenannte Ambidextrie, die „Beidhändigkeit“ von Unternehmen, an: Auf der einen Seite müssen sie in der Lage sein, Exploitation (Ausnutzung von Bestehendem) zu betreiben und so ihr Kerngeschäft weiter zu stärken. Auf der anderen Seite gilt es durch Exploration (Erkundung von Neuem) vor allem Innovationen voranzutreiben. Nur durch die Kombination von beidem ist und bleibt ein Unternehmen wandelbar und anpassungsfähig.
Die Forderung der Ambidextrie beinhaltet damit sowohl die Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks als auch eine Zukunftsorientierung. In einer Organisation, die offen für neue Führungsformen wie zum Beispiel die situative Führung ist, bei der Menschen je nach Situation und Problem in die Führungsverantwortung gehen – also nicht aufgrund ihrer formalen Position, sondern aufgrund ihrer Kompetenz in dem Moment – können mehr Mitarbeiter:innen Verantwortung übernehmen. Menschen werden in solchen Organisationen ganzheitlich eingebunden, was vor allem dann funktioniert, wenn darauf vertraut wird, dass alle Organisationsmitglieder die Veränderungen in der Umwelt wahrnehmen und vernetzt darauf reagieren wollen und können. So kann Schwarmintelligenz genutzt und gezielt eingesetzt werden, was gerade bei unvorhersehbaren Veränderungen besonders wichtig sein kann.

Ein Blick in die Glaskugel

Was die Zukunft bringen wird? Das bleibt ein Blick in die Glaskugel, aber einige Trends kündigen sich für alle Branchen an.
Trend 1: Die digitale Transformation setzt sich weiter fort. Die Innovationszyklen sind in den letzten Jahrzehnten immer kürzer geworden – und es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend weiter fortsetzt. Im Bereich der Digitalisierung, in dem noch lange nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, werden sich auch Arbeitsplätze verändern. Im Bankensektor rechnet man mit bis zu 30 Prozent weniger Mitarbeiter:innen in den nächsten zehn Jahren. Auch die Versicherungsbranche kann und sollte sich langfristig auf Änderungen vorbereiten, indem Mitarbeiter:innen geschult und weiterentwickelt werden.
Trend 2: Unternehmen werden Begegnungsstätten. Die Corona-Pandemie hat einen großen Teil der Arbeitnehmer:innen ins Home-Office geschickt und damit hybrides Arbeiten und virtuelle Teams erzwungen. Nun stehen viele Unternehmen vor der Frage, wie sich das Büro der Zukunft gestalten wird. Wird es dieses überhaupt geben? Die Antwort lautet: Ja. Der Mensch ist ein soziales Wesen und möchte Beziehungen und Interaktion. Das Büro der Zukunft wird also ein Ort, an dem sich Menschen begegnen, kollaborieren und kreativ zusammenarbeiten. Hochkonzentrierte Arbeit findet hingegen eher im Home Office statt. Wenn dies aber nicht möglich ist, bleibt es weiterhin Aufgabe des Arbeitgebers, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen gute Arbeit möglich ist, zum Beispiel durch spezielle Ruhezonen oder Rückzugsorte.
Trend 3: Resilienz als Zukunftsskill. Resiliente Unternehmen verfügen über die Fähigkeit, Risiken und Chancen frühzeitig zu erkennen und sich negativen äußeren Einflüssen anzupassen. Es ist davon auszugehen, dass nicht nur die Innovationszyklen sondern auch die Zeitspannen zwischen den Krisen immer kürzer werden. Die Resilienz kann gestärkt werden durch eine Kultur, die kontinuierliches Lernen fördert, Fehler zulässt und durchlässig ist für neue Ideen auf allen Hierarchiestufen.
Die Zukunft bleibt ungewiss. Deshalb kann es auch nicht eine vorgefertigte Lösung für alle Unternehmen und auch innerhalb eines Unternehmens nicht für alle Abteilungen geben. Anspruch sollte es sein, Arbeit so organisieren, dass sie dem Menschen mehr gibt als nimmt. Dafür braucht es flexible und anpassungsfähige Lösungen, die immer wieder einer Prüfung unterzogen werden. Und es braucht Menschen, die miteinander agieren und im Mittelpunkt der  Entwicklung stehen. Das ist der zentrale Erfolgsfaktor, um in eine Zukunft zu gehen, in der wir gut und gerne leben und arbeiten.

Die Autorin:
Prof. Dr. Sabrina Schell ist Forschungsprofessorin an der Berner Fachhochschule am Institut für New Work. Ihre Forschung und Lehre beschäftigt sich mit neuen Organisationsformen, Leadership und der Gestaltung von nachhaltigen und zukunftsorientierten Arbeitsplätzen.