Digitale Transformation eines öffentlichen Versicherers

Welche Bausteine benötigt ein erfolgreicher Regionalversicherer vor dem Hintergrund des wachsenden Veränderungsdrucks durch neue Kundenanforderungen und der Digitalisierung? Wie es gelingt, den technologischen Wandel in ein über 200 Jahre altes  Traditionsunternehmen zu integrieren und dieses auf Basis seines Geschäftsmodells in die Zukunft zu führen, zeigt das Beispiel des Konzerns Versicherungskammer.

Neben bekannten Herausforderungen wie Niedrigzinsphase, Regulatorik und demografischem Wandel wird die Veränderung der Versicherungsbranche maßgeblich durch zwei Einflussfaktoren beschleunigt: Zum einen durch veränderte Bedürfnisse und Wünsche der Kunden nach mehr Individualisierung und Interaktion, zum anderen durch die Digitalisierung. Dienstleistungen werden perspektivisch nicht mehr nur physisch, sondern vermehrt digital angeboten und erbracht. Im Monitoring Bericht der Wirtschaft DIGITAL 2018 der digitalen Vorreiter stehen Finanz- und Versicherungsunternehmen zwar noch an dritter Stelle (nach IT- und wissensintensiven Dienstleistern). Sie erwarten allerdings in den nächsten fünf Jahren einen deutlichen Digitalisierungsschub.

Diese neuen Möglichkeiten nutzt auch die stetig steigende „Everything Tech“-Szene, an vorderster Stelle die Fintechs. In Deutschland gibt es mittlerweile rund 800 Fintech-Startups, wobei Proptech und Finanzierung dominieren und die Anzahl der InsurTechs stetig wächst (comdirect 2018). Im November 2018 wurden 112 deutsche InsurTechs verschiedener Ausprägungen gezählt (Capgemini 2018a). Erwartet wird, dass die Interaktion mit den Kunden in den nächsten fünf Jahren mehrheitlich digital über alle Phasen der Wertschöpfungskette stattfindet (Bühler et al. 2017). Die etablierten Unternehmen entwickeln gleichzeitig ihre Strategien weiter: Innovation als Teil der Wachstumsstrategie gewinnt einen neuen Stellenwert, neue Geschäftsmodelle rücken in den Fokus ebenso wie gezielte Kooperationen mit Startups.

Innovationen und neue Geschäftsmodelle als Strategiepfeiler

Eine Firma, die erfolgreich sein will, darf nicht in engen Produktkategorien denken, sondern in ‚Aufgaben, die es zu erfüllen gilt’. Kunden kaufen Produkte, um Fortschritte bei der Lösung eines konkreten Problems in ihrem Leben zu machen (Christensen 2016). Im Kontext der Digitalisierung gewinnt genau diese Serviceinnovation an Bedeutung.

Serviceinnovation setzt unmittelbar am Kundennutzen an und schafft neue Wege für die Dienstleistungsarten und -erbringung. Der Versicherer wandelt sich vom „Schadensabwickler“ zum Lösungsanbieter, der Kundenbedürfnisse z.B. rund um Wohnen und Leben, Sicherheit oder Mobilitätsfragen und Gesundheit abdeckt.

Der Konzern Versicherungskammer als größter öffentlicher Versicherer mit Beitragseinnahmen von 8,31 Milliarden Euro im Jahr 2018 positioniert sich aktiv in der Weiterentwicklung des Unternehmens mit Fokus auf Digitalisierung, Innovation, Marke. In der Konzernstrategie wurden 2016 entsprechende Weichen gestellt (Walthes et al. 2018). Die Digitalisierung eröffnet hierbei zahlreiche Möglichkeiten und Chancen, die zur Stärkung des Kerngeschäfts, für die Weiterentwicklung des digitalen Versicherers, der BavariaDirekt, und für den Aufbau von neuen Geschäftsmodellen wie z.B. Ökosystemen genutzt werden.

Innovationen entstehen dabei auf unterschiedliche Weise und müssen entsprechend ausgewählt, bewertet und gesteuert werden (vgl. bspw. Möller et al. 2011). Zunächst ist zwischen in- und externen Innovationen zu unterscheiden. Bei den internen Innovationen liegt der Fokus auf neuen Serviceleistungen und Produkten auf Basis neuer Bedürfnisse (z.B. die Wohngebäude- oder Hausratversicherung für neue mobile Geräte) oder neuer Technologien (z.B. Just-in-time-Police, schnelle Kfz-Schadensabwicklung über eine App) sowie auf Prozessinnovationen.

Mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz in der Bearbeitung von Kundenbeschwerden mittels IBM Watson wurde das Unternehmen bereits 2015 mit dem digitalen Leuchtturm als Vorausdenker in der Versicherungswirtschaft ausgezeichnet. Neue technologische Verfahren ergeben sich durch Big Data und Data Analytics zur Analyse und Auswertung unstrukturierter Datenmengen in Echtzeit über verschiedene Server und Datenbanken. Anwendungsfälle sind bspw. Wetter- und Schadenprognosen. Die Versicherungskammer war der erste Versicherer in Deutschland, der diese Technologie so einsetzt (Spieleder 2017).

Neue Technologien revolutionieren aber auch das Kundenerlebnis. Unter dem Stichwort ‚Online und Mobile als Zugangsweg‘ im Sinne einer Omnikanalpräsenz wird es dem Kunden erleichtert, über seinen präferierten Kanal und Ort sowie seine präferierte Zeit mit dem Versicherer in Kontakt zu treten. Derzeit sind 16 verschiedene digitale Initiativen in Umsetzung. Die Themen reichen von Sprachassistenten, Clouds, Digital Twin, Virtual/Augmented Reality, Blockchain bis hin zu einem Showroom für IoT-Anwendungen. Sie haben zum Ziel, die Kundenzufriedenheit zu erhöhen, das Geschäftsmodell zu stärken und Wachstum zu befähigen. Dabei sind immer auch Mitarbeiter und Eigentümer mit auf die Reise der Transformation entlang der unternehmensspezifischen Customer Journey zu nehmen.

Die Digitalisierung birgt durch virtuelle Vernetzung aber auch Potenziale für neue Geschäftsmodelle in neuen Anbieter- oder kontextuellen Ökosystemen (Robers/Kränzler 2018). Bereits 2001 wurde die Kombination von gewinnbringender Vermögensanlage und privaten Vorsorgekonzepten unter dem Stichwort Allfinanz diskutiert (Schulte-Noelle, H. 2001). Heute gehen die Konzepte einen Schritt weiter und werden nicht mehr nur aus Anbietersicht (Finanzdienstleistungen kombiniert mit Versicherungen), sondern auch in Lösungskontexten diskutiert.

Kontextuelle Kooperationen in und außerhalb der eigenen Wertschöpfungskette erzeugen zusätzlichen Mehrwert durch die Bündelung von Leistungen beispielsweise zum Thema Gesundheit. Das ePortal „Meine Gesundheit“, 2018 von führenden privaten Krankenversicherungen gestartet, bietet dem Kunden die Möglichkeit, die verschiedensten Bedürfnisse über ein individuelles Gesundheitsmanagement (wie Medikamentenplan, Terminverwaltung, Vorsorgetipps) zu stillen. Alle Gesundheitsdaten können digital über einen Dokumentensafe und in einer Notfallakte abgelegt werden. Dadurch wird auch ein schneller elektronischer Austausch von Dokumenten zwischen Leistungserbringern sowie ein elektronisches Rechnungsmanagement ermöglicht. Ein weiteres Beispiel ist die Initiative „digitale Dörfer“ mit einem Pilotprojekt in Wegscheid/Niederbayern, um durch digitale Vernetzung die Nahversorgung und Kommunikation sowie perspektivisch medizinische Pflege und Mobilität im ländlichen Raum sicherzustellen.

Zusammenarbeit mit Startups

Im Rahmen der externen Innovationen hat sich in den letzten Jahren – neben der Integration der Ideen von Kunden, Forschungs- oder Wertschöpfungspartnern – vor allem auch die Kooperation mit Startups etabliert. Erfolgreiche bestehende Unternehmen suchen nach Antworten im verschärften, digitalen Wettbewerb und nehmen Vorgehens- und Verhaltensweisen von erfolgreichen Entrepreneuren und Startups in den Blick, um auf
diese Weise das eigene Geschäftsmodell zu „verjüngen“. „Instead of viewing startups as simply agents of disruption, companies are trying to collaborate with startups to transform them into engines of corporate innovation“ (Weiblen/Chesborough 2015).

Dabei gibt es verschiedene Formen der Zusammenarbeit. Dazu zählen eigene Corporate-Venture-Capital-Abteilungen sowie Inkubatoren oder Acceleratoren-Modelle. In Europa betreiben mittlerweile knapp 90 Prozent der großen Unternehmen branchenübergreifend eine Open-Innovation-Initiative und knapp 80 Prozent kollaborieren mit Startups (Mind the bridge 2018). Dies scheint nicht nur ein globales Thema zu sein (vgl. Capgemini World Fintech Report 2018), sondern mittlerweile auch in Deutschland in der Versicherungswirtschaft angekommen.

Zu den wesentlichen Zielen der Engagements gehören aktive Positionierung (in der Szene), Erkennen von neuen Trends sowie Zugang zu Ideen, Technologien, ggf. auch bestimmten Geschäftsmodellen und Marktsegmenten, Talenten und möglichen Akquisitionen. Die Versicherungskammer ist seit Sommer 2017 im InsurTech Hub Munich engagiert, bei dem 16 Partnerunternehmen gemeinsame Aktivitäten (Inkubation, Co-Working, digitale Plattform) für ein Netzwerk zur Zukunft der Assekuranz zwischen Wissenschaftlern, Startups, Versicherern und internationalen Talenten gestartet haben.

Die Autoren:

Dr. Frank Walthes, Diplom-Volkswirt (Univ.), ist seit 2012 Vorstandsvorsitzender des Konzerns Versicherungskammer. Das Unternehmen gehört zu den zehn größten Erstversicherern in Deutschland und ist der größte öffentliche Versicherer mit heute sechs Kompositversicherern, drei Lebensversicherern, zwei Krankenversicherern, einem Rückversicherer, einem Direktversicherer und rund 6800 Mitarbeitern. 

 

Prof. Dr. Diane Robers ist Professorin für Service Innovation & Entrepreneurship und Co-Leiterin des Strascheg Instituts for Transformation, Innovation & Entrepreneurship (SITE) an der Business School der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden/Oestrich-Winkel. Neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit ist sie in verschiedenen Gremien aktiv (u.a. Expertenkreis des Innovationsdialogs der Bundesregierung, Wirtschaftsbeirätin der Versicherungskammer Bayern)


Quellen:

comdirect (2018): Fintech-Studie, Quickborn

Capgemini (2018a): Die deutsche Insurtech Landschaft, [online] https://www.capgemini.com/de-de/wp-content/uploads/sites/5/2018/11/InsurTech_Booklet_Capgemini-Invent1.pdf [30.04.19]

Bühler, P./Fleischer, M./Maas, P. (2017): Digitale Transformation in Märkten mit Versicherung: Von der Verteidigung des Geschäftsmodells bis zur Auflösung der Branche, in: versicherungsrundschau, 1-2/17, S. 64

Christensen, C. et al. (2016): Competing Against Luck: The Story of Innovation and Customer Choice, NY: Harper Collins, 2016

Walthes, F./Sandner, K./Hartung, T. (2018): Mit Struktur zu einer nachhaltigen Konzernstrategie, in: Controlling & Management Review, 7/2018, S. 48-54

Möller, K./Menninger, J./Robers, D. (2011): Innovationscontrolling: Erfolgreiche Steuerung und Bewertung von Innovationen, Stuttgart

Spieleder, S. (2017): Investition in Mehrwert für die Kunden – Ein Blick auf die Versicherungsbranche im Zeitalter der Digitalisierung, in: Handelsblatt-Journal, 12/2017, S. 4

Robers, D./Kränzler, F. (2018): Zukunftspotenziale digitaler Ökosysteme – Chancen im Verbund, in bank und markt, Ausgabe 6/2018, S. 27-29.

Schulte-Noelle, H. (2001): Allfinanz – Entwicklungen eines globalen Versicherungsunternehmens, in: Financial Services – Modelle und Strategien der Wertschöpfung, hrs. v. Ackermann, W., St. Gallen

Mind the bridge (2018): The Status of Open Innovation in Europe Report 2018, [online] https://mindthebridge.com/open-innovation-in-europe/, [30.04.19]

Weiblen, T./Chesborough, H.W. (2015): Engaging with Startups to Enhance Corporate Innovation, California Management Review, Vol. 57, No. 2, pp. 66–90

Capgemini (2018b): Capgemini’s World FinTech Report 2018 Highlights Symbiotic Collaboration as Key to Future Financial Services Success, [online] https://www.capgemini.com/news/capgeminis-world-fintech-report-2018-highlights-symbiotic-collaboration-as-key-to-future-financial-services-success/ [10.06.2018].