Versicherungsbetrieb 2050 – was müssen Kernsysteme leisten?

Wer die Kunden der Zukunft zufriedenstellen will, muss flexibel und schnell auf sie eingehen können. Der folgende Beitrag beschreibt, wie Produkt-, Bestands- und Schadensysteme heute beschaffen sein müssen, um auch in 30 Jahren noch zeitgemäß zu sein.

Auf den zeitgenössischen Homo digitalis, der es gewohnt ist, seine Bedürfnisse orts- und zeitunabhängig zu stillen, muss die klassische Versicherung wie ein Dinosaurier wirken: Formulare aus Papier, Policen mit langer Laufzeit und Leistungen, die er nicht braucht, passen so wenig in sein Leben wie ein Kutscher in das Cockpit eines Hochgeschwindigkeitszugs. Studien zufolge bezahlt der moderne Kunde Versicherungen am liebsten nur dann, wenn er sie auch benötigt, und er schließt sie – wenn sie seinen Ansprüchen genügen – bevorzugt online ab. Ob die dahinterstehenden technischen Prozesse und Produkte komplex sind, ist ihm egal.

Wie passt das mit den sogenannten Kernsystemen der Versicherungen zusammen, dem Maschinenraum der Produkts-, Bestands- und Schadenverwaltung? Dessen Funktionsumfang ist über die Jahrzehnte immer komplexer geworden, nicht selten brummt er noch immer auf Großrechnern im Keller. Dass nach der Kundenkommunikation nun auch diese Kernsysteme in die neue Zeit transformiert werden müssen, hat die Branche längst erkannt. Das Problem: Die alten Host-Anwendungen unterstützen die neuen Vertriebsprozesse nicht, sie müssten tiefgreifend angepasst werden. Das zweite Problem: Die Systeme laufen meist auf alten Programmiersprachen wie Cobol. Doch der Markt für spezialisierte Entwickler ist leergefegt.

Bleibt also die Umstellung auf neue Systeme. So etwas ist in der Regel teuer, aufwändig und nicht ohne Risiko. Ein neues System muss den Spagat zwischen dem über Jahrzehnte aufgebauten Bestand und dem Neugeschäft für mindestens 30 Jahre beherrschen, das heißt: die Entwicklungen der Zukunft vorwegnehmen. Weil aber niemand so genau sagen kann, wie die Welt in 30 Jahren aussieht, empfiehlt sich ein hochflexibles System – das künftig Dinge können wird, von denen heute noch niemand etwas ahnt.

Sicher ist: Neben ständiger Verfügbarkeit, schnellem Service und digitaler Kommunikation erwartet der Kunde zunehmend Leistungen, die über den klassischen Versicherungsschutz hinausgehen. Das können Präventionsangebote sein, Dienstleistungen im Schadenfall (z. B. Klempnerbesuch bei Havarie) oder bedarfsorientierter Schutz, der zum  persönlichen Lifestyle passt.

Einige Versicherungsgesellschaften gehen darauf bereits ein. Die US-amerikanischen Anbieter Nationwide und Progressive etwa setzen schon seit längerem auf Kfz-Tarife, die auf dem individuellen Fahrverhalten basieren: Wer umsichtig fährt, zahlt geringere Beiträge als ein Raser. Der japanische Schaden- und Unfallversicherer Tokio Marine & Nichido Fire Insurance bietet bereits seit 2012 Kfz-Policen für einzelne Tage an. Mitbewerber Mitsui Sumitomo Insurance übertrug das Modell im vergangenen Jahr auf die Freizeit: Er führte eine 24-Stunden-Versicherung für Aktivitäten wie Bergsteigen, Skifahren oder Golf ein – die Prämien sind nach Risiko gestaffelt, der Vertrag ist über das Smartphone abzuschließen und über die Telefonrechnung zu zahlen. Und den Handwerker per Klick ruft beispielsweise der Kunde von Aviva: Großbritanniens größter Schadenversicherer kooperiert mit HomeServe, einem Unternehmen für Reparaturservice, und mit dem Londoner Startup Neos, das die smarte Technologie beisteuert und das Versicherungspaket smartphonekompatibel vertreibt.

Um mit den Entwicklungen Schritt halten zu können, arbeiten auch in Deutschland etablierte Versicherer zunehmend mit InsurTechs zusammen. Langfristig auf deren Innovationskraft und Flexibilität angewiesen zu sein, kann für die Branche aber keine Lösung sein. Vertrieb und Verwaltung komplexer Produkte müssen nicht zwangsläufig technologisch aufwändig sein. Der Schlüssel ist vielmehr eine flexible und gut organisierte IT-Architektur.

Damit die Kernversicherungssysteme für Produkt, Bestand und Schadenverwaltung als Schlüssel funktionieren, müssen sie einige Bedingungen erfüllen:

  • Der Grundaufbau des Kernsystems muss flexibel und einfach zu ändern sein. Eine starre Anwendungsarchitektur funktioniert für die Geschäftsmodelle der Zukunft nicht mehr. Wer zum Beispiel Versicherungs- mit Servicedienstleistungen gebündelt anbieten möchte, muss die Produkte frei und schnell modellieren können.
  • Das Produkt- und Leistungswissen muss zentral bereitgestellt werden. Damit Produkte so schnell wie möglich auf den Markt kommen, sollten Produkt- und Leistungsdaten nur einmal angelegt und zentral gespeichert werden können, so dass alle Kern- und Vertriebsanwendungen schnittstellenfrei darauf zugreifen können. So können auch Vertragsvarianten ohne großen Aufwand ausgespielt werden.
  • Das System muss offen für Neues sein. Flexibilität ist das Stichwort: Das System der Zukunft integriert unkompliziert Dritte wie Kommunikationsportale, Dienstleistungsdatenbanken und das Internet der Dinge (z. B. smarte Haustechnik).
  • Als Katalysator helfen Microservices. Sie stellen alle Funktionen in kleinteiligen Services über spezielle Schnittstellen (z. B. REST/ API) zur Verfügung.
  • Ein hoher Automatisierungsgrad beschleunigt die Abwicklung. Das System der Zukunft wickelt Routineaufgaben automatisiert ab. Bei der sogenannten Dunkelverarbeitung werden die Geschäftsprozesse in Workflow-Engines integriert und dort automatisch verwaltet, kontrolliert und weitergeleitet – die Maschine nimmt dem Menschen wiederkehrende Arbeit ab.

Wer erkannt hat, dass die Transformation der Kernsysteme unumgänglich ist, ist auf dem richtigen Weg. Was die Umsetzung angeht, ist die Assekuranz allerdings erst am Anfang – ein allgemeingültiges Erfolgsrezept lässt sich heute noch nicht erkennen. Sicher ist jedoch, dass Flexibilität und Offenheit in der Architektur der neuen Lösungen Voraussetzung dafür sein müssen.

Der Autor: Jörg Renger ist Geschäftsführer der Faktor Zehn GmbH. Nach Stationen im In­ und Ausland in unterschiedlichen Managementpositionen für internationale Unternehmen aus den Bereichen Assekuranz, IT und Beratung war der studierte Diplom­-Kaufmann zuletzt Managing Partner bei der ConVista Consulting AG. Das Unternehmen Faktor Zehn, das 2004 gegründet wurde, ist Spezialist für die IT der Versicherungswirtschaft. Als Softwarehaus bietet Faktor Zehn innovative Kernversicherungslösungen für das digitale Ver­sicherungsgeschäft auf Basis modernster  Architektur an. Der Hauptsitz befindet sich in München.