KI-Spezialist Peter van der Putten, Assistant Professor AI an der Universität Leiden und Director Decisioning & AI Solutions bei Pegasystems, verrät im Interview, warum Versicherer eine zentrale Intelligenz aufbauen sollten, wie sie die Komplexität der digitalen Kanäle beherrschen können und wie die Zukunft der KI im Versicherungswesen aussieht.
Welche Auswirkungen hat die Covid-19-Pandemie auf den Versicherungsvertrieb?
Kundenzentren und Agenturen wurden über Nacht geschlossen und in die Heimarbeit verlegt, traditionelle Vertriebsansätze wie das persönliche Gespräch kamen zum Erliegen. Die Versicherungsagenten mussten auf digitale Ansätze und Touchpoints umsteigen, da sich die Kundeninteraktion mehr und mehr auf digitale Kanäle verlagerte – selbst in den älteren Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig waren bestimmte Produktlinien wie etwa Krankenversicherungen von plötzlichen Forderungsspitzen betroffen.
Das lässt die Versicherer in einer komplexen Situation zurück. Und viele von ihnen sind dabei, diese Komplexität noch weiter zu verschärfen. Sie setzen die neuen digitalen Kanäle und Ansätze in ihrer IT-Architektur taktisch oben drauf. Dadurch werden sie isoliert voneinander aufgebaut. Das macht diese schicken neuen Kanäle zu den Legacy-Silos der Zukunft, was zu erhöhter Komplexität und gebrochenen Customer Journeys führt.
Wie sollten Versicherer Ihrer Meinung nach stattdessen vorgehen?
Sie sollten keine alten Fehler wiederholen und von Kanälen wie Apps, Chatbots oder Contact- Center-Lösungen ausgehen; aber auch nicht von den zugrundeliegenden Plattformen wie Bestandsführungs- und CRM-Systemen oder Datenbanken. Dadurch entstehen Silo- Lösungen, die Versicherer für verschiedene Kanäle und Systeme getrennt entwickeln und pflegen müssen. Viel besser ist der so genannte Center-out-Ansatz. Dabei wird mit Hilfe von KI eine zentrale Intelligenz aufgebaut – ein Gehirn, das kanalübergreifend agieren und intelligente Angebote, smarte Konversationen und optimierte Prozesse steuern kann.
Indem Logik und Prozesse aus den FrontEnd-Kanälen und Back-End-Systemen herausgenommen und zentral verwaltet werden, lassen sich neue digitale, aber auch herkömmliche Offline-Kanäle sehr einfach hinzufügen. Die Kunden können ihre Customer Journey in einem Kanal beginnen und in einem anderen abschließen. Der Begriff des Kanals verliert dadurch fast seine Bedeutung, da die Customer Experience praktisch kanalunabhängig wird. Das Chaos der neuen Kanäle lässt sich dadurch zum eigenen Vorteil nutzen: Versicherer erhalten die Möglichkeit, Kaufsignale zu erkennen, mit Kunden in Kontakt zu treten und neues Geschäft zu generieren.
Was konkret kann die KI dabei leisten?
Die zentrale Intelligenz wird ständig mit dem Verhalten und den Interaktionen der Kunden gefüttert und entscheidet kontextabhängig über die „Next Best Action“ für Akquise, Cross- und Upselling, Kundenbindung und die Erneuerung von Kundenbeziehungen. Das können personalisierte Empfehlungen für den Kauf neuer Produkte oder zur Verlängerung der Kundenbeziehung sein, aber auch Vorschläge, um den Wert bestehender Produkte zu steigern, Tipps zur Vorbeugung oder andere Themen, die sowohl für den Versicherer als auch den Kunden von Interesse sind.
Beschränkt sich der Nutzen von KI für Versicherer auf die Vertriebsprozesse?
Nein, der Wert von KI für Versicherer liegt keinesfalls nur in Marketing und Vertrieb. Sie kann auch den Kundenservice hervorragend unterstützen, indem sie etwa proaktiv Probleme erkennt und passende Lösungen vorschlägt. Das gilt nicht nur für den assistierten Kundenservice, sondern auch im Self-Service-Kontext ohne Unterstützung durch einen Live-Agenten. Aber auch Kernprozesse wie Schadensbearbeitung, Betrugsbekämpfung und Underwriting können von KI profitieren, indem sie effizienter, effektiver und agiler werden. Das hat die Praxis bereits eindrucksvoll gezeigt.
Können sie dafür ein Beispiel anführen?
Ein gutes Beispiel ist ein großer Versicherer im Gesundheitswesen, der mit Hilfe von KI die Bearbeitung von Schadensfällen optimiert. Das Unternehmen operiert in einer komplexen Schadensfallumgebung mit vielen Legacy-Systemen für die Schadensregulierung. Sie erfüllen ihre Aufgaben im Prinzip gut, aber es fehlte ihnen sowohl an Intelligenz als auch an Agilität. Das machte es schwierig, über die aktuellen KPIs hinaus zu skalieren oder mit Spitzen bei der Schadensfalllast umzugehen, etwa wegen Covid-19.
Mit Hilfe von KI konnte der Versicherer wichtige Trigger in den Millionen Schadensfällen ermitteln, die jede Woche eingingen und auch in den Millionen Entscheidungen, die jede Woche dazu getroffen wurden. Das ermöglichte es ihm, Nachfragespitzen zu meistern, sich auf die qualitativ hochwertige Versorgung seiner Mitglieder zu konzentrieren und potenzielle Verschwendung und Betrugsversuche schneller zu erkennen.
Welche zukünftigen Entwicklungen sind für KI in der Versicherungsbranche zu erwarten?
Der Einsatz von KI wird sich zunehmend in Richtung Analyse verlagern; hin zu Einschätzungen und Entscheidungen über Kundenbedürfnisse und -interessen in Echtzeit, egal, ob es sich dabei um Verkaufs-, Service- oder Schaden inter aktionen handelt. Statt einer kleinen Anzahl von Vorhersagemodellen, die Datenwissenschaftler gewissermaßen in Handarbeit erstellen, so wie es heute der Fall ist, werden außerdem in großem Umfang automatisierte maschinelle Lernansätze zum Einsatz kommen. Sie werden kontinuierlich Modelle generieren und aktualisieren, um Reaktionen auf Angebote, das Verhalten von Kunden und die Ergebnisse von Prozessen vorherzusagen.
Der Autor:
Peter van der Putten ist Assistant Professor AI an der Universität Leiden und Director Decisioning & AI Solutions bei Pegasystems. Das Unternehmen ist auf innovative Software spezialisiert, mit der sich komplexe Arbeitsprozesse drastisch vereinfachen lassen. Sie unterstützt Unternehmen dabei, gezieltere Entscheidungen zu treffen und ihren Tätigkeiten besser nachzukommen. Zu den Kunden von Pegasystems zählen zahlreiche Versicherer weltweit.