Der Handel steht vor der größten Disruption seiner Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten der letzten Jahrzehnte. Trends auf Kundenseite wie „Meaningful Consumption“, Urbanisierung, der Wunsch des Kunden nach mehr Erlebnis sowie neue Technologien im Retail erfordern dringend neue und innovative RetailFormate.
Meaningful Consumption
Mit der Bewegung rund um Fridays for Future wurde ein Tipping Point erreicht, wenn es um Nachhaltigkeit und Klimaschutz geht. Verbraucher fordern rasche und weitreichende Veränderungen. Die zum Standard gewordene Produkt- und Transportverpackungen aus Plastik werden von Kunden militant abgelehnt. Die Millenials und die Generation Z stellen – getrieben von einem neuen Gesundheits- und Umweltbewusstsein – ihre Ernährungsgewohnheiten in einer unglaublichen Geschwindigkeit um.
Fleisch aus Massentierhaltung und Milchprodukte stehen wegen des ökologischen Fußabdrucks, neuen Tierwohlanforderungen etc. vor erheblichen Verbrauchsrückgängen. Ersatzprodukte auf Pflanzenbasis mit besserer CO2-, Wasser- und Boden-Bilanz, das sog. „New Generation Food“, boomen. Die ganzjährige Verfügbarkeit aller Obst- und Gemüsesorten, die täglich um die Welt transportiert werden, wird diesen nachhaltigkeitsbewussten Konsumenten nicht mehr wichtig sein. Und zum ersten Mal wird in Deutschland die Diskussion geführt, dass Lebensmittel zu billig sind – ein massiver Anstoß für eine Richtungsänderung in der Ausgestaltung der Formate und der Supply Chains der Zukunft.
Es ist auch nicht wirklich nachhaltig, Billig-Textilien mit ihrem problematischen ökologischen und sozialen Footprint nach wenigen Wochen zu entsorgen. Bei den jungen Zielgruppen wird dies weitere Verhaltensänderungen provozieren, die nur in eine Richtung gehen können: weniger, dafür bewussterer Konsum, mehr Qualität, weniger Menge, mehr Recycling, mehr Vintage, also gebrauchte Mode.
Urbanisierung
Der Zuzug in die Großstädte hält in Deutschland ungebrochen an. Dies erfordert eine Neuerfindung des innerstädtischen Lebensmittelgeschäfts, das in den letzten Jahren stiefmütterlich behandelt wurde. Die meisten Händler starten erst jetzt mit der Entwicklung neuer, urbaner Kleinflächenkonzepte, in denen man auch ohne Auto einkaufen kann.
In den ländlichen Gebieten hingegen wird es aufgrund der Abwanderung immer schwerer, die Bevölkerung profitabel zu versorgen. Der Frequenzrückgang, der sich noch weiter fortsetzen wird, erfordert auch hier neue Antworten – vielleicht sogar vollautomatisierte Läden ohne Personal à la „Avec Box“ von Valora oder „Würth 24h“.
Die Lieferketten des Handels – stationär und online – stehen bereits heute vor dem Zusammenbruch. Die Filialbelieferung wie auch die letzte Meile zur Wohnung des Kunden werden nicht zuletzt aufgrund des Verkehrskollapses in vielen Städten und des zunehmenden Mangels an LKW-Fahrern und Paketzustellern zur Herausforderung.
Die Customer Experience als der USP der Zukunft
Auf sämtlichen Retail-Konferenzen hört man den Spruch „Nicht das Ladengeschäft stirbt aus, sondern die schlechte Customer Experience.“ Kein Händler kann heute in puncto Auswahl gegen mehrere Millionen Artikel bei Amazon bestehen oder immer den günstigsten Preis bieten. Das ist aber auch nicht immer entscheidend. Es gilt, den Kunden im Laden zu begeistern.
Um diese Kundenbegeisterung zu erreichen, muss man es dem Kunden ermöglichen, die Artikel auf seiner Einkaufsliste möglichst schnell und einfach zu finden, denn Zeit ist ein knappes Gut. Darüber hinaus muss man seine Kunden überraschen, inspirieren und individuelle Bedürfnisse ansprechen und erfüllen. Dies kann durch engagierte Mitarbeiter, kuratierte Sortimente, Ladengestaltung und -design, Instore Navigation, Nutzung von Augmented Reality wie bei Ikea, Entertainment Elemente wie die Instore Rösterei bei Starbucks oder die Whiskybar bei Schuh Zumnorde geschehen.
Retail Technology
Zu diesen Treibern der Disruption im Handel kommt der exponentielle Fortschritt bei der Digitalisierung und der Retail-Technologie hinzu. Robotics Software, Artificial Intelligence (AI), Machine Learning und echte Roboter ermöglichen dramatische Einsparpotenziale im Retail Back-End, also bei allen Overheadfunktionen und der Logistik sowie im Front-End in der Filiale. Natürlich sind viele AI-Systeme heute noch fehlerhaft und ohne menschliches Korrektiv für Handelsunternehmen nicht sinnvoll nutzbar – noch nicht.
Gigantische Investitionen werden hier zu schultern sein. Es ist zu beobachten, dass die IT-Kosten in allen Handelsunternehmen stark zunehmen und bis zu 2,7 Prozent vom Umsatz erreichen. Wer diesen Weg geht, wird ein neues Effizienzniveau erzielen, eines das mit traditionellen Strukturen nicht erreicht werden kann. Wal-Mart hat hier gezeigt, dass seine Technologie-Investitionen auch von den Investoren positiv bewertet werden und konnte seine Marktkapitalisierung im letzten Jahr um 28 Prozent steigern.
Der Handel stand selten vor größeren Herausforderungen! Das Mindset des Kunden, was und wie er konsumieren möchte, was er im Laden erleben möchte, wo er wohnt, wie er leben will, welche Rolle Nachhaltigkeit in seiner Kaufentscheidung spielt – all das hat sich dramatisch verschoben. Es ist gut möglich, dass die großen Technologie-Giganten als erstes das volle Potenzial von Digitalisierung und Retail Technology zu nutzen wissen und sich ein großes Stück vom Handelskuchen und insbesondere von der Wertschöpfung des Handels abschneiden, wenn im Handel nicht konsequent und mit klaren Prioritäten investiert und innoviert wird.
Der Autor: Andreas W. Bauer, Herausgeber dieses Specials, ist Senior Advisor bei Deloitte Consulting für den Sektor Consumer Business mit Focus auf Retail Technology sowie Beirat am Institute of Brand Logic, einer Strategieboutique, die auf die Entwicklung erfolgreicher Retail-Formate spezialisiert ist. Zuvor leitete er den Sektor Consumer Business bei Deloitte Consulting sowie das globale Competence Center Consumer Goods & Retail bei Roland Berger.