Die klassischen Qualitätsabteilungen haben sich überholt. Sie sind angesichts der heutigen Anforderungen nicht nur zu träge, sondern entmündigen auch die, die für das Produkt verantwortlich sind. Die Lösung liegt in eigenverantwortlichen und gut ausgebildeten Mitarbeitern, die in Organisationseinheiten passend zur Produktarchitektur und zum Businessmodell den Erfolg sicherstellen.
Ich lernte noch in einer Zeit, in der sich Hersteller auf Basis von Marktanalysen und Entscheidungsmeetings auf ein Produkt und dessen Merkmale festlegten. Die Entwicklungsorganisation hatte dann Jahre Zeit, das Produkt zu entwickeln und freizugeben – und dann folgten viele weitere Jahre, um es nahezu unverändert zu produzieren und zu verkaufen.
Heute ändern sich Marktanforderungen, Kundenerwartungen und technologische Optionen eines Produktes ununterbrochen. Eigentlich ist es nie stabil. Zuerst versuchte man, durch ein Schätzen der Zukunft Wetten darauf einzugehen, was der Kunde später gegebenenfalls kaufen könnte. Die Dynamik überholte jedoch diese Schätzmethoden und es gibt kaum noch ein Fernglas, das es erlaubt, zwei bis fünf Jahre in die Zukunft zu blicken. Die Folge: Für Produktmanager und Entwickler ist es kaum noch möglich, mit den etablierten Methoden ein tragfähiges Anforderungsmanagement zu betreiben. Entscheidungen werden verschoben oder gar nicht getroffen – die Zukunft ist einfach zu ungewiss.
Das Produkt und noch viel mehr der Service, so lautet die Konsequenz, müssen sich zukünftig ständig an Markt, Kunden und Technologie anpassen. Notwendig werden kurze, iterative Entwicklungszyklen für Produkte – angelehnt an Methoden, wie sie in der Software-Entwicklung durch Frameworks wie zum Beispiel SCRUM bereits vorhanden sind. Es geht um eine iterative, aber ständige Anpassung des vollständigen Produktes und der umgebenden Services. Nicht das beste, sondern das am besten angepasste Produkt gewinnt – diese Erkenntnis war schon Mitte des 19. Jahrhunderts von Darwin beschrieben worden. Übertragen heißt das: Nicht „ein Mal entwickelt und millionenfach verkauft“ lautet die Devise, notwendig ist vielmehr ein täglich adaptiertes Produkt. Im besten Fall Losgröße 1: Das passende Produkt für den Kunden zur richtigen Zeit.
Immer schneller, höher, weiter?
Oft werde ich von Kunden gefragt, wie dieser Zuwachs an Geschwindigkeit und diese Reduktion des Time-to-Market bei immer noch komplexeren Produkten möglich sein soll: „Sollen wir die Komplexität durch immer größere und damit komplexere Organisationen beherrschen? Die Geschwindigkeit verringern?“ Mein persönlicher Rat: Verlangsamen Sie nicht die Geschwindigkeit, sonst werden Sie rechts und links überholt, sondern reduzieren Sie die Komplexität! Hierfür bieten sich drei Stellhebel an: die technische Architektur, die Business-Abhängigkeiten und die Organisation.
Die Produkte und Dienstleistungen werden immer vernetzter und komplizierter, insbesondere wenn die Einbettung in Ökosystemen und die Verschmelzung von Hardware und Software weiter zunehmen. Aber diese Komplexität lässt sich reduzieren, indem man sie zerlegt. Dazu lässt sich bei der Entwicklung eine einfache Methode der Mathematik nutzen: die Faktorisierung. Zerlegen Sie ein komplexes Produkt in einfache Teile und geben Sie die Businessverantwortung dazu in eine (möglichst kleine) Organisationseinheit. Allein diese Einheit ist dann für Qualität verantwortlich!
Die Menschen machen den Unterschied
Qualitätsabteilungen entstanden früher aus der Überlegung, die Mitarbeiter überwachen und kontrollieren zu müssen. Das hatte über die Zeit eine gewisse Entmündigung zur Folge, da „die Qualität“ ja jetzt „eine andere Abteilung“ sicherstellt. Sicher: Es gibt viele Organisationen, bei denen das Zusammenspiel von Qualitätsabteilungen mit den Entwicklern sehr gut funktioniert. Nur fehlt für diese Schleifen heute schlicht die Zeit.
Doch was ist die Alternative? Der Schlüssel sind mündige, eigenverantwortliche und gut ausgebildete Mitarbeiter, die in den kleinen Organisationseinheiten schnell und gewissenhaft zusammenarbeiten. Viele Organisationen sind heute noch so aufgestellt, dass sie Mitarbeiter entmündigen. Neue, junge Kollegen passen sich dem System an, die alten Hasen sind es schon. Der Prozess, die Verantwortung wieder zu stimulieren, ist deshalb nicht einfach – aus meiner Sicht aber zwingend notwendig.
Weg mit den zentralen Entschleunigern
So haben wir bei Zielpuls die zentrale Qualitätsabteilung abgeschafft und die Qualitäts-Verantwortung einzig in die jeweiligen Teams gelegt. Eine Gruppe von erfahrenen Kollegen kümmert sich in der Rolle eines „Enablers“ darum, dass die Teams unterstützt werden, eine kundenwirksame Qualität sicherzustellen. Diese Struktur schaffte mehr Effizienz und mehr Effektivität. Wir konnten damit sogar die aktuellen ISO-Standards nachweislich erfüllen. Probieren Sie es aus! Sie werden überrascht sein, welchen Effekt allein schon die klare Ansage hat, nunmehr für die Qualität verantwortlich zu sein.
Auf den Punkt gebracht:
- Beherrschen Sie die Komplexität in der Organisation und Produktarchitektur, aber bleiben Sie auf dem Gaspedal.
- Jedes Entwicklungsteam ist direkt und ausschließlich für die Qualität verantwortlich (und schaffen Sie die zentralen Abteilungen dafür gleich ab).
- Befähigen und energetisieren Sie die Menschen in Ihren Organisationen dazu.
Der Autor: Markus Frey ist Gründer und Geschäftsführer der Zielpuls GmbH. 2008 startete er zusammen mit seinem Partner die Beratung Zielpuls. Unter dem Slogan „Technik und Menschen“ setzen sie sich dafür ein, dass technologische Optionen für den Menschen optimal nutzbar werden. Frey berät internationale Industriekonzerne mit dem Fokus darauf, Komplexität zu beherrschen und eine stärkere Verschmelzung von Software und Hardware umzusetzen. Seit 2013 baute er auch zwei Büros in Shanghai und Peking auf, um Kunden im chinesischen Markt zu beraten – und auch von ihnen zu lernen.