Process Mining treibt die Digitalisierung des Prozessmanagements voran

Die Komplexität von heterogenen System- und Prozesslandschaften in einer von Akquisitionen geprägten Geschäftswelt stellt viele Unternehmen vor große Herausforderungen bei der Integration. Process Mining bildet einen initialen Baustein, um die Prozessintegration digital zu beherrschen. Mario Pellegrino und Verena Schwobe werfen einen Blick auf die heterogene Prozesslandschaft des Wissenschafts- und Technologieunternehmens Merck.

Die drei starken Unternehmensbereiche Healthcare, Life Science und Electronics mit sehr unterschiedlichen Geschäftsmodellen sowie zahlreiche kleinere und große Akquisitionen der letzten 15 Jahre über alle Unternehmensbereiche hinweg erfordern bei Merck eine konstante Integration von ERP-Systemen und Prozessen in das bestehende Umfeld. Dadurch entstand eine Architektur mit mehr als 40 verschiedenen ERPSystemen, deren Integration und Transformation auf strategische SAP S/4HANA Technologie zwar läuft, jedoch aufgrund regelmäßiger weiterer Akquisitionen praktisch nie abgeschlossen wird.

Die manuelle Handhabung fragmentierter Prozesse

Prozessmanager stehen in diesem Umfeld vor der großen Herausforderung, den Überblick über die unterschiedlich ausgeprägten Prozesse in den verschiedenen Systemen zu behalten und deren Anpassung auf unsere Reporting- Anforderungen voranzutreiben. Aufgrund der heterogenen System-Landschaft ist es notwendig, Systeme zu überbrücken. Dies erfordert eine hohe Quote an manuellen Aktivitäten bei der Ausführung von Geschäftsprozessen und führt vor allem in globalen Prozessen wie etwa im Bereich Finanzen zu einer erhöhten Ineffizienz. So müssen Mitarbeiter eine Vielzahl unterschiedlicher, fragmentierter Prozesse manuell handhaben und das teils wiederkehrend wie etwa zum Monatsabschluss. Auch die Fehlerquote steigt naturgemäß mit dem Anstieg manueller Tätigkeiten in unterschiedlichen Systemabläufen bei einem Volumen von etwa einer Milliarde Transaktionen nur bei der Gewinn- und Verlustrechnung.

Ein naheliegender Gedanke dabei könnte auf die kurzfristige Automatisierung dieser manuellen Aktivitäten abzielen – beispielsweise als Überbrückung bis hin zur SAP S/4HANA Transformation. Doch schon der Microsoft-Gründer Bill Gates wusste: „Die erste Regel von Technologie in Unternehmen ist, dass Automatisierung die Effizienz von effizienten Abläufen erhöht. Die zweite Regel ist, dass sie die Ineffizienz von ineffizienten Abläufen erhöht.“

Um also weitere Ineffizienzen zu vermeiden, ist es ratsam, in einem ersten Schritt die Prozesse genau zu analysieren mit dem Ziel der Standardisierung, Harmonisierung und erst anschließenden Automatisierung über den gesamten End-to-End (E2E) Prozess hinweg. Nur so kann die digitale Transformation über alle ProzessEbenen hinweg nachhaltigen Erfolg erzielen. Doch wie kann das in einem solch komplexen und heterogenen Umfeld gelingen? Wo sollte der Prozessmanager anfangen und mit welchem Ziel? Wie gelingt der Überblick?

Transparenz mithilfe des digitalen Zwillings

Process Mining als relativ junge Technologie hilft einem Prozessmanager heute, dieser Aufgabe Herr zu werden. Die durch Process Mining gewonnene Transparenz ist eine Grundvoraussetzung für die digitale Transformation von Geschäftsprozessen 1). Process Mining kreiert einen Digital Twin 2), also eine virtuelle Kopie der unternehmensspezifischen Prozesse und bündelt sie auf einer Plattform. Dadurch entsteht erstmals die Möglichkeit Prozessabschnitte einerseits auf detaillierter Ebene zu visualisieren, zu analysieren und gleichzeitig auch eine aggregierte Sicht auf den Gesamtprozess zu erhalten. Auf dieser Basis können unsere Prozessmanager zukünftig unabhängig von den zugrunde liegenden Systemen die E2E-Prozesse systematisch über schrittweise inkrementelle Prozessverbesserungen strategisch managen.

Mit diesem Ansatz steht Merck nicht allein. Eine jüngere Studie aus dem Jahr 2018 zum Thema Geschäftsprozessmanagement zeigt, dass sich eine Mehrheit der 184 befragten Unternehmen auf inkrementelle Änderungen und die Verbesserung bestehender Geschäftsprozesse in Kombination mit der Einführung neuer Technologien konzentriert 3). Für Merck stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob in unserem dynamischen, von Akquisitionen geprägten Geschäftsumfeld daher ein sogenannter Brownfield-Ansatz basierend auf der inkrementellen Verbesserung der tatsächlichen Geschäftsprozesse, zukünftig die klassische Geschäftsprozessmodellierung (Greenfield-Ansatz) nicht grundsätzlich ablöst. Ausgehend von den tatsächlichen Prozessabläufen können wir mithilfe neuer Technologien wie Process Mining eine retrograde Standardisierung sukzessive über inkrementelle Prozessanpassungen erreichen.

Happy Path

Der Digital Twin zeigt in verschiedenen Aggregationsgraden welche Prozessvarianten bereits heute effektiv und effizient unsere Systeme durchlaufen. Die effizientesten Varianten (Happy Path) können in einem solch retrograden Standardisierungs- und Automatisierungsansatz als neuer Standard für Prozessanpassungen dienen, anstatt mühevoll einen neuen Prozess zu designen, um diesen dann später auf Konformität zu überprüfen. Somit wird auch die Intelligenz und Erfahrung der End-User im neuen Standard sofort integriert. Mit der neu gewonnen Transparenz lassen sich zudem auch Leistungsindikatoren wie etwa die Automatisierungsrate oder Durchlaufzeiten der Prozesse einfach überprüfen und durch den inkrementellen Prozessverbesserungsansatz sukzessive steigern.

Die Verknüpfung mit Automatisierungskomponenten aus den Process Mining Tools oder RPA/Workflow-Lösungen ermöglichen im nächsten Schritt effiziente E2E-Geschäftsprozesse, die den Business Value entscheidend beeinflussen.


1) Process Mining in Action, Lars Reinkemeier (Editor), Springer 2020, S. 45

2) Gartner „Market Guide DTO 2018“

3) Harmon, P. (2018). The State of Business Process Management 2018 via https://jemi.edu.pl/vol-16-issue-1-2020/


Die Autoren:

Mario Pellegrino leitet den Bereich CFO Area Digital Strategy & Realization der Merck Gruppe. In dieser Rolle setzt er agile Projekte zu Data & Analytics und Prozess-Strategie um.

 

 

Verena Schwobe verantwortet die Process Strategy im Team von Mario Pellegrino. Ihr Fokus liegt auf der strategischen Transformation der Finanzprozesse hin zu digitalen, effizienten und skalierbaren E2E-Prozessen.