Process Mining in der Energiewirtschaft: Die Wahrheit der Daten nutzen

Process Mining liefert im B2C-Vertrieb der innogy SE in Deutschland seit vielen Jahren wesentliche Beiträge für eine herausragende Customer Experience (CX) zur notwendigen wettbewerblichen Differenzierung. Analog spielt Process Mining im B2BVertrieb und dem angrenzenden Retail Energy Management (REM) eine wichtige Rolle in der Optimierung komplexer datengetriebener Prozesse. Zur Zeit verfolgen wir in der Verbindung von Prozessanalyse, Robotisierung und Prognose über Methoden der künstlichen Intelligenz das Ziel, uns kognitiver integrierter Automatisierung zu nähern.

Die deutsche Energiewirtschaft bietet in vielen Regionen mit fast eintausend Unternehmen ein sehr breites Kundenangebot. Verteilt über das Bundesgebiet operieren ebenso viele Netzbetreiber. Ein Daten-Clearing, z. B. über einen zentralen Marktoperator, gibt es nicht. Zieht ein B2C-Kunde um oder wechselt seinen Lieferanten, können Datendifferenzen in der Erfassung vom Kunden bis zum Netzbetreiber unmittelbar auf die CX und interne Prozesskosten durchschlagen. B2B-Kunden mit verteilten Lieferstellen oder besonderen Anschlusssituationen können dies sehr ähnlich erleben.

Prozesskomplexität ist als Vollversorger nicht zu verhindern. Sie entsteht aus Produkt-Diversität, Datenkomplexität und Schnittstellen verschiedener IT-Systeme. Als Führungskräfte können wir gestalten, wie wir damit umgehen. Die Möglichkeiten des Process Mining, Prozesse von höchster bis geringster Granularität darzustellen, sind hier ein wesentlicher Vorteil gegenüber klassischen Diagnose-Instrumenten. In der Verknüpfung von IT-basierten Geschäftsprozessen und Kundeninteraktionen werden Wirkzusammenhänge in der CX transparent.

Prozessoptimierung ist besonders dann einflussreich, wenn sie an den Quellursachen ansetzt. Mit Brown-Paper-Methoden sind wir alle vertraut, z. B. im Rahmen von Customer Journey Mappings. Natürlich haben wir Wände beklebt, Prozesse in Swim-Lanes strukturiert und Pain Points gesammelt. Das ist wertvoll zur Illustration. Mit Brown Paper wird jedoch niemand den realen Prozessen gerecht. Aus Hypothesen und Stichproben abgeleitete Pain Points sind nicht umfassend. Zwischen Kunden, Mitarbeitern und der Unternehmensführung bleiben viele zumindest latent unzufrieden.

Komplexe Datenwelten aufdecken

Da im B2C-Geschäft eine individuelle Betreuung – und damit die Kenntnis über die einzelne Customer Journey – nicht darstellbar ist, bietet Process Mining die Möglichkeit, Maßnahmen entlang des Kundenlebenszyklus in Abhängigkeit der Kundenbedürfnisse und -reaktionen zu orchestrieren. Abgesehen von offensichtlicher Prozessoptimierung, z. B. zur Kostenreduktion oder zur Identifizierung von Automatisierungspotenzialen, nutzen diverse Fachbereiche Process Mining zur Optimierung vertrieblicher Entscheidungen. Das Produkt- und Marktmanagement, das Vertriebskanalmanagement, die Marktkommunikation, der Kundenservice sowie das Abrechnungs- und Forderungsmanagement spielen eine große Rolle im B2C-Vertrieb. innogy SE arbeitet hier mit Celonis bereits seit frühen Gründerzeiten.

Seit ein paar Jahren übertragen und ergänzen wir schrittweise die Erfahrungen aus Process Mining im B2C-Vertrieb auf das B2B-Segment und REM. Die ersten Visualisierungen eines Prozesses im Lieferantenwechsel können in ihrer Komplexität erschlagen, ein Prozessdiagramm mag an einen sehr großen Topf mit Spaghetti erinnern. Bereits in den ersten Stunden ließen sich jedoch zahlreiche Quick Wins nah an den Quellursachen ableiten. Im Zusammenspiel zwischen operativen Fachbereichen und Data Scientists/Engineers in der Linienfunktion war dies ein wesentlicher Impuls für die folgende Ausweitung von Use Cases in REM.

Schon im Rahmen der Analysen im B2C-Segment hat es sich zudem als sinnvoll herausgestellt, die direkten Prozessdaten mit anderen Datentöpfen End-to-End zu verknüpfen. In der Kombination mit Kündiger- oder Kontaktdaten bekommt man schnell einen Eindruck, nach welchen Prozessabläufen oder Durchlaufzeiten Kunden unzufrieden sind. Wir können Ansatzpunkte erkennen, unerwünschte Prozessfolgen abstellen oder KPIs so definieren, dass im Vorfeld Reaktionen möglich sind.

Data Scientists als Motor der Transformation

Um aus den Analysen möglichst viel und möglichst schnell umsetzungsrelevante Ergebnisse zu erzielen, ist es wichtig, eine enge Verzahnung zwischen Data Scientists und dem operativen Business zu gewährleisten. Die Customer Journeys sind aus Unternehmenssicht zwar klar definiert. In der Realität gibt es in komplexen Systemlandschaften allerdings viele Ausfahrten oder Abzweigungen, die Kunden nicht die beste CX bieten. Gute Datenmodelle aufzubauen, ist zu Beginn nicht einfach. Die Entwicklung von Data Science Skills ist essenziell, noch wichtiger ist jedoch der unbedingte Wille aller Beteiligten, über Daten tief in den eigenen Prozesse zu graben und dabei zuzulassen, was auch weh tun kann: die Wahrheit der Daten sprechen zu lassen. Wir sind davon überzeugt, dass es nicht ohne Data Scientists geht, die das operative Geschäft gut genug kennen.

Unsere nächsten Schritte folgen schon der Vision einer kognitiven Automatisierung mit Methoden der künstlichen Intelligenz. Die Kluft zwischen der Robotisierung von überwiegend repetitiven oder statischen Prozessen auf der einen Seite und den Anstrengungen von Data Scientists auf der anderen Seite wird damit schrumpfen. Mit Machine Learning zur Prognose von Next Best Actions und der Überführung von regelbasierter in entscheidungsbasierte Automatisierung wird damit auch das alte Mantra einer Standardisierungs-Monokultur für Kosteneffizienz und Prozesseffektivät weiter sinken. Menschen wollen in ihren unterschiedlichen Bedürfnissen nicht alle gleich behandelt werden. Für Kunden in der Energiewirtschaft gilt dies wie in anderen Branchen und Industrien. Wir meinen, dass es sich lohnt, auch den intelligenten und datengetriebenen Umgang mit Komplexität in der Führung des Unternehmens als Teil der digitalen Transformation zu verankern und aktiv voranzutreiben.

Die Autoren:

Dr. Andreas Heinen, Bereichsleiter E2E Operations und IT Retail Energy Management bei innogy SE. Promovierter Physiker, seit 2005 im RWE Konzern. 

 

 

Christoph Wilcken, Leiter Marktbearbeitung und Data Analytics für B2C bei innogy SE. Diplomierter Betriebswirt, seit 2007 im RWE Konzern.  

 

 

innogy SE ist ein führendes deutsches Energieunternehmen mit einem Umsatz von rund 37 Milliarden Euro (2018) und rund 43.000 Mitarbeitern. Mit ihren drei Unternehmensbereichen Erneuerbare Energien, Netz & Infrastruktur und Vertrieb adressiert innogy die Anforderungen einer modernen dekarbonisierten, dezentralen und digitalen Energiewelt. Im Zentrum der Aktivitäten von innogy stehen unsere rund 22 Millionen Kunden. Die wichtigsten Märkte sind Deutschland, Großbritannien, die Niederlande und Belgien sowie einige Länder in Mittelost- und Südosteuropa, insbesondere Tschechien, Ungarn und Polen.