Vielen Unternehmen ist bewusst, dass Digitalisierung ihr Geschäft und die Industrie grundlegend verändern wird. Daraus entsteht oft großer Aktionismus im Glauben, dass sich Digitalisierung durch Anstoßen einer Vielzahl von Aktivitäten lösen lässt. Das ist nicht der Fall! Für Unternehmen geht es heute vielmehr darum, schnellstmöglich die notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln, um in einer zunehmend digitalisierten Welt bestehen und überhaupt erfolgreich sein zu können.
Die jüngsten Technologiesprünge haben ein Potenzial für die Disruption von Geschäftsmodellen geschaffen, das in der Form vermutlich noch nie vorhanden war. Dadurch entsteht für Unternehmen die wachsende, häufig noch latente Gefahr, dass die bisherigen Geschäftsmodelle zukünftig nicht mehr tragfähig sind. Auf Unternehmen hagelt eine Vielzahl von Schlagworte wie z. B. Digitale Zwillinge, Internet of Things, Data Science, künstliche Intelligenz, Block Chain ein, von denen Mitarbeiter und Management oft wenig Ahnung haben, die jedoch alle das Potenzial haben, disruptiv zu wirken.
Die notwendige Orientierung finden
In diesem Nebel der Themen und Schlagworte gilt es, Orientierung zu finden. Um dies tun zu können, ist es notwendig, sich von der klassischen dualistischen Denkweise, die von den Extremen Technologieführerschaft versus Kostenführerschaft geprägt ist, zu lösen – und ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass Produkte lediglich die physikalische Manifestation der Leistungsfähigkeit eines Unternehmens darstellen. Daraus ergibt sich die zentrale Frage, was Leistungsfähigkeit zukünftig für ein Unternehmen bedeutet. Dafür ist es notwendig zu präzisieren, womit man morgen und in Zukunft am Markt erfolgreich sein und Geld verdienen kann.
Für den Maschinen- und Anlagenbau lässt sich diese Frage zum Teil bereits beantworten. Morgen – eigentlich schon heute – muss der Maschinen- und Anlagenbau fähig sein, hochindividuelle Produkte in Lieferzeiten und zum Preis von Serienprodukten anbieten zu können. Gelingt dies nicht, wird der Markteintritt in einigen Märkten schon bald verwehrt bleiben. Für die Zukunft ist die Beantwortung der Frage vielschichtiger. Verdichtet lässt sich konstatieren, dass der Maschinen- und Anlagenbau die Fähigkeit erlangen muss, smarte Systemlösungen bereitzustellen, die eine hohe Integrationsfähigkeit in konvergierende Szenarien mitbringen.
Konvergierende Szenarien
Der Begriff eines konvergierenden Szenarios kann am Beispiel Fahrzeug- und Parkplatzsuche erläutert werden. Da kein Autofahrer Interesse an Parkplatzsuche hat, wird eine absehbare Erwartung des Kunden sein, dass ein Fahrzeug den Fahrer an einen Zielort bringt und genau in dem Moment wieder an diesem Ort ist, wenn die Weiterfahrt ansteht. Daraus ergibt sich ein Zusammenwirkungsszenario, in dem die klassisch getrennten Elemente (Fahrzeug, Parkhaus, Parkraum) konvergieren und daraus neue Geschäftsmodelle und technologische Szenarien entstehen.
Im Maschinen- und Anlagenbau können u.a. konvergierende Szenarien entstehen, wenn Maschinenlaufzeit statt Maschinen verkauft wird oder wenn sich die Maschinen in übergeordnete MES-Szenarien integrieren müssen und dabei Komponenten dieser Szenarien auf der Maschine lauffähig sein müssen (Schlagwort: Edge-Computing).
Die Idee der Leistungsfähigkeit formen
Es ist dabei die Aufgabe der Geschäftsführung, die oben genannte Frage zu beantworten und klar zu formen, was in diesem Sinne Leistungsfähigkeit für das Unternehmen zukünftig bedeutet. Daraus können dann die notwendigen Fähigkeiten (im Sinne von Geschäftsprozessfähigkeit), die ein Unternehmen braucht, abgeleitet werden. Diese Fähigkeiten werden durch Implementierung der notwendigen digitalen Prozessmuster umgesetzt. Das ist leicht gesagt, in der Umsetzung jedoch anspruchsvoll, da einige Prozessmuster Veränderungen in fast jedem Bereich des Unternehmens erfordern. So ist für die Fähigkeit, hochindividuelle Produkte in Lieferzeiten und zum Preis von Serienprodukten anbieten zu können, das Prozessmuster Configure-to-Order (CTO/CTO+) notwendig.
Dieses Prozessmuster erfordert u. a. die Etablierung eines Portfolio- und Produktmanagements, die Umsetzung des Produktliniengedankens, die Modularisierung und Etablierung von Produktbaukästen, ein Produktstrukturkonzept abgebildet im PLM, ERP und ggf. MES, die Umsetzung von Linienfertigung nach dem Assemble-to-Order (ATO) Prinzip, die Befähigung zur Lagerhaltung an zuvor klar definierten Kundenentkopplungspunkten, das Vermeiden des Phänomens der anwachsenden Varianz und nicht zuletzt die Umsetzung eines Konfigurators sowohl für Kunden, den Vertrieb als auch für die Stücklistengenerierung. Als Basis dieser Prozessmuster ist es zudem notwendig, moderne IT-Systeme einzusetzen und die Arbeitsweise in den bisherigen IT-Systemen grundlegend anzupassen.
Mutige Entscheidungen treffen
Die Umsetzung der notwendigen Prozessmuster gelingt nicht von selbst, sondern ist ein mühsamer, abteilungsübergreifender Akt der Veränderung im gesamten Unternehmen. Dabei ist i. d. R. nicht zu erwarten, dass die Unternehmen – geprägt von ihrer bisherigen Arbeitsweise – ohne Hilfe von außen die für sie notwendigen Prozessmuster identifizieren und umsetzen können.
Wie auch immer – das Anstoßen der notwendigen Veränderungen hängt von der Bereitschaft der Gesellschafter und des Managements ab und erfordert schnell auch mutige unternehmerische Entscheidungen zu treffen, inklusive des Bereitstellens der notwendigen finanziellen Mittel.
Ob und wie diese Thematik angegangen wird und die Umsetzung der notwendigen Prozessmuster gelingt, wird für viele Unternehmen die Schicksalsfrage sein und über deren Zukunftsfähigkeit entscheiden.
Der Autor: Jörg W. Fischer ist Professor für Produktionsmanagement und Digitalisierung an der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft. Als Managing Partner im SteinbeisTransferzentrum Rechnereinsatz im Maschinenbau (STZRIM) unterstützt er mittelständische Unternehmen bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Digitalisierungsstrategien. Prof. Fischer stellt sein Wissen in seinem Youtubekanal (https://www.youtube.com/stzrim) kosten- und werbungsfrei zur Verfügung.