So schrecklich diese Pandemie ist – sie hat vielen Unternehmen die Augen geöffnet. Sie hat Führungskräfte zusammengeschweißt und gemeinsames Handeln beschleunigt. Nach vielen Weckrufen hat Covid-19 den Druck erhöht, schneller und konsequenter digital zu werden, sich bewusster im Ökosystem und der Wertschöpfungskette zu bewegen und auch Neues zu wagen. Wichtig ist nun, die Erkenntnisse zu reflektieren und zu konservieren – gemeinsam mit allen Mitarbeitern und Gremien.
Ein neuer Weckruf oder einfach mehr Druck?
“Ein neuer Weckruf zur Digitalisierung” – so lautete der Titel eines Whitepapers, das wir zur Hannover Messe 2019 gemeinsam mit Dr. Eberhard Veit veröffentlicht hatten. Darin richten wir einen Appell an Unternehmen, endlich groß zu denken, um die Potenziale der Digitalisierung entscheidend für sich zu nutzen. Wir raten eindringlich, organisationsübergreifende digitale Transformationen durchzuführen, anstatt sich auf einzelne, punktuelle Piloten (oft am Rand der Wertschöpfung oder bei den Unterstützungsprozessen) zu beschränken. Unsere Botschaft: Zusammenarbeit neu denken, sich nicht vom etablierten Taylorismus einschränken zu lassen.
Heute, zwei Jahre später, ist dieser Weckruf mit seinen Empfehlungen an die Unternehmen optionslos. Die globale Pandemie Covid-19 führt Menschen und Unternehmen schmerzlich vor Augen, wie essentiell die Digitalisierung für die Gesellschaft geworden ist. Zugleich zeigt sie auf, welche Möglichkeiten der technologische Wandel für die Menschen unter sich ändernden Umständen bieten kann. Als im Frühjahr 2020 der klassische physische Geschäftsbetrieb abrupt gestoppt wurde, mussten analoge Vorgänge plötzlich unter Hochdruck digital abgebildet werden, um ein geregeltes Zusammenleben weiterhin zu ermöglichen und vor allem um geschäftliche Transaktionen aufrecht zu erhalten.
Schlagartig vergrößerte sich damit auch die Offenheit für digitale Lösungen und Geschäftsmodelle – ein Imperativ, an dem auch der Mittelstand nicht mehr vorbeigekommen ist, auch wenn Prioritäten der Vergangenheit oft in anderen Bereichen lagen. Einfach ausgedrückt: Alle wären gerne “digitaler” gewesen – oder mussten es schnell sein.
Der neue Imperativ
Nicht nur im Hinblick auf die Digitalisierung hat Covid-19 die Grundordnung der Wirtschaft zum Straucheln gebracht. Viele Industrieunternehmen wurden durch den unmittelbaren Krisenmodus und die einhergehenden Lock-downs hart getroffen – und haben dann die Komplexität des Ramp-ups unterschätzt: Kunden-Aufträge blieben aus oder Lieferketten waren teilweise unterbrochen, manchmal kam sogar beides zusammen. Für viele Unternehmen war es zudem offenbar eine neue Erfahrung, dass ein Ramp-up liquiditätsintensiver ist als ein Lock-down.
Es gibt jedoch Ausnahmen. Einige Unternehmen konnten genau in diesem Moment ihre Stärken durch die weitgehende Digitalisierung ihrer Geschäftsmodelle und -prozesse sowie durch innovative Produkte und Dienstleistungen ausspielen. Trotz Wirtschaftskrise haben sie ihre Geschäftsergebnisse verbessert oder sogar Rekord-Quartale realisiert. Gerade diese Erfolge führen die Notwendigkeit zur Digitalisierung denjenigen Unternehmen schmerzlich vor Augen, die im digitalen Bereich noch Nachholarbeit zu leisten haben.
Die Folge: Das Thema Digitalisierung ist bei Geschäftsführern, Vorständen, Beiräten und Aufsichtsräten mit zusätzlicher Wucht aufgeschlagen – und das als Team-Aufgabe und nicht nur beim Einzelnen. Die Diskussionen, ob und was digitalisiert wird, führen von nun an nicht mehr die CIOs oder CDOs alleine, sondern mehr und mehr die Vorstandsvorsitzenden und CFOs der Unternehmen zusammen mit ihren Führungskräften – unter verschiedenen Blickwinkeln: Aufrechterhaltung, Stabilisierung, Chancenrealisierung, Wachstum und Risikovermeidung. Spätestens seit den staatlich angeordneten Lockdowns erlangte die Digitalisierungsdiskussion höchste Priorität. Und dies nicht nur auf dem Papier.
Von der Krise zur Chance
Zur nun virtuellen Hannover Messe 2021 wollen wir mit diesem Special Orientierung geben und mittelständischen Entscheidern die Möglichkeit bieten, aus dem erfolgreichen Handeln anderer Inspiration zu schöpfen, befähigt durch digitale Möglichkeiten.
Welche positiven Aspekte kann man aus dieser nie dagewesenen globalen Krise ziehen? Wie kann die Krise dazu beitragen, einen begonnenen Transformationsprozess möglicherweise in eine neue Richtung zu lenken oder das Tempo des Wandels bedeutend zu erhöhen?
In den folgenden Artikeln widmen sich Entscheider aus sechs Unternehmen speziellen Aspekten, die für sie zu den entscheidenden Erfolgsfaktoren während der Krise geworden sind. Die Reihenfolge der Beiträge folgt der Abfolge der Herausforderungen, mit denen sich die Unternehmen in der Pandemie konfrontiert sehen.
Schnelle Sicherung
Mit Ausbruch und Ausbreitung von Covid-19 war zunächst das Krisenmanagement der Unternehmen so stark gefordert, wie kaum je zuvor. Der plötzliche Nachfrage- und Angebotsschock aufgrund weltweiter Lock-downs zwang den Großteil dazu, zuerst den Betrieb liquiditätstechnisch zu sichern, variable Kosten so schnell wie möglich zu senken sowie Lieferketten eilig anzupassen, um so das laufende Geschäft zu stabilisieren. Die Herausforderung hierbei: gleichzeitiges Überleben und Wachstum sicherzustellen – sowohl während als auch nach der Krise – sowie einen koordinierten Ramp-up zu ermöglichen. Und dies als Team im Unternehmen gemeinsam zu tragen.
Als Konsequenz heißt das: Unternehmen sind durch die Pandemie noch mehr gezwungen in unterschiedlichen Szenarien strategisch nach vorne zu denken, um rasch auf sich ändernde Umweltbedingungen reagieren zu können. Wer zu den Gewinnern und Verlierern der Krise zählt, werden folgende Fragen entscheiden: Wie wird Liquidität gesichert, wenn staatliche Unterstützung endet? Wie werden Lieferketten resilienter gemacht, wenn weitere regionale Lockdowns drohen? Welche Notfall-Pläne braucht es für die Zukunft, wenn die nächste Krise zuschlägt? Und wer ist dafür verantwortlich? Und wie bleibt ein erfolgreiches Team nun erfolgreich?
Potenziale identifizieren
In Krisenzeiten ist (mit dem Wissen und den Erfahrungen der letzten Monate) wichtiger denn je, sich seiner Unternehmensstrategie bewusst zu sein. Nur so schafft es das eigene Unternehmen, passende Potenziale zu identifizieren und zu heben.
Im Kern geht es darum, die angebotenen Produkte, Dienstleistungen, Prozesse und Fähigkeiten mit den Bedürfnissen des veränderten Marktes schnell zusammenzubringen, um dann eine individuelle Transformation mithilfe von Digitalisierungslösungen anzustoßen. Schubladen-Denken und suggerierte Standard-Lösungen werden heute und auch in Zukunft nicht mehr zum Erfolg führen.
Potenziale realisieren – und über sich selbst hinausdenken
Potenziale können beispielsweise über Kooperationen mit Ökosystem-Partnern wie Cloud- und Plattformanbietern oder digitalen Befähigern entwickelt werden, um den adressierbaren Markt für Produkte und Dienstleistungen zu vergrößern oder neue Absatz-Kanäle zu potenziellen Kunden zu erschließen. Doch auch diese Zusammenarbeit muss neu gelernt werden.
Ebenso werden Unternehmen durch langfristige Partnerschaften mit zuverlässigen Dienstleistern die Kontrolle über Teile ihrer Wertschöpfungskette oder Unterstützungsprozesse weiter abgeben, um sich auf Kern-Aktivitäten mit dem höchsten Wertbeitrag zu fokussieren. Die Rollen verändern sich – und Partnerschaft und “Ecosystem Play” bedeuten weit mehr als ein klassisches Lieferantenverhältnis.
Durch Neues begeistern
Weitere Potenziale ergeben sich durch Produkt- und Prozessinnovationen, die in Krisenzeiten gezielt mit hoher Geschwindigkeit vorangetrieben werden, um Kunden zu begeistern und kurz- bis mittelfristig neue Erlösquellen zu erschließen. Unternehmen treiben die Markteinführung digital befähigter Produkte wie intelligente Werkzeuge oder neue Lösungs- und Bezahlmodelle voran. Andere verlegten bisher physisch durchgeführte Schritte der Auftragsabwicklung wie die Kundenabnahme mithilfe von digitalen Dokumentationsmitteln in den virtuellen Raum, da der gewohnte Ablauf aufgrund von staatlichen Restriktionen nicht möglich war. Für die Zukunft werden diese neuen Prozesse mit den gleichen Ergebnissen wie in der Vergangenheit bei vielen Unternehmen zum neuen, akzeptierten Standard.
Kraft für Innovation statt Widerstand gegen Fortschritt
Genauso muss die eigene Belegschaft für zusätzliche Potenziale sorgen, indem sie für neue Kollaborations- und Produkt- bzw. Service-Technologien befähigt und begeistert wird. Es gilt Kraft für Innovation statt Widerstand gegen den Fortschritt zu gewinnen.
Das oft belächelte oder mit Misstrauen belegte “Home Office” ist unter dem Druck der Pandemie mithilfe von digitalen Lösungen zur neuen mobilen Arbeitsnormalität geworden. Dabei zeigte sich häufig auf eindrucksvolle Weise, wie digitale Kooperationen die physische Präsenz ohne Leistungseinbußen teilweise ersetzen kann, aber auch, wann physische Zusammenarbeit unabdingbar ist. Das unterstreicht, wie wichtig Bildung und Weiterbildung ist, um Digitalisierung möglich zu machen und Akzeptanz zu schaffen. Oder auch, wie (Weiter-)Bildung zum “Bottleneck” wird.
Groß denken – “Big Bets” eingehen
Zu einer erfolgreichen Strategie gehört auch das Eingehen von “Big Bets” – der großen Wette auf die eigene Zukunft, um neue Einnahmenquellen zu erschließen, diese zu diversifizieren oder Dinge ganz anders zu machen. Denn selbst in Krisenzeiten ist der Blick nach vorne unerlässlich, um nachhaltig zu wirtschaften. Hier müssen schnelle und richtungsweisende Entscheidungen getroffen werden: durch das Eingehen großer transformierender Projekte, eine schnelle Veränderung oder Erweiterung des Geschäftsmodells oder auch durch die Nutzung sich bietender Übernahmechancen. Das Potenzial der Skalierbarkeit der Wette über die eigene Organisation und in den Markt hinein ist der entscheidende Faktor, um eine Chance zu nutzen.
Nachhaltig transformieren
Worin liegt der Schlüssel zum langfristigen Erfolg der Digitalisierung in den Unternehmen? Nach unserer Überzeugung kommt es darauf an, die Nachhaltigkeit der häufig unter Druck erstellten digitalen Lösungen sicherzustellen und die freien Mittel konsequent den großen Themen zuzuweisen – um diese auch als Team im Unternehmen voranzutreiben. Wenn die Unternehmensspitze von diesem Weg überzeugt ist und die Transformationsziele entschlossen – auch bei Rückschlägen – verfolgt, wird sie auch die Akzeptanz der noch zweifelnden Mitarbeiter gewinnen können.
Nachhaltigkeit heißt aber auch, Lerneffekte aus dieser Sondersituation zu konservieren, und sich klar zu machen, warum vieles trotz Covid-19 wesentlich besser funktioniert hat. Fragen sollten wir uns dann aber auch: Warum braucht es eine solche Pandemie, um vieles zu überdenken, anders zu machen oder sogar zu beschleunigen?
Die Autoren:
Thomas Rinn verantwortet global das Geschäft mit Industrieunternehmen bei Accenture. Seine Klienten unterstützt er über das gesamte Leistungsportfolio. Dabei arbeitet er sowohl mit Großunternehmen als Mittelständlern daran, Digitalisierung ganzheitlich zu denken, umzusetzen und zu skalieren.
Jan-Marius Beilke ist Manager im Strategiebereich von Accenture und berät Maschinebau-Klienten im deutschsprachigen Raum.
Accenture ist ein weltweit tätiges Beratungsunternehmen mit 514.000 Mitarbeitenden weltweit, führend in Digitalisierung, Cloud und Security.