Der Wert nachhaltigen Handelns im breiten Geschäftsfeld der Lebenswissenschaften ist kaum zu überschätzen. Unternehmen der Pharmaindustrie, Medizintechnik, Biowissenschaften oder Gesundheitswirtschaft können immense Beiträge leisten zum Schutz der Umwelt, zur Verbesserung der Lebensqualität und zum Abbau sozialer Ungleichheit. Doch gelebte Nachhaltigkeit in Life Sciences bringt nicht nur gesellschaftlichen Fortschritt, sondern auch ökonomischen Nutzen, wie unser Marktüberblick zeigt.
Nachhaltigkeit zählt zu den höchsten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prioritäten unserer Zeit. International verbreitet unter dem Kürzel ESG (Environmental, Social, Governance) hat das Thema im Zuge von Klimawandel und knapper werdenden Ressourcen massiv an Momentum gewonnen – und prägt nun immer stärker das Handeln von Unternehmen und Investoren: Neun von zehn der 500 größten börsennotierten US-Unternehmen veröffentlichen inzwischen Berichte über ihre ESG-Engagements; Investitionen in Nachhaltigkeitsfonds stiegen in den drei Jahren seit 2018 von 5 Milliarden auf nahezu 70 Milliarden US-Dollar.
Im Sektor der Lebenswissenschaften (Life Sciences) war Nachhaltigkeit bereits ein Thema, lange bevor es zum globalen Trend wurde. Doch die Erwartungen steigen. Denn nicht nur Investoren, sondern auch Versicherte, Beschäftigte, Regulatoren und Öffentlichkeit fordern – zusätzlich befeuert durch die Corona-Pandemie – immer stärker nachhaltiges Wirtschaften ein: Versicherte erwarten Fortschritte bei der Behandlung von Volkskrankheiten und in der flächendeckenden Versorgung. Fachkräfte, vor allem die jüngeren, wählen ihre Arbeitgeber zunehmend nach Sozial- und Umweltkriterien aus. Und auf regulatorischer Seite legen ambitionierte EU-Ziele wie der „Green Deal“ sowie neue Reporting-Standards auf EU- und privatwirtschaftlicher Ebene – z.B. durch das International Sustainability Standards Board (ISSB) – die Latte immer höher. Kurz: Es gibt viel zu tun.
Branche kann Wertbeiträge in allen ESG-Dimensionen leisten
Die Besonderheit des Life-Sciences-Sektors: Nachhaltiges Handeln beschränkt sich hier nicht allein auf Initiativen zum Umwelt- und Klimaschutz. Es erstreckt sich über alle drei ESG-Dimensionen. Im Bereich Umwelt zählen dazu Maßnahmen zur Dekarbonisierung, klassisches Recycling, Energie- und Wassermanagement, aber auch der Erhalt von Biodiversität, beispielsweise durch die Beseitigung von Arzneimittelrückständen im Abwasser. Die soziale Dimension reicht von bestmöglicher Gesundheitsversorgung für alle über Innovationen in untererforschten Therapiegebieten bis hin zu verantwortlichem Wirtschaften. Und im Bereich Unternehmensführung geht es um nachhaltige Leitlinien und Strukturen, ethisches Handeln und ein transparentes Reporting. All diese Themen haben ihre eigenen Herausforderungen, bergen aber auch enorme Chancen.
Breites Maßnahmenspektrum im Bereich Umwelt
Wäre der globale Healthcare-Sektor ein Land, so fand die Nichtregierungsorganisation „Health Care Without Harm“ heraus, stünde er mit rund 4,5 Prozent an fünfter Stelle der größten Treibhausgasemittenten dieser Erde – noch vor der Luftfahrtindustrie (2 Prozent). Nicht zuletzt deshalb haben sich führende Life-Sciences-Unternehmen ehrgeizige Dekarbonisierungsziele gesetzt, darunter AstraZeneca und GlaxoSmith-Kline (GSK): Beide Unternehmen wollen bis 2030 klimaneutral werden. Bei GSK machen allein Dosier-Aerosole (u.a. Asthmasprays) fast die Hälfte der Emissionen aus. Dem begegnet der Pharmakonzern jetzt mit der Entwicklung eines Trockenpulver-Inhalators, der ohne Treibgas auskommt und so einen 24-fach geringeren CO2-Fußabdruck hinterlässt.
Allerdings fällt nur ein Zehntel aller klimaschädlichen Gase im eigenen Unternehmen an; der Löwenanteil von 90 Prozent entsteht nach Schätzungen der Non-Profit-Organisation Carbon Disclosure Project (CDP) in den Lieferketten. Diese „Scope-3“-Emissionen spürbar zu senken, wird eine Herkulesaufgabe sein – vor allem für die Lieferanten und Verarbeiter der Rohstoffe, die allein zwei Drittel der Emissionen entlang der Wertschöpfungskette ausmachen. Und Unternehmen stellen sich ihr: Roche z.B. übernimmt Verantwortung für seine Produkte über den gesamten Lebenszyklus und will deren Umweltauswirkungen binnen zehn Jahren halbieren (siehe S. 7 in diesem Special).
Neben der Dekarbonisierung bergen Initiativen zur Reduzierung von medizinischem Abfall großes Potenzial: McKinsey-Analysen zufolge produziert der Sektor mehr als 8 Millionen Tonnen pro Jahr; über die Hälfte davon (56 Prozent) landet auf den Müllhalden oder im Meer. Unternehmen wie Novo Nordisk setzen daher auf Kreislaufwirtschaft. Seit 2021 sammelt und zerlegt der Diabetes-Spezialist gebrauchte Insulin-Pens, aus deren Materialien später Bürostühle und Lampen gefertigt werden – 2023 will Novo Nordisk drei Millionen Pens aufbereiten. Die Initiative zeigt: Neue Nutzungswege und ein grundlegendes Re-Design von Produkten können wirksam helfen, den medizinischen Müllberg abzutragen.
Auch brancheninternes Recycling trägt viel zu einer nachhaltigen Gesundheitswirtschaft bei. So lässt sich medizinischer Kunststoff inzwischen so rein aufbereiten, dass er – unter Einhaltung der regulatorischen Vorgaben – in zahlreichen Geräten Wiederverwendung finden kann, von MRT-Systemen bis zu chirurgischen Schläuchen. Aber auch Einweg-Instrumente (Disposables) wirken ressourcenschonend, da energieaufwendige Sterilisationen ebenso wegfallen wie teure
Reparaturen.
Soziale Nachhaltigkeit mit dem stärksten Effekt
Während Umwelt- und Klimaschutz auf der Agenda fast aller Industrien steht, sind Verbesserungen in der Nachhaltigkeitsdimension „Soziales“ wohl das größte Pfund, mit dem der Life-Sciences-Sektor wuchern kann. Bereits kurz nach der Entdeckung von HIV vor rund 40 Jahren brachte die Pharmaindustrie erste Medikamente auf den Markt, mit denen Infizierte weltweit behandelt werden konnten – auch die mittellosen. Ein einzigartiger Vorstoß hin zu einer allgemein zugänglichen Gesundheitsversorgung.
Inzwischen beinhaltet der gerechte Zugang (equitable access) zu Medizinprodukten und Behandlungen neben der Finanzierbarkeit für Patienten auch medizinische Aufklärung, geografische Verfügbarkeit sowie das Schließen von Therapielücken. Dieser umfassende Zugang ist indessen noch nicht überall gewährt. Laut Access to Medicine Index besitzen bislang erst wenige Unternehmen hierzu eine ganzheitliche Strategie. Doch es gibt viele neue Initiativen.
Einige Beispiele: Bayer versorgt derzeit 44 Millionen Frauen in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen jährlich mit Kontrazeptiva zu erschwinglichen Preisen – bis 2030 sollen es 100 Millionen sein (siehe S. 4 in diesem Special). Johnson & Johnson verschafft 550.000 Lungenkranken in 130 einkommensschwachen Regionen Zugang zu Tuberkulosemedikamenten. AstraZeneca erreicht mit seinen Programmen „Healthy Heart“, „Healthy Lung“ und „Young Health“ bereits 31 Millionen Menschen. Und BioNTech produziert seinen mRNA-Impfstoff gleich vor Ort in Afrika und verknüpft so Nachhaltigkeit mit kommerziellem Nutzen.
Weitere Versorgungslücken lassen sich schließen durch die Optimierung bestehender Therapien auf Basis von Datenanalysen sowie durch die Erforschung wichtiger, aber bislang kaum erschlossener Therapiegebiete. Hier gibt es noch Handlungsfelder für die Branche. Derzeit widmet sich die Pharmaforschung lediglich zu einem Fünftel den Krankheiten, die von der Weltgesundheitsorganisation als vorrangig eingestuft werden.
Neben globalen Forschungs- und Behandlungsinitiativen zählen Diversität und Inklusion zum großen „S“ nachhaltiger Gesundheitsversorgung. Dentsply Sirona etwa hat den „Smart Integration Award“ ins Leben gerufen, um Frauen in der Zahnmedizin auszuzeichnen, die mit innovativen Produktlösungen die Behandlungsqualität verbessern (siehe S. 6 in diesem Special). Qunomedical wiederum setzt Technologie für eine nachhaltigere Patientenbetreuung ein. Mit seiner Software Qunosuite, die für Gesundheitsdienstleister u.a. Arzttermine managt und Medikationslisten aktuell hält, trägt das Start-up zur Ressourcenschonung im Versorgungsalltag bei (siehe S. 8 in diesem Special).
Von solchen Engagements braucht es mehr. Digitalisierung und datenbasierte Tools sind dabei der entscheidende Türöffner zu einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung selbst über große Distanzen hinweg.
Engagements zum Wohle aller – gesellschaftlich und ökonomisch
Die Beispiele belegen: Der gesellschaftliche Wert von Innovationen im Bereich Life Sciences ist kaum zu überschätzen. Die Branche kann immense Beiträge leisten zur Ökologie, zur Verbesserung der Lebensqualität und zum Abbau sozialer Ungleichheit. Doch nachhaltiges Wirtschaften bringt für die Unternehmen auch handfeste ökonomische Vorteile, angefangen beim leichteren Zugang zu Kapital bis hin zu mehr Wachstum, geringeren Kosten und höherer Produktivität.
So liegen nach Berechnungen des Anlagespezialisten MSCI branchenübergreifend die Kapitalkosten für Unternehmen mit hohem ESG-Score bis zu 6 Prozent niedriger als für solche ohne nachhaltige Strategie, die Aktienrendite verbessert sich um 2,5 Prozentpunkte. Nachhaltige Unternehmen generieren nach McKinsey-Analysen zudem bis zu 20 Prozent mehr Wachstum, sparen bis zu 10 Prozent ihrer Kosten ein und profitieren von einer motivierten Belegschaft, deren Produktivität viermal höher ist als die von Wettbewerbern ohne ESG-Fokus.
Diese Chancen gilt es zu nutzen – durch die Entwicklung tragfähiger Geschäftsmodelle, die Nachhaltigkeit konsequent in den Mittelpunkt stellen, und entsprechende Partnerschaften entlang der Wertschöpfungskette.
ESG effektiv umsetzen
Um das eigene Unternehmen zu einem wirklich nachhaltigen zu machen, bedarf es aber noch mehr, nämlich einer tiefen Verankerung des ESG-Prinzips in der gesamten Organisation. Tatsächlich besteht der stärkste Nachholbedarf der Branche in der dritten ESG-Dimension, der Unternehmensführung. Das Thema Nachhaltigkeit hat es noch nicht überall bis ins Topmanagement geschafft – auch weil es oft an einer umfassenden Strategie fehlt, von der Materialbeschaffung bis zur nachhaltigen Positionierung des Unternehmens am Markt.
Daran gilt es ebenso zu arbeiten wie an der Transformation interner Prozesse und Arbeitskulturen: ESG-Teams sollten unternehmensweit etabliert werden, um den Wandel auf allen Ebenen zu orchestrieren. Beim Pharmaunternehmen Lilly beispielsweise schließen sich Beschäftigte bereichsübergreifend in selbstorganisierten Teams zusammen, um nachhaltige Themen zu adressieren (siehe S. 3 in diesem Special). Um die ESG-Erwartungen an allen Punkten zu erfüllen, sollten zudem die bestehenden Prozesse in Einkauf, Produktion und Vertrieb auf Nachhaltigkeit ausgerichtet und entsprechende Dateninfrastrukturen geschaffen werden. Gleiches gilt für das Berichtswesen und die Kommunikation mit Regulatoren und Ratingagenturen. Nicht zuletzt braucht es moderne Analysetools und (neben finanziellen) auch spezielle Metriken wie z.B. QALI zur Messung von Lebensqualität, um die Wirkung nachhaltiger Initiativen transparent und vergleichbar zu machen.
Viele Herausforderungen, zweifellos. Doch der Einsatz, den der Wandel erfordert, lohnt sich. Denn die positiven ökonomischen und gesellschaftlichen Effekte werden nicht bloß temporärer Natur sein, sondern dauerhaft – mit einem Wort: nachhaltig. Welche Maßnahmen Life-Sciences-Unternehmen auf dem Weg dorthin bereits ergreifen und welche Ziele sie dabei verfolgen, illustrieren die folgenden Beiträge in diesem Special.
Die Autoren:
Claudia von Hammerstein, Herausgeberin dieses Specials, ist Partnerin bei McKinsey & Company in Jakarta/Indonesien.
Dr. Martin Lösch, Herausgeber dieses Specials, ist Senior Partner im Stuttgarter Büro von
McKinsey & Company.
McKinsey & Company ist eine weltweit tätige Unternehmensberatung, die Klienten aus dem privaten, öffentlichen und sozialen Sektor dabei unterstützt, nachhaltiges, integratives Wachstum zu erzielen. Unsere Teams sind in mehr als 65 Ländern aktiv.