Nachhaltige Lieferketten bei Medikamenten sind sicherheits- und überlebensrelevant

Die sehr angespannte Liefersituation von Medikamenten ist ein Praxisbeispiel für die Bedeutung nachhaltiger Lieferketten. Bei Medikamenten geht es darum, Leid zu lindern und Tod zu verhindern. Kann Nachhaltigkeit helfen, neben einer verbesserten CO2-Bilanz auch die Versorgungssicherheit zu erhöhen?

Ein verregneter Tag im November. Ich sitze in einem Besprechungsraum des Gesundheitsministeriums eines Bundeslandes. Die Politik ist besorgt, dass die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten im kommenden Winter noch stärker gefährdet sein könnte. Verängstigte Bürger, verärgerte Apotheker und im schlimmsten Fall Menschen, die aufgrund mangelnder Versorgung sterben könnten. Das ist keine abstrakte Bedrohung. Es ist konkrete Realität in Deutschland. Der Vertreter des Ministeriums und ich diskutieren die Umsetzbarkeit von Ideen und inwiefern ein Bundesland hierbei unterstützen könnte. Über die Auswirkungen der Medikamentenversorgung auf die CO2-Bilanz sprechen wir nur am Rande. Dabei ist Nachhaltigkeit ein möglicher Schlüssel zur Erhöhung der Versorgungssicherheit in Deutschland und der EU.

Wir müssen die Resilienz unserer Gesellschaft erhöhen – Nach­haltigkeit ist ein Faktor zur Sicherstellung der Versorgung mit Medikamenten

Es gibt zwei wesentliche Einflussfaktoren auf die CO2-Bilanz von Medikamenten. Dies ist zum einen die Komplexität der Herstellung und zum anderen die Verpackung sowie der Transport bis zum Endverbraucher. Und hier verbinden sich die Fragen der Nachhaltigkeit und der Versorgungssicherheit in Deutschland bzw. der EU. Ein Großteil der Medikamente wird in China und Indien hergestellt. Sofern noch eine Produktion in der EU erfolgt, werden die Wirkstoffe überwiegend aus den genannten Ländern bezogen.

Abhängigkeit von Asien hat einen negativen Einfluss auf die CO2-Bilanz

Ein Grund für die Verlagerung der Pharmaproduktion nach China und Indien ist der hohe Kostendruck im deutschen Gesundheitssystem. Eine wirtschaftliche Herstellung für das deutsche Gesundheitswesen wird für viele Produkte immer schwieriger. Das Gesundheitssystem erwirkt teilweise Rabatte an die 100 Prozent. Dieser Kostendruck erzwingt eine Verlagerung der Produktion nach Asien. Grundsätzlich müssen wir Deutsche insbesondere China sehr dankbar sein. China ist bereit, diesen aus Deutschland stammenden Wunsch nach immer billigeren Arzneimitteln zu bedienen. Aber auch in China gibt es eine Kostenuntergrenze. Der Nachteil der Verlagerung nach Asien sind längere Transportwege und damit höhere transportbedingte CO2-Emissionen sowie eine reduzierte Versorgungssicherheit.

Ein möglicher Baustein zur Verbesserung der CO2-Bilanz der Medikamentenversorgung in Deutschland ist daher ein Preissystem, das die CO2-Emissionen berücksichtigt und somit die Wettbewerbsfähigkeit einer Produktion in der EU erhöht. Darüber hinaus müssen höhere Produktkosten aufgrund von Investitionen zur Verbesserung des CO2-Ausstoßes in die staatlich regulierte Preisfindung einfließen.

Der andere Einflussfaktor ist die Komplexität der Medikamentenherstellung und -verpackung. Von der Erforschung über die Zulassung bis hin zur Produktion stellen Behörden strenge Anforderungen. Diese betreffen die Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit eines Produktes. Im Rahmen der Zulassung werden neben den Wirkstoffquellen auch der Produktionsprozess, die Produktionseinrichtungen, der Herstellungsort und die Verpackung qualifiziert und zertifiziert.

Nachträgliche Änderungen im Produktionsprozess unterliegen hohen regulatorischen Änderungen

Danach sind Verbesserungen des Produktionsprozesses oder nachhaltigerer Verpackungen nur noch über eine Requalifizierung und unter Umständen einer Änderung der Zulassung möglich. Sofern es hier Optimierungspotenziale gäbe, sind diese nachträglich nur schwer zu realisieren. Grund hierfür ist die Komplexität der Medikamentenherstellung und das Risiko des Scheiterns einer Änderung. Medikamente reagieren sehr sensibel auf kleinste Abweichungen in der Produktion, und ein Teil der derzeitigen Lieferprobleme von Medikamenten resultiert gerade aus den komplexen Anforderungen an die Herstellung. Daher sollte das Optimierungspotenzial für die CO2-Bilanz eines Produktes möglichst schon in der Entwicklungsphase berücksichtigt werden. Jede Veränderung des Herstellungsprozesses ist riskant und aufwendig.

Um die CO2-Bilanz eines Medikaments zu verbessern, ist es daher zwingend erforderlich, den CO2-Impact eines Medikaments zu kennen. Wir haben mit diesem Prozess im Frühjahr 2022 gestartet. Wir waren der Überzeugung, dass wir mit unserem Konzept der Single Pill-Kombinationspräparate einen wertvollen Beitrag zur Ressourcenschonung leisten. Da wir bis zu drei Wirkstoffen in einer Tablette vereinen, können wir im besten Fall aus drei Medikamenten eines machen.

Wir haben sowohl den Produktionsprozess als auch die Anzahl der Verpackungen von drei auf eine reduziert. Den positiven Einfluss dieser Maßnahmen wollten wir belegen. Dabei stießen wir auf die erste Herausforderung: Es war schwierig, die richtigen Fachleute in Deutschland zu finden. Nach langer Suche gelang es uns schließlich, ein Expertenteam um den heutigen PwC-Partner Martin Neuhold zu finden. Diese unterstützten uns dann bei der Studie zur Messung des CO2-Impacts unserer Produkte im Vergleich zur Standardtherapie.

Die Nachhaltigkeitsbewertung ist von hoher Unsicherheit geprägt

Die zweite Herausforderung bestand darin, ein Verfahren zur CO2-Messung für alle unsere Produkte zu definieren. Für diese Art der Erfassung gibt es noch keine etablierten Standards. Das zeigt sich daran, dass damals nur für den Wirkstoff Ibuprofen der CO2-Impact direkt gemessen wurde. Dieses Berechnungsbeispiel dient nun als Referenz für alle anderen Arzneimittel, auch wenn sich deren Produktionsprozesse und Eigenschaften deutlich von Ibuprofen unterscheiden. Um Vergleichbarkeit innerhalb der Branche zu schaffen und eine ehrliche CO2-Berichterstattung zu ermöglichen, sollten Behörden, Industrie und Wirtschaftsprüfer ein standardisiertes Verfahren entwickeln.

Wir haben dieses Problem gelöst, indem wir die aus der Bewertung von Produktionsprozessen bekannten Komplexitätsfaktoren in unser CO2-Modell integriert haben. Mit dieser Studie konnten wir für viele unserer Produkte nachweisen, dass unsere Kombinationspräparate mit nur einer Tablette eine erhebliche CO2-Einsparung ermöglichen. Dieser Vorteil war so überzeugend, dass bereits einige große Krankenkassen Ärzte aktiv auf die Nachhaltigkeitsvorteile unserer Medikamente hingewiesen haben.

Der Autor:

Thomas Zimmermann ist CFO der APONTIS PHARMA AG. Dort verantwortet er neben dem Finanz- und IT-Bereich sowie Investor Relations auch das Thema ESG.

 

 

 

 

Die APONTIS PHARMA AG ist auf sogenannte „Single Pill“-Lösungen spezialisiert, bei denen mehrere Medikamentenwirkstoffe in einer einzigen Tablette kombiniert werden. Ein Beispiel ist eine Tablette, die Blutverdünner, Blutdrucksenker und Cholesterinsenker in einem Präparat vereint. Diese Strategie hilft, die Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu optimieren, Ereignisraten für unter anderem Schlaganfälle und Herzinfarkte deutlich zu reduzieren und damit Kosten für das Gesundheitssystem zu vermindern.