Mercks Weg von Process Mining zu Value Mining

Neu gewonnene Erkenntnisse und die funktionsübergreifende Zusammenarbeit in einem agilen Ansatz haben das Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck vom Process Mining zum Value Mining geführt. Mario Pellegrino und Verena Schwobe berichten von der Pilot-Implementierung im Unternehmensbereich Life Science.

Die SAP S4/HANA Transformation mit über 40 ERP-Systemen wird Merck in den drei
Unternehmensbereichen Healthcare, Life Science und Electronics noch lange begleiten. Letztes Jahr berichteten wir, wie Merck die junge, aber zunehmend etablierte Technologie Process Mining zu nutzen plante, um Systemprozesse zu analysieren, zu standardisieren und zu automatisieren (siehe ManagerWissen, Ad Special manager magazin Juni 2021). Die Crowd-Intelligence unserer Nutzer war zentraler Bestandteil unseres BPM-Ansatzes, der explizit kein vorab Prozess-Design vorsah.
Der Fokus der Implementierung lag auf der Unterstützung der Wachstumsstrategie Mercks. Daher wurde für den Piloten der Order-to-Cash-Prozess (O2C) in Life Science ausgewählt. Mit mehr als 300.000 Produkten und einem heterogenen Kundenstamm erstreckt sich der Prozess über Abteilungsgrenzen hinweg, von unserer Shared Service Organisation Merck Business Services (MBS) über Finanzfunktionen bis in einzelne Geschäftsfunktionen innerhalb des Businesses.
Wichtiges Ziel war, die Umsetzung des Piloten flexibel und agil zu gestalten, so dass ein Blueprint für ein nachhaltiges, erfolgreiches Operating Model entsteht. Es folgte der Aufbau eines Scrum-Teams bestehend aus Product Owner, Mitarbeitern unserer agilen Digitalisierungseinheit, IT, MBS und Life Science. Ausgestattet mit einer starken Eigenverantwortlichkeit sollte das Team aufzeigen, dass es sich durch Effizienzgewinne dauerhaft selbst tragen kann.
Ein korrektes Datenmodell in Mercks angepassten ERPs und der Abgleich zu den verfügbaren Process-Mining-Standardmodellen sind eine Grundvoraussetzung für den Erfolg – insbesondere für eine hohe Nutzerakzeptanz und -anwendung.

Schnelle erste Erkenntnisse

Innerhalb weniger Tage nach Aufbau des Datenmodells war es möglich, erste Erkenntnisse zu Ineffizienzen in O2C zu analysieren. Diese erfordern häufig lange Nacharbeiten aufgrund fehlender Stammdatenpflege. Fehlende oder falsche Kreditrahmen für unsere Kunden beeinflussen nachweislich die O2C-Durchlaufzeiten negativ. Gleichzeitig führen sie durch Verzögerung der avisierten Lieferzeiten zu Stornierungen von Bestellungen. Durch die neue Datenlage ergaben sich aber auch neue Fragestellungen.
Unser Forderungsmanagement wollte wissen, wie sich das Zahlungsverhalten ihrer Kunden im Zeitablauf verändert. Wann wird ein problemloser Kunde zu einem Risiko? Das Ordermanagement fragte, wie schnell die Kreditprüfung abläuft und wie lange es dauert, bis ein Kunde seinen Auftrag storniert, um ein Konkurrenzprodukt aufgrund der verzögerten Kreditprüfung zu kaufen. Wie (un-)zufrieden sind unsere Kunden mit der Einhaltung von Lieferterminen? Der agile Scrum-Ansatz ließ dem Team stets die Freiheit, direkt auf neue Fragen zu reagieren.
Die neuen prozessbasierten Dateneinblicke haben unsere ursprünglich geplante Herangehensweise stark verändert. Die Systemprozessanalyse ist weiterhin ein wichtiger Bestandteil, der Fokus hat sich jedoch hin zur Lösung von konkreten Fragestellungen durch die schnelle Verfügbarkeit von Daten verschoben und die Wertgenerierung im Prozess in den Vordergrund gerückt.
Innerhalb weniger Wochen konnten wir ohne ERP-Anpassungen Teilprozesse in O2C wie das Auftragsmanagement, die Zuordnung von Zahlungseingängen und das Forderungsmanagement mit dem Fokus auf Wertgenerierung durch Datentransparenz signifikant verbessern. Dies ermöglicht es, wichtige KPIs wie Sales, Days of Sales Outstanding (DSO), Cash-Flow oder den Net-Promoter-Score (NPS) zur Messung der Kundenzufriedenheit nachhaltig zu verbessern und deren Entwicklung zu überwachen.
Diese Herangehensweise über die Fragestellung, wie das Endprodukt des Prozesses über die oben genannten KPIs positiv beeinflusst werden kann, hat einen ganz klaren Wechsel des Fokus gebracht, von Process Mining hin zu Value Mining, und dabei alle Prozessverantwortlichen unter einem Ziel vereint. Damit gelang es dem Team des Pilotprojekts innerhalb von sechs Monaten eine Investitionsrentabilität von ca. 350 Prozent zu erzielen.

Auf dem Weg zur Skalierung

Sechs Erfolgsfaktoren sichern für Merck die Skalierung:

  • Getting the basics right. Aufbau und Validierung der Datenmodelle werden durch Systemarchitekten und Nutzer der jeweiligen Systeme eng begleitet, um das notwendige Vertrauen und die Richtigkeit der Prozessdarstellung zu gewährleisten. Das intuitive technische Design der Anwendung steht im Vordergrund und ebnet den Weg zum Self-Service.
  • Fix a process – not an issue. Auch wenn die Möglichkeit besteht, Einzelprobleme zu lösen, wird sich das Potenzial erst bei Analyse und Optimierung des gesamten Prozesses entfalten. Soentstehen Synergien, die in der Einzelbetrachtung des Problems nicht visibel werden.
  • Stakeholder Selection – open minded and value driven. Die Identifikation eines Bereichs mit hohem Veränderungswillen im Hinblick auf  Arbeitsweise, der Bereitschaft zur erhöhten Datennutzung bei der Entscheidungsfindung und dem Fokus auf die werttreibenden Maßnahmen hilft, die richtigen Entscheidungen für Value Mining zu priorisieren.
  • Agile delivery. Process Mining ist perfekt geeignet für Agilität. Die Implementierung benötigt einen Product Owner und ein Team mit der richtigen Seniorität und Erfahrung, um Prozesse und deren Endprodukt zu verstehen. Schnelle, wertorientierte (Re-)Priorisierung gemeinsam mit dem Fachbereich können für den Anwender zügig positive Effekte schaffen.
  • Enablement und Self-Service. Process Mining sollte keine Lösung für spezialisierte Anwender bleiben. Es ermöglicht datengetriebene Entscheidungen auf allen Ebenen eines Unternehmens. Es empfiehlt sich, das Dashboard-Design so aufzubauen, dass Benutzer ohne zentralen Support per Drag-and-Drop wichtige Kennzahlen in ihre Dashboards integrieren können.
  • Small, but capable Center of Excellence. Ein Center of Excellence bildet die Brücke zwischen der IT und dem Business und sichert die standardisierte Herangehensweise für die vorangehenden Punkte in der Skalierung. Das notwendige Know-how inkl. des Delivery Models sollte internalisiert werden, um externe Abhängigkeiten in einem angespannten Markt zu minimieren und die Value Generation zu sichern.

Die Skalierung des Piloten erfolgt durch Anbindung weiterer Systeme und Bereiche. Die Fokusprozesse liegen u.a. in den Bereichen Supply Chain Management, Demand Planning, Inventory Management und versprechen weitere signifikante Erfolgspotentiale.

Die Autoren:
Mario Pellegrino verantwortet in Mercks CFO Area das Thema Digital Strategy & Realization. In dieser Rolle setzt er agile Projekte zu Data & Analytics um.

 

 

 


Verena Schwobe
ist Product Owner Process Mining im Team von Mario Pellegrino. Ihr Fokus liegt auf der strategischen Transformation kritischer Business-Prozesse.