Kundenerlebnisse nehmen keine Rücksicht auf die IT

Die Versicherungsbranche steht unter Druck. Die technologische Evolution bietet immer neue Lösungen, die sich schneller im Markt platzieren und Standards für den Endkunden setzen. Um Schritt zu halten, sind erhebliche Aufwände in der IT erforderlich. Welche IT-Strategie spiegelt den Zeitgeist wider, und lohnen sich die Investitionen am Ende?

Das digitale Angebot hat sich in den letzten Jahren quer durch alle Branchen enorm gewandelt. Die Kunden gewöhnen sich an die kurzfristige Bereitstellung von Informationen, daran, Dinge nicht mehr zu besitzen, sondern zu leihen, oder an die Bequemlichkeit, Entscheidungen an Andere „outzusourcen“. Zum Beispiel wenn es darum geht, welche Banane in der Obst- und Gemüsekiste geliefert wird oder zu welcher Sportübung die Gesundheits-App rät. Der Kontakt zum Kunden wird vielfältiger und individueller. Die Industrie lernt sein Verhalten besser kennen und gewinnt immer mehr Daten.

Es ist nicht nur so, dass der Kunde an diesem Punkt innehält, sondern er ist auch immer mehr dazu bereit, für den erhöhten Komfort, das heißt echte Mehrwerte, seine eigenen Daten zur Verfügung zu stellen. Aktuell erleben wir dies durch die Öffnung der Schnittstellen durch PSD2. Nun haben alle Industrien – mit Zustimmung des Kunden – Einblick in seine Einnahmen und sein Ausgabeverhalten. Es liegen mehr Daten vor, die, richtig verarbeitet, echte Mehrwerte schaffen können. Beispielsweise wenn zur Fondspolice zusätzliche Zahlungen vorgenommen werden für den Fall, dass das Kunden-Bankkonto über einen definierten positiven Wert verfügt. Von zusätzlichen Vertriebschancen erst gar nicht zu sprechen. Insbesondere ergeben sich vermehrt Kundenkontaktpunkte, und die Trefferquote wird durch bedarfsgerechte und personalisierte Angebote deutlich erhöht.

Die Versicherer stehen dabei vor zwei Aufgaben: Auf der einen Seite müssen sie das digitale Grundgerüst für das eigene Unternehmen festigen, das heißt Automatisierung fördern und technische Stabilität erreichen. Auf der anderen Seite sind sie dazu aufgefordert, den sich verändernden Anforderungen der Kunden bewusst nachzukommen bzw. diese zu gestalten. Dabei geht es im ersten Schritt nicht nur um den vertrieblichen Erfolg, sondern auch um die laufende Interaktion mit dem Kunden; auch um daraus für weitere Situationen zu lernen und um sich vom Verkäufer und Regulierer zu einem Lebens- und Geschäftspartner der Kunden nachhaltig und sichtbar zu transformieren.  Beide Aufgaben treiben den Aufbau und die Entwicklung von Ökosystemen an.

Investition in Daten

Um den Kunden für digitale Versicherungs- Lösungen im Zuge der eigenen Interessen (z.B. Automatisierung) zu gewinnen, sind weitere Angebote zwingend und somit Schnittstellen zum Austausch von Daten erforderlich. Das ist heute oftmals aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich.

Die Versicherer stehen vor der Aufgabe, eine Lösung zu entwickeln, die zum einen eine Transparenz und Konsistenz der Kundendaten, zum anderen aber auch eine Dynamik ermöglicht, um künftige Veränderungen flexibel aufzugreifen.

Diese technologische Basisarbeit hat aber nicht nur das Ziel, Daten zentral anzubieten, sondern ermöglicht eine zentrale Lösung, um Daten zu pflegen – und muss dabei von verschiedenen Anwendergruppen (Innen- und Außendienst, Partner, Kunden) genutzt werden können. Das vernünftige Vorhalten von Daten und deren Pflege kann dabei nur die Pflicht sein.

Die Kür ist es, weitere Daten zu gewinnen. Um in den Erfahrungsaustausch mit dem Endkunden zu kommen und eine Partnerschaft mit ihm aufzubauen, müssen Services angeboten werden, die nicht zwingend in der Komfortzone der Versicherer liegen. Es sind Schnittstellen erforderlich, die perspektivisch ein zentrales Kunden-Ökosystem in der Produktwelt des Versicherers bilden. Umgekehrt sind Schnittstellen zu anderen bestehenden Ökosystemen zu schaffen, um den Kunden dort zu begegnen und Produkte und Services anzubieten.

Ob nun der konservative Versicherer mit Partnerschaften oder der situative und adaptive Versicherer und Dienstleister: Die Zukunft liegt in Ökosystemen. Bei den verschiedenen Möglichkeiten und einem sich verändernden Markt ist es wichtig, sich laufend der eigenen Strategie bewusst zu werden, um sich nicht zu verzetteln. Eine Orchestrierung des Ökosystems muss erreicht werden. Bei aller erforderlichen Kundenorientierung muss sich das gewählte Modell am Ende auch für den Versicherer rentieren.

Vernetzung als Vorteil für den Kunden

Die Veränderung, die der Weg in ein Ökosystem mit sich bringt, ist, dass sich die Versicherer von den klassischen Produkten hin zur Lösung der individuellen Kunden-Probleme orientieren. Die Versicherer lernen, Daten auf Wunsch des Kunden mit anderen Unternehmen digital und zeitnah zu teilen und dennoch Vorteile daraus zu ziehen. Über den Versicherer als Lebensbegleiter ist schon oft gesprochen worden. Jetzt wird er zur Realität. Der Kunde erhält konkrete Unterstützung durch digitale Angebote, die ihm zum Beispiel einen zentralen Überblick über seine Finanzen und seine Versicherungsprodukte gewähren. Erweitert wird das Angebot durch Empfehlungen und Schnittstellen zu vernetzten Angeboten, wie z.B. Gesundheits-Apps, Einkaufshilfen, Wohnungssuchen oder dem Lieblingsverein. Eine hochkomplexe, aber wirkungsvolle Orientierung an der Customer Journey.

Der Kunde genießt den Vorteil, dass sich digitale Lücken in seinem Ökosystem schließen. Er muss weniger suchen, er wird rechtzeitig gefunden. In Zukunft wird derjenige Anbieter den Kunden überzeugen, der nah dran ist und ihn in verschiedenen Lebenslagen und in kurzer Zeit unterstützt. Sei es durch passende Schnittstellen für die elektronische Steuererklärung oder die digitale Bereitstellung von Versicherungsdaten in Apps von Startups. Das betrifft somit Prozesse, die nicht zwangsweise zu Neugeschäft führen.

Nah am Kunden: Produkte und Dienstleistungen gebündelt in einem oder mehreren Ökosystemen (Quelle: adesso SE)

Das originäre Versicherungsprodukt rückt in den Hintergrund, die positive Customer Experience in den Fokus. Um hier on time vorne dabei zu sein, ist eine konsequente Kundenausrichtung von Daten auf Basis offener Standards notwendig. Die Kunden von heute haben die Erwartung, ganzheitlich verstanden, abgeholt und interaktiv eingebunden zu werden. Es gilt Motive, Lage und Persönlichkeit des Kunden zu erkennen und in der Ansprache und dem orchestrierten Gesamtprodukt zu berücksichtigen. Aus der Kombination der Bausteine:

  • ‚Understand me!‘ (Daten),
  • ‚Engage me!‘ (Relevanz),
  • ‚Work for me!‘ (Operative Exzellenz)
  • ‚Surprise me!‘ (Emotionale Begeisterung)

entsteht das, was als ‚The New Experience‘ bezeichnet werden kann.

Der Kunde wird den Unterschied wahrnehmen und sich für den Anbieter entscheiden, der ihm flexibel Lösungen ermöglicht und ihn im Alltag effektiv entlastet.

Der Autor:  Stefan Riedel führt als Vorstand den Geschäftsbereich Insurance der adesso SE und ist zudem verantwortlich für die adesso-Tochter adesso insurance solutions  GmbH, die das Produktgeschäft von adesso im Versicherungsbereich bündelt. Bevor er in den Vorstand der adesso SE berufen wurde, führte Stefan Riedel als Generalbevollmächtigter der IBM Deutschland GmbH den Versicherungsbereich – von 2011 bis 2017 zunächst als Vice President im deutschsprachigen Raum (DACH) und ab 2017 für Europa.