Bei der Digitalisierung sind Versicherungshäuser abgehängt, hieß es jahrelang. Prof. Dr. Fred Wagner, Inhaber des Lehrstuhls für Versicherungsbetriebslehre an der Universität Leipzig, zeigt im Gespräch mit Gunnar Tacke auf, wo die Hürden heute liegen, warum abgekapselte Innovationsprojekte mit und ohne InsurTechs nur Beruhigungspillen sind – und warum die Studierenden allen Grund zum Optimismus haben.
Herr Prof. Wagner, tun Versicherer in Sachen Digitalisierung heute genug?
Von der begrifflichen Bedeutung her ist Digitalisierung nichts anderes, als Datenformate – Zahlen, Audios oder sogar Gesichtsausdrücke – in eine digitale Form zu bringen. Das Ziel wäre es, diese Daten automatisiert zu gewinnen, zu verarbeiten und zu interpretieren.
Digitalisierung ist aber nicht nur eine Frage der Technologie, sie verändert aufgrund der neuen Kundenerwartungen nach Individualität, Flexiblität und einem Service in Echtzeit auch die Geschäftsmodelle. Flexibel heißt bei digitalisierten Anbietern etwa, dass die Menschen über eine Hausratversicherung nur noch das versichern, was sie gerade kaufen – für die Dauer, in der sie es nutzen wollen, statt mindestens für ein Jahr. Hier haben Versicherer noch viel zu tun.
Zu den ersten Anbietern solcher On-Demand- Versicherungen gehören auch InsurTechs, Start-ups auf Basis digitaler Technologien. Laufen sie den traditionellen Versicherern den Rang ab?
InsurTechs haben einen unfriedly Take-Over der Branche in Aussicht gestellt. Dazu ist es bislang nicht gekommen. Aber sie zeigen treffsicher, wo sich traditionelle Geschäftsmodelle zu ändern haben. Das dürfte eher evolutionär als disruptiv erfolgen. Dass Disruption noch kommt, ist nicht auszuschließen – nur vermutlich nicht von einem Einhorn. Für Player wie Amazon, die bereits groß und digitalisiert sind, die schon Kunden haben, will ich das nicht ausschließen.
Die Versicherer müssen sich ändern – und sie haben das nötige Geld dazu, die Kunden und den Vertrieb; sie können Regulierung und Risikotragung. Das alles haben sie den InsurTechs voraus. InsurTechs dagegen können schnell und agil vorgehen, nach Trial and Error; sie beherrschen Technologien und haben die passende Kultur. Daher können sich beide Seiten oft fruchtbar ergänzen.
Die Kultur der InsurTechs eignen sich auch traditionelle Versicherer an – häufig allerdings nur in abgekapselten Innovationseinheiten oder einzelnen Kooperationsprojekten mit Start-ups. Reicht das aus?
Nein, das reicht überhaupt nicht – auch wenn ich Initiativen schätze, die Start-ups Raum geben , sie fördern und fordern. Wer aber meint, damit wäre es getan, liegt völlig daneben. Das ist nur die Beruhigungspille „wir tun ja schon etwas“, obwohl man vielleicht kaum etwas tut und nur zuschaut – wenn man überhaupt zuschaut und nicht nur Geld gibt.
Die traditionelle Kultur gilt als die größte Hürde der Versicherer auf dem Weg zu einem effizienten Innovationsmanagement. Eine Kulturveränderung aber muss von der Unternehmensführung mitgetragen und im Unternehmen gelebt werden. Wenn Mitarbeiter aus innovativen Umgebungen wie Innovation-Hubs zurückkommen, brauchen sie die Möglichkeit, sich zu entfalten – zum Beispiel in agilen Projekten mit Scrum, Design Thinking Sprints und einer teamorientierten Arbeitskultur.
Wenn die Mitarbeiter allerdings aus solchen Workshops zurückkommen und wieder eingenordet werden, dann verpufft das. Man muss zahlreiche Keimzellen schaffen, um auch das normale Versichererleben jenseits der Innovationsteams zu verändern.
Mit der Digitalisierung wandelt sich das Berufsbild. Wie stark muss sich auch die Lehre verändern?
Die Grundlagen des Fachs Versicherungsmanagement bleiben erstmal gleich: Wir müssen weiterhin beherrschen, was Versicherungstechnik, was Risiko im Kollektiv und in der Zeit ist und wie Risiken kalkuliert werden. Aber die Dinge werden digital unterlegt und die Methoden beispielsweise der Unternehmensführung und des Innovationsmanagements ändern sich. Das Neue ist natürlich in die Qualifikation aufzunehmen – neue Methoden- und Digitalkompetenzen, Themen wie Big Data oder Data Analytics.
Wie weit fortgeschritten sind die Universitäten bei der Integration des Neuen?
Das ist unterschiedlich: Es gibt neue Lehrstühle, die fokussiert sind auf Digital- oder Innovationsmanagement. Es gibt traditionelle Institute, die haben den Knall noch nicht gehört und es gibt die Lehrstühle, die die neuen Entwicklungen beobachten, sie zu erklären und einzuordnen versuchen und sie weitertreiben. All das ist immer auch die Aufgabe von Wissenschaft.
Was raten Sie der Branche?
Offenheit für Veränderung, auch bei den Mitarbeitern: Selbst heute dispositive Arbeiten wie die des Aktuars können durch Künstliche Intelligenz in Zukunft teilweise ersetzt werden. Zugleich entstehen natürlich viele neue Aufgaben. Durch die Bereitschaft und Fähigkeit zu Veränderung birgt Digitalisierung große Chancen. Die Zuversicht, dabei eine Rolle spielen zu können, die müssen wir schaffen.
Erleben Sie diesen Optimismus bei Ihren Studenten?
Ja, denn sie sind in der qualifizierten Minderheit: Sie haben einen Demographie-Vorteil sowie einen Skill- und Qualifizierungsvorteil im Digitalen.
Es bewerben sich auch mehr und mehr die Unternehmen bei den jungen Menschen, nicht mehr nur sie um einen Job. Wer heute als junger Mensch aber in ein traditionelles Unternehmen ohne Digitalkompetenz geht, der verspielt seine Zukunft. Entsprechend kritisch sind sie: In unseren Diskussionen mit Vorständen aus der Praxis erlebe ich die Studierenden als Akteure, die die Vorstände challengen und hinterfragen.
Prof. Dr. Fred Wagner ist Inhaber des Lehrstuhls für Versicherungsbetriebslehre an der Universität Leipzig und Vorstand des dortigen Instituts für Versicherungswissenschaften. Als ein Meinungsführer der Branche hilft er nicht nur, aktuelle Entwicklungen einzuordnen, sondern nutzt sein umfangreiches Netzwerk in die Wirtschaft auch dafür, die Entwicklung der Branche aktiv mitzugestalten. Das geschieht mit unterschiedlichen Formaten, wie beispielsweise Innovationsmessen oder einem InsurHub für Versicherer und Startups.