Künstliche oder emotionale Intelligenz – wer vermittelt in Zukunft Versicherungen?

Schon seit Jahren wird der klassische Versicherungsvermittler – egal ob Makler, Mehrfachagent oder Ausschließlichkeitsvermittler – am Rande des Abgrunds gesehen. Mittlerweile wird orakelt, dass die künstliche Intelligenz bessere, weil personalisiertere Kundenerlebnisse schafft als der Vermittler. Aber wie sieht die Situation wirklich aus?

Zukünftig

2028. „Nach einem neunstündigen Webkonferenzmarathon signalisiert mir meine Google Glas, dass meine Biovitalwerte trotz des parallelen Workouts auf dem Peloton Indoor-CardioBike eine Pause empfehlen. Aus den alternativen Angeboten, die mir im Sichtfeld sogleich als passendes Entspannungsprogramm angezeigt werden, wähle ich einen virtuellen Waldspaziergang, während mir Siri meine neuen privaten Nachrichten vorliest. Die beste Nachricht, dass die Finanzierung meines Neubaus steht, rundet die Informationen ab.

Meine gute Laune teile ich schnell mit meiner Frau per Facetime. Siri fragt passend, ob wir die Gelegenheit nutzen wollen, um die bestätigte Finanzierung auch gegen alle uns betreffenden Risiken absichern wollen. Gekonnt werden wir durch einen geschickt gestaffelten Dialog navigiert. Das Angebot klingt plausibel und maßgeschneidert. Aber mein Bauchgefühl sagt nein, weil der Anbieter mit dem Schwager meiner besten Freundin einen kostspieligen Rechtsstreit führte. Herr Kaiser, der freundliche Versicherungsvermittler bietet mir noch am selben Abend einen kurzen Termin entweder per Videocall oder persönlich an. Am nächsten Morgen kann er, ausgehend von unserem individuellen Angebot, alle Bedenken ausräumen. Er wird sich persönlich für uns einsetzen, bevor es zu einer Auseinandersetzung zwischen uns und der Versicherung käme.“

Gegenwärtig

Die Digitalisierung hält mittlerweile Einzug in fast alle Lebensbereiche. Wir buchen Termine bei Ärzten per Smartphone, versenden Geld zu unseren Kindern am anderen Ende der Welt und authentifizieren uns bei jeder Gelegenheit mit dem Daumen und einem Lächeln in die Kamera. Wir fragen unser Auto nach empfehlenswerten Restaurants und vertrauen Sensoren die Überwachung unseres Eigenheims an.

Und dennoch – wichtige Entscheidungen sind immer noch meist unbewusst und intuitiv. Wenn das Bauchgefühl nicht stimmt, greifen wir nicht zu. Und je komplexer bzw. potentiell folgenschwerer eine Entscheidung ist, desto wichtiger ist die emotionale im Verhältnis zur rationalen Kognition.

Entwicklung des Versicherungsvertriebs

Auch die Versicherungswirtschaft steht vor der großen Herausforderung, Antworten auf die immer schneller entstehenden neuen Anforderungen der Kunden, das sich verändernde Verhalten und die damit verbundenen Erwartungen an Produkte, Services und Kommunikationswege (Touchpoints) zu finden. Die guten alten Produktgruppen Versicherung, Vorsorge und Vermögen aufgeteilt nach Sparten treten in den Hintergrund. Der Kontext der Beratung und des Verkaufs gewinnt an Bedeutung. Viele sprechen hier von Ökosystemen. Und Versicherer reagieren mit immer neuen Leistungsangeboten.

Gleichzeitig steht im Raum, der klassische Vermittler würde aufgrund der Automatisierung und Digitalisierung der Prozesse überflüssig. Aber ist diese Schlussfolgerung richtig?

Ein kurzer Blick in die zuletzt schwer gebeutelte Reisebranche zeigt viele Ähnlichkeiten. Reisebuchung online als Selfservice anzubieten, galt lange als undenkbar. LTUR, Booking. com und zuletzt auch Airbnb haben bewiesen, dass sich auch historisch gewachsene Branchen aufbrechen lassen. Und dennoch: Auch das klassische Reisebüro hat seine Rolle gefunden. Kunden mit Affinität für persönliche Beratungen oder dem Wunsch nach besonders exklusiven Destinationen nehmen gerne den zusätzlichen Service in Anspruch. Aber auch diese Reisebüros haben aufgerüstet: Das digitale Reisebüro ist vernetzt und setzt Technologien z.B. in der Suche, der Kommunikation, der Interaktion, der Präsentation und der Organisation gezielt ein.

Gerade in dieser Digitalisierung des Agenturbetriebs liegt der Schlüssel zu den entstehenden Ökosystemen. Versicherungsvermittler werden auch 2028 erfolgreich sein, wenn sie sich selbst bestmöglich integriert an die Kundenschnittstelle als Baustein in einer Kundenreise entlang der Kundenerwartungen setzen.

Erfolgsfaktoren sind u.a.

  • Kundendaten gezielt verwenden und ggf. anreichern, um den Kunden zu verstehen und seine Verhaltensmuster zu erkennen.
  • Den Kunden über die Wege und Arten ansprechen, die dieser als Touchpoint erwartet und zwar zum Zeitpunkt, wenn er es signalisiert.
  • Die Interaktion transparent und so einfach wie möglich gestalten, um den Kunden stets über den Status seines Anliegens informieren zu können.
  • Für komplexe Anliegen ein individuelles, maßgeschneidertes Leistungsangebot gestalten, und für einfache Anliegen möglichst standardisierte und einfache Produkte anbieten.
  • Künstliche Intelligenz selbst einsetzen, um Verhaltens- oder Entscheidungsmuster zu erkennen oder situativ-passende Handlungsempfehlungen zur Laufzeit am PoS zuzuspielen. Gerade dies erfordert, eigene Verhaltensmuster zu hinterfragen und mit neuen Impulsen besser auf Veränderungen zu adaptieren.

Künstliche Intelligenz und empathische Versicherungsvermittler ergänzen sich

Anstelle künstlich „herbeivisionierter“ Exitszenarien für die Vermittler zu Lasten rein digitaler Beratungsangebote (Chatbots, Avatare uvm.) lohnen sich Überlegungen in die Kombination beider Vertriebswege. Wenn sich der Vermittler die skizzierten Chancen der digitalen Möglichkeiten selbst erschließt und sich auf die komplexen Absicherungs- und Vorsorgelösungen mit erhöhtem emotionalem Involvement konzentriert, kann dieser daraus gestärkt hervorgehen. Ohne diese Veränderungsbereitschaft wird es sicherlich auf Dauer schwer, sich im enger werdenden Markt der klassischen Produkte im Wettbewerb zu behaupten. Die technologischen Bausteine sind bereits vorhanden und werden das Kundenverhalten nachhaltig prägen. Innovative, empathische Vermittler sind auch zukünftig gefragt.

Die Autoren:

Dr. Dirk Platz, Head of Insurance, verantwortet das Geschäftsfeld Versicherungen bei der adesso SE. Der promovierte Informatiker ist seit 1999 für die adesso SE tätig und hat über 20 Jahre Projekterfahrung im Kontext von Erst- und Rückversicherungen.

 

 

Jan Philipp Giese, Head of Consulting Insurance, verantwortet das Business Consulting im Geschäftsfeld Versicherungen bei der adesso SE. Seit fast 20 Jahren begleitet er schwerpunktmäßig Digitalisierungsprojekte im Versicherungsvertrieb.