Künstliche Intelligenz bringt Licht in die Dunkelverarbeitung

Viele Versicherer treiben die Digitalisierung voran und setzen zunehmend auf vollständig automatisierte Prozesse. Menschliche Eingriffe sind nicht mehr vorgesehen. Umso mehr kommt es jetzt auf eine verlässliche Prozessqualität an. Hierbei spielt Künstliche Intelligenz eine wichtige Rolle.

In immer mehr Bereichen werden Versicherungsanträge von der Antragstellung bis zum Versand des Versicherungsscheins vollautomatisch verarbeitet. Diese Prozesse laufen quasi im Dunkeln ab, sie können von menschlichen Sachbearbeitern weder verfolgt noch beeinflusst werden – was wiederum ganz eigene Herausforderungen mit sich bringt: Mit zunehmender Automatisierung geht der „gesunde Menschenverstand“ im Umgang mit Sonderfällen verloren. Auch die fehlende Nachvollziehbarkeit ist ein Problem.

Einen Beitrag zur Lösung können hier Verfahren der Künstlichen Intelligenz (KI) leisten. Sie sind in der Lage, Anomalien im Prozessablauf zu erkennen und so Licht in die Dunkelverarbeitung zu bringen. Die Anomalieerkennung hilft, bei komplexen automatisierten Versicherungsprozessen die Übersicht zu wahren. Zugleich ist sie ein guter Einstieg in die KI-Verfahren.

Künstlicher gesunder Menschenverstand

KI-Verfahren sind kompliziert. Hilfreich sind jedoch die folgenden fünf Daumenregeln, die sich immer wieder bestätigen. Die erste Regel: Daten sind Chancen. Versicherungen mit modernisierten Kundenportalen und BPM-Initiativen haben sich in den letzten Jahren implizit neue Datenschätze geschaffen, denn die Protokolle dieser Anwendungen sind oft von hoher Dichte und Relevanz, um die eigenen Geschäftsprozesse und Kunden besser zu verstehen. Gleichzeitig sind diese Prozessdaten zahlreich und schwer zugänglich – die Idee der Dunkelverarbeitung impliziert ja bereits, dass ein Prozess weniger manuelle Aufmerksamkeit erhält. Oft gilt das auch für seine Protokolle.

Anomalie-Erkennung ist ein guter Einstieg, um Transparenz zurückzugewinnen. Hier lernt ein KI-System zunächst, wie ein Geschäftsprozess üblicherweise agiert: Dauer und inhaltliche Ergebnisse der Schritte oder auch das Gesamtbild von Verträgen pro Region. Danach zeigt man dem System jeden neuen Fall und lässt es beurteilen, wie bekannt der Fall ihm vorkommt. In Summe ergibt sich eine Art künstlicher gesunder Menschenverstand: Sonderfälle, Veränderungen und auch Fehler im Prozess fallen durch ihren Anomalie-Wert auf.

Dass ein einzelner Wert eine Anomalie ausmacht, ist der am einfachsten zu verstehende Fall, den auch ein Mensch per Draufschauen entdecken kann. Die KI-Verfahren funktionieren auch für Sonderfälle, die erst durch das Zusammenspiel von zwei und mehr Faktoren zu einem Sonderfall werden, wie beispielsweise 10-jährige Führerschein-Besitzer etc. Dabei gilt die zweite Daumenregel: Eine Anomalieerkennung wird auch technische Datenqualitätsprobleme aufzeigen. Diese zu kennen ist eine gute Grundlage, bevor man sich anspruchsvolleren Verfahren mit Einzelfallentscheidungen zuwendet. Insbesondere ergänzen sich Anomalieerkennung und Einzelfallentscheidung auch: Wenn es schon ein Verfahren gibt, dass seltene und eigenartige Fälle aufzeigen kann, können diese an einer automatisierten Einzelfallentscheidung vorbeigeschleust werden. Diese wird weniger komplex ausfallen und so günstiger, präziser und auch besser nachvollziehbar sein.

Die Nachvollziehbarkeit des KI-Verfahrens selbst ist dabei nicht nur als abstrakter Anspruch aus der DSGVO relevant, sondern schon in der Projektsteuerung essenziell, denn es gilt auch die dritte Daumenregel: Wenn ein Machine­Learning eine Chance zum Schummeln bekommt, dann wird es sie finden und nutzen.

Eine gefundene Anomalie hilft zunächst wenig, solange nicht klar wird, welche Faktoren den Fall zu einer Anomalie machen. Führt ein Prozess ein neues Datenfeld ein, werden zunächst alle neuen Fälle mit diesem Feld als Anomalien erkannt, bis das Verfahren sich an die neue Normalität gewöhnt hat. Auch alle Test-Datensätze im Bestand werden Anomalien sein. Die Abnahme eines KI-Verfahrens wird aus diesem Grund immer mit neuen Daten erfolgen, die das Verfahren vorher nie gesehen hat. Auch das schützt aber nicht endgültig vor technisch richtigen aber fachlich irreführenden Ergebnissen. Es lohnt sich daher, sich gleich am Anfang einer KI-Initiative mit Erklärverfahren für Machine- Learning zu beschäftigen (Explainable AI oder auch XAI), um Medienkompetenz aufzubauen und erschummelte Lösungen zu entzaubern.

Der Mensch bleibt weiterhin notwendig

Das führt auch zur Daumenregel Nummer vier: Die KI­-Verfahren erweitern die Möglichkeiten von Analysten, ersetzen sie aber nicht. Menschen mit einem guten Verständnis für die eigenen Daten und Abläufe sind auch weiterhin zwingend notwendig, etwa um irreführende Schlussfolgerungen zu vermeiden und andererseits interessante Schlussfolgerungen weiterführen zu können. Oft ergeben sich aus Zwischenergebnissen sinnvolle Änderungsvorschläge für Eingabemasken, IT-Prozesse, Datenhaltung, Datenvalidierung oder das Machine Learning-Verfahren selbst. Es braucht folglich Analysten, die solche Chancen sehen und auf diesen Feldern mitreden können, um dann auch von allen Fundstücken des Machine Learning profitieren zu können. Ein Machine Learning kann durchaus als Beitrag zur Prozess-Qualitätssicherung betrieben werden. Niedrig hängende KI-Früchte gibt es vordergründig viele, und ihr Erfolg ist oft vorab schwer zu bewerten. Als Sparrings-Partner für automatisierte Prozesse fungieren Machine Learning-Ansätze aber planbar zuverlässig.

Schließlich stellt sich die Frage: Wie bringe ich einen KI­-Ansatz in die Produktion? Hier hilft die fünfte Daumenregel: Nutze das einfachstmögliche Verfahren. Einfache KI-Verfahren zur Regel- und Anomalie-Entdeckung gehen im Hype etwas unter. Die älteren Regel- und Entscheidungsbaum-Verfahren sind nicht nur einfach nachvollziehbar (was für die Inbetriebnahme ausschlaggebend sein kann), sondern liefern Ergebnisse, die sich auch mit dem DMN-Standard darstellen lassen. Process-Engines wie Camunda oder SoftProject können diese Entscheidungstabellen einfach einbinden. Ein Betrieb der „KI-Ergebnisse“ ist sofort möglich, ohne eine neue Infrastruktur zu schaffen. Auch sind die verbreiteten Process-Engines wichtig, um KI-Services geordnet ansteuern und deren Entscheidungen nachhalten zu können.

Die Erfahrungen mit diesen Verfahren zeigen, dass der KI-Begriff in Deutschland zu unrecht mystisch aufgeladen ist. Gerade in der Versicherungswirtschaft erweist sich der Einsatz der Künstlichen Intelligenz als sinnvoll und einfach möglich.

Der Autor: Dr. Frank Köhne ist Senior-­Berater der  viadee Unternehmensberatung AG und  steuert dort die Kompetenzbereiche  KI und Java­-Software­-Entwicklung.