KI im Gesundheitswesen

Künstliche Intelligenz (KI) ist seit der Veröffentlichung des Chatbots ChatGPT im November 2022 ein viel diskutiertes Thema. Auch in der Gesundheitsbranche sind Führungskräfte, Politiker und die breite Öffentlichkeit darauf aufmerksam geworden. Doch sind die versprochenen Möglichkeiten der KI grenzenlos? In diesem Special gehen wir der Frage nach, ob KI tatsächlich bahnbrechende Veränderungen in der Gesundheitsbranche mit sich bringt, ob der aktuelle Hype hält, was er verspricht, und welche Faktoren für die erfolgreiche Einführung von KI entscheidend sind.

Eine neue Ära beginnt

KI ist kein neues Phänomen. Der Begriff KI wurde bereits 1956 auf der Dartmouth-Konferenz geprägt. Während Menschen sich auf ihre Fähigkeiten und Erfahrungen stützen, werden KI-Modelle durch Algorithmen und Trainingsdaten geformt, um Aufgaben zu erfüllen, die normalerweise menschliche Intelligenz erfordern.

In den letzten sechs Jahrzehnten hat die KI den Sprung von der Fiktion in die Realität und von den Forschungslabors in den Alltag geschafft. Haupttreiber für die Verbreitung von KI ist die kontinuierlich steigende Leistungsfähigkeit moderner Prozessoren, die in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter exponentiell zunehmen wird.

Im Folgenden beschreiben wir, ob und wie KI auch im Gesundheitswesen sinnvoll eingesetzt werden kann. Die Beiträge der Co-Autoren zeigen anhand ausgewählter Beispiele, was heute schon möglich ist.

Pharmaunternehmen haben bereits um die Jahrtausendwende begonnen, KI gezielt in der Arzneimittelforschung einzusetzen. Neben der Forschung haben sich noch drei weitere Themenfelder herauskristallisiert, in denen KI zu disruptiven Veränderungen im Gesundheitswesen führen wird: Zum einen in der sehr aufwändigen Medikamentenentwicklung, zum anderen in der Verarbeitung von Patientendaten zur besseren Vorsorge, Behandlung und Heilung von Krankheiten und nicht zuletzt in der Informationsverarbeitung zur Unterstützung menschlicher Tätigkeiten.

Die Medikamentenforschung und -entwicklung

Traditionell dominierten lange Zeit die großen Pharmakonzerne die F&E-Landschaft – nur sie verfügten über ausreichende finanzielle und personelle Ressourcen. In den letzten zwei Jahrzehnten sind jedoch viele neue Akteure in diesen Markt eingetreten, darunter unzählige Biotech-Start-ups und High-Tech-Unternehmen, die KI nutzen, um die Pharmaforschung und Medizintechnik zu revolutionieren.

Insilico Medicine – Pionier in der Anwendung von generativer KI in der Medikamentenforschung – konnte beispielsweise ein mit Hilfe von KI entwickeltes Molekül in weniger als 30 Monaten in die klinische Studienphase bringen, verglichen mit einer üblichen Zeitspanne von 4 bis 6 Jahren für „traditionelle“ Entwicklungen. Isomorphic Labs nutzt die von DeepMind entwickelte AlphaFold-Technologie, um die räumliche Struktur von Proteinen sowie posttranslationale Modifikationen vorherzusagen und ermöglicht damit nicht nur ein wesentlich besseres Verständnis der menschlichen Biologie und damit auch der Entstehung von Krankheiten, sondern auch die erheblich beschleunigte Entwicklung neuer Medikamente.

Im Jahr 2013 wurden etwa 60 Arzneimittelkandidaten mithilfe von KI entwickelt. Zehn Jahre später, im Jahr 2023, ist diese Zahl auf 490 pro Jahr angestiegen. Durch die Weiterentwicklung der generativen KI und den Einsatz von Robotics wird der bisherige Trend in der Pharmaforschung reversiert – „Eroom’s law“ – das bisherige Damoklesschwert der Pharmaforschung wird zum „Moore’s law“ umgewandelt! (Eroom’s Gesetz beschreibt die Kostensteigerung in der Pharmaforschung trotz technologischen Fortschritts; Georg Moore hingegen beschreibt ein exponentielles Wachstum aufgrund von Erfahrung am Beispiel der technologischen Fortschritte bei integrierten Schaltkreisen).

Pioniere können sich bereits heute vorstellen, dass es durch die Kombination dieser innovativen Technologien mit der fortscheitenden Miniaturisierung und Automatisierung von Arbeitsabläufen in den nächsten 10 bis 15 Jahren möglich sein wird, Mini-Labs in Krankenhäusern einzurichten, die innerhalb weniger Stunden personalisierte Medikamente für Patienten entwickeln. Unternehmen aus dem Bereich der Zell- und Gentechnologie wie Lupagen und Orgenesis, beschreiten bereits diesen Weg, der die gesamte heutige Pharmabranche revolutionieren könnte.

Eine der aufwändigsten und risikoreichsten Phasen der Medikamentenentwicklung sind klinische Studien in den Phasen 1 bis 3, in denen die Wirksamkeit des Medikaments am Menschen untersucht wird. Die Erfolgswahrscheinlichkeit beim Durchlaufen dieser Phasen liegt bei weniger als 10%, die Kosten bei mehreren hundert Millionen Euro. Gerade in diesem Bereich verspricht die Anwendung von KI bahnbrechende Verbesserungen. So kann beispielsweise die richtige Auswahl der Patienten anhand von Biomarkern den Erfolg der Studie entscheidend beeinflussen. Deep 6 ist ein US-amerikanisches Unternehmen, das einen KI gestützten Algorithmus entwickelt hat, mit dem optimale Probanden identifiziert werden können. Dazu werden Millionen von Patientenakten, darunter auch „unstrukturierte“ Arztnotizen, in Echtzeit durchsucht. Deep 6 macht monatelange manuelle Datenvalidierung überflüssig, reduziert Risiken und beschleunigt damit klinische Studien um das bis zu Dreifachen. Auch deutsche Unternehmen arbeiten an der KI-gestützten Vorhersagbarkeit klinischer Studien, beispielweise bei Partex aus Frankfurt oder bei biotx.ai und Pheiron (beide aus Berlin). Ein weiteres Anwendungsbeispiel ist die Reduzierung der Probandenzahl – insbesondere in Phase 2 und 3 – durch sogenannte Digital Twins, die einen virtuellen Patienten darstellen und statistisch nicht von realen Patienten zu unterscheiden sind. Dadurch können die Kosten einer Studie um bis zu 30% reduziert werden.

Die Gesundheitsversorgung von Patienten

KI revolutioniert das gesamte Ökosystem des Gesundheitswesens, indem sie das gesamte Spektrum der Patientenbetreuung von der Prävention über die Diagnose von Krankheiten bis hin zur Behandlung und Nachsorge grundlegend verändert.

Die frühzeitige Erkennung von Krankheiten oder Krankheitsrisiken spielt im Gesundheitswesen, insbesondere auch vor dem Hintergrund stetig steigender Gesundheitskosten, eine immer größere Rolle. Berücksichtigt man, dass fast 70% der Gesundheitsrisiken auf soziale, geographische und personenbezogene Faktoren begründet sind, wird in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung sogenannter „real world evidence“ (RWE) Daten deutlich. Immer mehr Unternehmen haben dies erkannt und entwickeln Lösungen zur Erfassung und Verarbeitung solcher Daten. Mit sogenannten wearables, wie Armbändern oder Smartwatches, können die Träger ihre eigenen Vital- und Umweltdaten, wie zum Beispiel Herzschlag, Kreislauf, Atmung, Geräuschpegel und Temperatur, messen und so die eigene Gesundheit überwachen. Alternative Anbieter haben sich insbesondere auf die Überwachung unseres Körpers während der Schlafphasen spezialisiert. Entsprechende Produkte analysieren Schlafmuster, erkennen Schlafphasen und helfen, die Schlafqualität durch Anpassung der Schlafgewohnheiten langfristig zu verbessern. Neben der Gesundheitsvorsorge spielen bereits heute die Patientenaufklärung und -schulung eine große Rolle bei der Anwendung von KI im Gesundheitswesen. Apps wie „Ada Health“ und „Your.MD / Healthily“ bieten KI-gesteuerte Gesundheitsberatung und Informationsaufbereitung an, indem sie Nutzerdaten analysieren und basierend auf einer Symptom- und Krankheitsdatenbank personalisierte und medizinisch fundierte Auskünfte liefern.

In der Diagnostik ermöglicht der Einsatz von KI die schnellere, genauere und effizientere Erkennung von Krankheiten. KI-Systeme können große Mengen an medizinischen Daten – von bildgebenden Verfahren wie MRTs und Röntgenaufnahmen bis hin zu genetischen Informationen – analysieren, um Muster zu erkennen, die für das menschliche Auge unsichtbar sind. Diese Systeme lernen kontinuierlich dazu und verbessern ihre diagnostischen Fähigkeiten mit jedem neuen Datensatz. So können sie beispielsweise subtile Anomalien in Bildern identifizieren, die auf frühe Stadien von Krankheiten hinweisen, oder komplexe Zusammenhänge zwischen Symptomen und Erkrankungen herstellen, die bisher unentdeckt blieben. Ärztinnen und Ärzte sind dadurch in der Lage, personalisierte Behandlungspläne zu entwickeln und Krankheiten in einem Stadium zu behandeln, in dem noch gute Aussichten auf Heilung bestehen.

Eine Studie der American Medical Association, der größten Standesvertretung der Ärzte und Medizinstudenten in den USA, hat ergeben, dass bereits mehr als ein Drittel aller Ärzte in den USA KI-Lösungen zur Unterstützung bei der Diagnose und für administrative Tätigkeiten nutzen. Angesichts des Ärzte- und Fachkräftemangels im deutschen Gesundheitswesen wird diese Unterstützung auch hierzulande in Zukunft unverzichtbar sein.

Wie nutzt man erfolgreich KI-Technologie?

Die beschriebenen Entwicklungen markieren nur den Anfang einer neuen Ära. Innerhalb des nächsten Jahrzehnts könnten die großen Akteure von heute verschwunden und neue Unternehmen mit innovativen Lösungen an die Spitze gelangt sein. Wie wir wissen, sind sich viele Unternehmen der Life Science Industrie und der Gesundheitsbranche der transformativen Kraft der KI bewusst und haben bereits begonnen, diese Technologie zu nutzen. Doch die Identifizierung sinnvoller Anwendungsgebiete und die Nutzung von KI ist keine leichte Aufgabe. Maschinelles Lernen basiert auf Algorithmen, die aus Daten lernen, Muster erkennen und Vorhersagen treffen. Je mehr Daten sie verarbeiten, desto besser wird ihre Leistungsfähigkeit. Daraus ergeben sich vielfältige Herausforderungen:

  • Der Nutzen der KI-gestützten Datenverarbeitung hängt entscheidend von der Qualität der Daten ab. Die Datenquellen sind im Wesentlichen Patientendaten: klinische Daten (z.B. Bilder) und „Omics-Daten“ also Datensätze, die bei der gesamtheitlichen Charakterisierung aller Gene (Genomics), Lipide (Lipidomics), Metabolite (Metabolomics) oder Proteine (Proteomics) etc. generiert werden. Häufig liegen diese Daten nicht in der gewünschten Qualität vor. Zudem gibt es bisher keinen einheitlichen Standard für die Erfassung und Speicherung. Hier ist es mehr denn je notwendig, klare Richtlinien und Standards zu definieren. Darüber hinaus ist zu klären, wem diese Daten gehören und wie ein Austausch in anonymisierter Form möglich ist.
  • Die von einer KI-gestützten Software vorgeschlagene Lösung eines Problems ist nicht statisch, sondern unterliegt ständigen Anpassungen. Die bestehende Regulatorik in der Gesundheitsbranche basiert jedoch auf genau dieser Annahme – dass eine Software, die in der Diagnose und zur Behandlung von Patienten eingesetzt wird, vorhersehbare und konsistente Ergebnisse liefert. Obwohl es bereits Vorschläge für entsprechende Anpassungen der geltenden Richtlinien gibt, sind die grundlegenden Voraussetzungen für einen breiten Einsatz von KI in unserem Gesundheitssystem bisher nicht gegeben.

Letztlich wird die Korrektheit der Ergebnisse einer KI-Software nie 100% betragen – der Mensch bleibt im Gesundheitswesen immer die letzte Instanz bei der Entscheidung über Diagnosen und Behandlungsstrategien.

Fazit

Die Frage, ob KI auch auf das Gesundheitswesen einen signifikanten Einfluss hat und in Zukunft haben wird, kann ganz klar mit „JA“ beantwortet werden. Die nachfolgenden Beiträge unserer Co-Autoren zeigen eindrucksvoll, welche Chancen sich hier für die Branche und nicht zuletzt für unsere Gesellschaft ergeben. Kann man von Disruption sprechen? Auch diese Frage kann in vielerlei Hinsicht mit „JA“ beantwortet werden. Das Erkennen der damit verbundenen Chancen und Möglichkeiten ist der erste Schritt, den alle Beteiligten gehen müssen. Entscheidend wird jedoch sein, mit welcher Überzeugung die Implementierung und Weiterentwicklung von KI vorangetrieben und wie schnell sich die Gesellschaft und auch die Gesetzgebung darauf einlassen werden.

Wie bei jeder Transformation werden wir einen evolutionären Prozess durchlaufen, der Gewinner und Verlierer hervorbringt und der, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr aufzuhalten ist.

Das Autorenteam:

Klaus Ort ist Partner bei EY und Leiter des Industrie­segments Life Science & Health in Europa. In dieser Rolle berät er gemeinsam mit seinem Team entlang der gesamten Wertschöpfungskette der ­Gesundheitsbranche –
angefangen bei forschenden Pharma- und Biotech-Unternehmen über Krankenhäuser bis hin zu Krankenversicherungen.

 

 

Dr. Markus von Minden ist Partner im Düsseldorfer Büro von EY-Parthenon Life Science Strategy. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt in der Entwicklung von Wachstumsstrategien für Pharma, Biopharma und MedTech Klienten sowie der Unterstützung von Transaktionen im Rahmen der Commercial Due Diligence und der vorgelagerten Suche nach attraktiven Akquisitionszielen.

 

 

Dr. Kordula Becker ist promovierte Biologin und Managerin bei EY. Im Bereich Markets und Business Development fokussiert sie sich auf den Life Science Sektor und legt dabei besonderes Augenmerk auf strategische Zukunftsthemen.