Intelligent Automation läutet die nächste Phase der Automatisierung ein. Es rücken nicht mehr nur relativ einfache, repetitive, transaktionale Prozesse in den Fokus, sondern zunehmend komplexe Tätigkeiten und Entscheidungsprozesse, die kognitive Fähigkeiten verlangen. Damit erweitern sich gerade in Zeiten einer weltweiten Krise für viele Unternehmen die Möglichkeiten, die eigenen Prozesse nachhaltig zukunftssicherer und weitgehend digital unterstützt zu gestalten.
Automatisierung ohne Grenzen?
Robotic Process Automation (RPA) ist nicht nur in aller Munde, es ist in einer großen Zahl der Unternehmen gelebte Realität. In der aktuellen Deloitte- Studie „Automation with Intelligence“ haben 78 Prozent aus über 400 Entscheidern angegeben, derartige Lösungen bereits im Einsatz zu haben; weitere 16 Prozent planen den Einsatz in den nächsten drei Jahren.
Robotic Process Automation stand in den vergangenen Jahren für eine relativ einfach zu imple
mentierende Software, mit deren Hilfe Prozesse mit hohem manuellem Aufwand und – im Idealfall – hohem Volumen und hoher Frequenz automatisiert werden konnten. Viele Unternehmen haben die Einfachheit und schnelle Umsetzbarkeit geschätzt, sind aber auch an Grenzen gestoßen, zum Beispiel bei:
- komplexen Schritten mit dem Bedarf nach kognitiven Fähigkeiten in den Prozessen,
- organisatorischen Problemen im Lifecycle Management und im Betrieb,
- mangelnde Top-Management-Unterstützung beim Rollout und bei der Erweiterung von Automatisierungsprogrammen, um nur einige zu nennen.
Nun geht es darum, die nächste Stufe der Automatisierung zu zünden und damit weitere erhebliche Potentiale zu realisieren.
Schwarmintelligenz führt zu Effizienz
Vor allem in den letzten ca. fünf Jahren haben diverse Unternehmen, von globalen Konzernen bis zu lokalen Champions, auf Automatisierung mittels RPA gesetzt. Mehr als drei Viertel der durch Deloitte Mitte 2020 befragten Unternehmen setzen RPA ein, ein wachsender Anteil erzielt bereits erhebliche Skaleneffekte.
Der Weg dorthin war nicht ohne Rückschläge und „Ruckler“, viele Unternehmen haben durch ihre Erfahrungen dazu beigetragen, dass die heute am Markt verfügbaren Produkte deutlich effizienter zu herausragenden Ergebnissen führen, als dies noch Mitte des vergangenen Jahrzehnts der Fall war. Der Bericht von Hapag-Lloyd auf der folgenden Seite zeigt, wie man in hoher Geschwindigkeit auf Basis der Erfahrungen anderer sein eigenes Center of Excellence für Automatisierung aufbauen und sogar in einer globalen Krise skalieren kann.
Auch diverse andere Unternehmen machen sich die Erfahrungen tausender anderer Unternehmen, der Software-Anbieter und verschiedener Dienstleister im Ökosystem zu Nutze, um als „Smart Follower“ schnell, effizient und mit einem teilweise spürbar höheren Return on Invest die eigene Automatisierungs-Reise in Angriff zu nehmen. Eine Konstante bleibt dabei: Erfolgreiche Automatisierung beginnt bei den Prozessen.
Massenhaft geeignete Prozesse
Es war nie eine Herausforderung, den oder die Pilotprozess(e) zu finden und einen ersten Proof of Concept für neue Technologien zu entwickeln. Intelligent Automation bildet hier keine Ausnahme. Dennoch sind die Prozesse für viele Unternehmen eine große Barriere auf dem Weg zum Erfolg.
Prozesse sind häufig fragmentiert, wenig standardisiert, erstrecken sich über diverse Abteilungen ohne klare Verantwortung und es ist schwer, einen Überblick zu gewinnen. Verschiedene Vorgehensweisen und technische Lösungen erlauben, Prozesse von Grund auf zu analysieren und damit die volle Wirkung von Automatisierungen zu entfalten, zum Beispiel:
- Deep Process Analytics erlaubt eine Analyse umfangreicher Prozessbeschreibungen auf Aufgaben-Ebene. Hierzu wird ein Natural Language Processing Algorithmus eingesetzt, der in kürzester Zeit tausende von Aufgabenbeschreibungen klassifizieren kann, um diejenigen mit dem höchsten Automatisierungspotential zu ermitteln und direkt in die Detailanalyse zu starten.
- Process & Task Mining eröffnen die Möglichkeit, die Prozesse zum einen im Überblick als auch auf der Detailebene zu verstehen, und zwar so, wie sie tatsächlich gelebt werden.
- Vergessen wir aber auch nicht, den Mehrwert von klassischen Prozess-Workshops, die nicht nur die Bewertung von potentiellen Automatisierungskandidaten ermöglichen, sondern einen wesentlichen Beitrag zum Change Management auf der Automatisierungsreise leisten und Akzeptanz schaffen.
Automatisierung skalieren
Neben dem „richtigen“ Blick auf die Prozesse gibt es weitere Barrieren einzureißen, um eine echte Skalierung eines Automatisierungsprogramms zu erreichen. In vielen Jahren der Projektarbeit haben wir sechs solcher Barrieren identifiziert:
- Mindset – über alle Hierarchie-Ebenen die nötige Begeisterung erzeugen
- Zielsetzungen – einen klaren Plan fassen, und diesen dann Schritt für Schritt umsetzen
- Nutzen-Fokussierung – nicht das technisch möglich, sondern das betriebswirtschaftlich Sinnvolle in den Vordergrund stellen
- Organisatorische Aufhängung – klare Verantwortlichkeiten und Zusammenarbeitsmodell
- Bereitschaft – nötige Fähigkeiten und Tools zur Verfügung stellen
- Momentum – durch Erfolge überzeugen und dann die Strategie konsequent umsetzen
Diese Aspekte lassen sich nicht „im stillen Kämmerlein“ erreichen. Eine enge Zusammenarbeit, insbesondere zwischen den Fachbereichen und der IT, ist essentiell. Anfänglich haben viele Unternehmen gedacht, RPA lasse sich ohne Zutun der IT umsetzen und Fachbereiche können schnell eigene Lösungen für ihre „Problemprozesse“ bauen. Die Erfahrungsberichte von Linde, DHL und Hapag-Lloyd auf den folgenden Seiten zeigen, dass all diese Erfolgsgeschichten von einer engen Zusammenarbeit geprägt und ohne diese nicht hätten realisiert werden können.
Ohne Struktur zu noch mehr Erfolgen
Lange Zeit wurde gebetsmühlenartig wiederholt, eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche RPA-Umsetzungen seien strukturierte Daten. Es ist auch richtig, dass ein RPA Bot ohne klar zu benennende und klar zu erkennende Felder quasi hilflos ist. Dies limitiert natürlich die Einsatzmöglichkeiten deutlich. Andererseits wird dadurch auch die Notwendigkeit deutlich, durch geschickte Kombination verschiedener Technologien, also „Intelligent Automation“ statt nur RPA-„Standalone“, deutlich mehr Prozessschritte automatisieren zu können. Somit kann auch die Interaktion mit Menschen – Kunden, Lieferanten und Mitarbeitern – in die Automatisierungen mit einbezogen werden. Mehr noch, viele Nutzer erwarten sogar, möglichst häufig auch die Möglichkeit zu erhalten, durch (teil-) automatisierte Prozesse deutlich schneller, effizienter und häufig mit einem konsistenteren Erlebnis bedient zu werden.
Der Beitrag von Artificial Solutions beschreibt beispielhaft auf, wie durch Chatbots und Voicebots die Kommunikation mit Kunden, Lieferanten und Mitarbeitern auf ein völlig anderes Niveau gehoben werden kann. Zu jeder Tages- und Nachtzeit, an Wochenenden und Feiertagen können Dialoge mit Bots geführt werden, die nicht nur in Datenbanken nachschlagen sondern in transaktionalen Systemen direkt Aktionen veranlassen können, und dabei ggfs. die RPA Bots „anstoßen“.
Automation Hero zeigt auf, wie die Bearbeitung von eingehenden Dokumenten erheblich beschleunigt werden kann, indem in einer Kombination aus Optical Character Recognition (OCR) und Machine Learning (ML) das Lesen, Verstehen und die Weiterverarbeitung von Dokumenten ermöglicht werden. Dies kann den Wirkungsgrad existierender und auch neuer Automatisierungen erheblich steigern, da der „Faktor Mensch“ aus diesen meist repetitiven Tätigkeiten weitgehend ausgenommen wird.
Ein Bot für jeden?
Seit mehreren Jahren ist von der Demokratisierung der Automatisierungen die Rede. Jeder Mitarbeiter soll in die Lage versetzt werden, seine eigenen Aktivitäten teilweise zu automatisieren, und diese „Alltagshelfer“ dann auch anderen Kollegen zur Verfügung zu stellen.
Nur bei einer kleinen Minderheit von Unternehmen hat sich diese „Attended Automation“ getaufte Möglichkeit bisher durchgesetzt und einen Mehrwert geschaffen. Dennoch kann das Streben nach Demokratisierung zu einer wichtigen Verbreitung der generellen Fähigkeiten rund um Automatisierung führen: der Blick für geeignete Prozesse wird bei einer Vielzahl von Mitarbeitern deutlich geschärft und das Einschätzungsvermögen, welche Prozessschritte automatisierbar sind, bzw. an welchen Stellen zusätzliche Technologien eingesetzt werden müssen, deutlich konkreter.
Generell bleibt festzustellen, dass die in den vorherigen Abschnitten aufgezeigten Optionen einen deutlich positiveren Einfluss entfalten als der Grundgedanke, die Produktivität eines jeden Mitarbeiters durch „Selbstautomatisierung“ zu erhöhen.
Mit viel Schub in die Cloud
Viele Unternehmen haben ihre ersten Gehversuche noch auf einem PC oder Notebook gemacht. Auf diese Weise ließen sich Pilotprozesse pragmatisch und schnell automatisieren und konnte die erste Begeisterungswelle im eigenen Haus losgetreten werden.
Inzwischen ist der Betrieb der Robots im eigenen Rechenzentrum oder in der privaten Unternehmenscloud Standard. So können die Automatisierungen optimal skaliert und gemanaged werden. Um an dieser Stelle die Effizienz sowohl des Betriebs als auch z.B. der Lizenznutzung noch weiter zu erhöhen, kommen mit Lösungen wie dem „MotherBot“ Automatisierungen zum Einsatz, die die Wartung und das Monitoring der Automatisierungsplattform selber automatisieren.
Anbieter wie UiPath, Artificial Solutions und Automation Hero bieten ihre Lösungen allesamt auch als gemanagte Cloud-Lösung an. Um beim Betrieb keinerlei Aufwände zu haben, ist sogar in vielen Fällen eine „Automation as a Service“- Variante denkbar, in der der gesamte Betrieb der Automatisierungen externalisiert wird.
Die Innovationsgeschwindigkeit im Intelligent Automation Ökosystem übersteigt weiterhin die Fähigkeit vieler Unternehmen, diese neuen Möglichkeiten umfänglich einzusetzen und damit zügig den möglichen Wert zu realisieren. Unternehmen haben hier große Chancen, durch gezielte Investitionen und bewusstes „Niederreißen“ der eingangs genannten Barrieren hohe Nutzenpotentiale zu erschließen.
Der Autor:
Peter Fach leitet als Partner bei Deloitte Deutschland den Bereich Intelligent Automation. Hier sind branchenübergreifend alle Aktivitäten rund um Robotic Process Automation, Conversational AI und weitere Automatisierungstechnologien gebündelt.
Zusätzlich verantwortet er das Geschäft mit Software-Lösungen als Head of Products & Assets.