Implikationen der Digitalisierung auf die Life Sciences Branche

Die Digitalisierung gewinnt für die Life Sciences Branche signifikant an Bedeutung und wird zunehmend in Gestalt von digitalen Roadmaps in der Geschäftsstrategie verankert. Ein fokussierter und auf den jeweiligen USP der Unternehmen ausgerichteter Digitalisierungsansatz ist dabei von zentraler Bedeutung. Neben funktionalen Bereichen wie R&D, Labor, Operations oder Marketing & Sales gilt es auch übergreifende Parameter (reguliertes Umfeld, Rolle der Mitarbeiter, Bedeutung von Daten) zu berücksichtigen. Eine One-size-fits-all-Lösung gibt es nicht. Digitale Transformation muss unternehmensspezifisch im Sinne eines „best-fits“ definiert und umgesetzt werden.

Die aktuelle Diskussion von Industrie-, Krankenkassenverbänden und Politik zeigt deutlich – das Thema Digitalisierung stellt für die Life Sciences Branche längst keinen kurzfristigen Trend mehr dar. Eine grundsätzliche Entscheidung hinsichtlich der Frage nach dem Ob ist konkreten Fragen nach dem Wie einer digitalen Transformation gewichen.

Die Betrachtung des Status quo zeigt allerdings eine ernüchternde Bilanz. Eine aktuelle Capgemini Studie zum digitalen Reifegrad *) unterschiedlicher Industriebranchen attestiert deutlichen Nachholbedarf im Bereich Life Sciences (vor allem pharmazeutische Industrie) und Manufacturing (Medizintechnik, Medical Devices).

Die Digitalisierung ist für die Branche gleichermaßen Chance wie Risiko. Ein zentraler Erfolgsfaktor ist die Fähigkeit der betroffenen Unternehmen, ihre Value Chain an die Gegebenheiten eines sich verändernden digitalen Marktumfeldes anzupassen.

Es gilt daher eine Antwort auf unterschiedliche Herausforderungen zu finden, um die aktuell zu beobachtende Verunsicherung und mitunter gefühlte Schockstarre zu überwinden.

Bei der Vielzahl digitaler Optionen darf die Digitalisierung nicht als „l’art pour l’art“ verstanden werden. Der Fokus sollte konsequent auf dem unternehmensbezogenen „best fit“ liegen – also jenen Maßnahmen, welche die digitale Transformation optimal mit der Gesamtstrategie der Organisation in Einklang bringt. Durch breit angelegte, nicht fokussierte digitale Initiativen wächst das Risiko, Optimierungseffekte (Effizienzsteigerung, Kosteneinsparung, Sicherheit, verbesserte Compliance etc.) nicht wie gewünscht realisieren zu können. Zentrale Werthebel sollten daher bei der (digitalen) Verstärkung von wettbewerbsdifferenzierenden Erfolgsfaktoren ansetzen. Auch ergeben sich durch die Digitalisierung vollkommen neue Servicemodelle (z. B. Anreicherung eines rein physischen Produktes durch digitale Services). Der Handlungsraum erstreckt sich dabei entlang der gesamten Wertschöpfungskette von R&D, Labor, Smart Operations, Supply Chain Management bis zu einem 360-Grad-Blick auf Kunden / Patienten. Zudem erfahren Wert und Nutzung von Daten einen erheblichen Bedeutungszuwachs.

Nachfolgend sind die vier wichtigsten Werthebel aus funktionaler Sicht beschrieben.

Werthebel 1: Research & Development

Der Bereich R&D stellt einen der besonders kostenintensiven wie gleichermaßen wertschöpfenden Bereiche der Life Science Value Chain dar. Umfang und  effizientes Management der R&D-Pipeline entscheiden erheblich über den zukünftigen Unternehmenserfolg. Zentrale Ansatzpunkte sind daher sowohl die konsequente Optimierung von Parametern wie time-to-market (schnellere Kommerzialisierung des IP, des Intellectual Property, also des geistigen Eigentums im Unternehmen), effizientere Durchführung von klinischen Studien, verbesserter ROI von R&D-Projekten (neue Moleküle, Produkte etc.) als auch die verbesserte Nutzung bestehender IP (durch Vernetzung von Forscherteams, Einsatz von IT im Rahmen von semantischer Suche, Ontologien etc.). Ein bisher vernachlässigtes Potential stellt zudem die Rückführung von originären Patientendaten (z. B. im Rahmen von Real World Evidence) in den  R&D-Bereich dar.

Werthebel 2: Digitales Labor

Labore (sowohl R&D als auch Test- und Freigabelabore) sind integraler Bestandteil der Life Science Value Chain. Bei der Kontrolle und Einhaltung von spezifizierten Qualitätsparametern zum Schutz des Patienten spielen Labore eine zentrale Rolle. Zur Sicherstellung dieses Qualitätsanspruchs entstehen jedoch erhebliche Kosten, vor allem in Form von Geräten, Anlagen und durch (hoch)qualifziertes Personal. Häufig wurden und werden Labore daher bisher als Kostentreiber und weniger als wertschöpfende funktionale Bereiche verstanden.

Im Rahmen der Digitalisierung bieten sich vor allem zwei grundsätzliche Stellhebel. Zum einen die bessere Einbindung von Laboren in die gesamte Wertschöpfungskette (z. B. durch Integration zwischen ERP, MES und LIMS / Laborgerätesoftware). Darüber hinaus durch Prozess- und Systemoptimierung auf der Mikroebene Labor. Hierbei spielen digitale Technologien zur Prozessführung, zur papierlosen Dokumentation und Freigabe sowie Lösungen im Bereich Augmented und Virtual Reality eine wesentliche Rolle.

Werthebel 3: Smart Operations

Im Bereich Operations entsteht nicht nur durch die eigentliche (Kern)produktfertigung ein wichtiger Wertbeitrag, vielmehr ist auch die Optimierung der Übergabeschnittstelle von R&D in Richtung Produktion (Scale Up) ein wichtiger Erfolgsfaktor. Zusammen mit einer ganzheitlichen Produktbetrachtung im Rahmen eines digitalen Product Lifecycle Managements (PLM) entstehen hier erhebliche Optimierungspotentiale. Darüber hinaus gewinnt auch die Vernetzung von Produktionsstandorten untereinander an Bedeutung.

Weitere Ansatzpunkte der digitalen Transformation sind zudem die Produktionsprozesse im engeren Sinne (z. B. verbesserte Steuerung des Materialflusses) als auch produktionsbegleitender Prozesse wie z. B. elektronische Betriebsdatenerfassung oder Chargendokumentation (EBR). Zur optimierten Anlagennutzen leisten Konzepte wie Digital Twin, Augmented und Virtual Reality zudem einen erheblichen Beitrag.

Werthebel 4: 360-Grad-Blick auf Kunden / Patienten

Besonders deutlich wirkt sich die Digitalisierung an der Schnittstelle in Richtung Kunde / Patient aus. Bisher bestand in der Regel ein eher „vermittelter“ Bezug zum Patienten. Im Gesamtökosystem stand zwischen den herstellenden Unternehmen immer mindestens der Arzt und Apotheker. Im Rahmen der (digitalen) Transformation wird nun ein direkterer und besserer Zugang zu den Patienten angestrebt. Dieser Zugang erfolgt sowohl auf emotionaler als auch auf Daten-Ebene. Technische Enabler wie Real World Evidence oder Digitale Patienten Ökosysteme zielen auf ein ganzheitliches Bild des Patienten ab. Ziele sind hierbei die Optimierung von Produkten durch Rückführung von Patientendaten, die Ermöglichung von ergebnis- und wirkungsbasierten Zahlungsmodellen oder individualisierter Patientenversorgung (also individualisierten und auf das Krankheitsbild abgestimmten Behandlungsoptionen) – dies vor allem im bei schwerwiegenden und/ oder chronischen Diagnosen.

Übergreifende Faktoren für eine erfolgreiche Transformation

Neben den beschriebenen vier zentralen, eher funktional orientierten Werthebeln gibt es übergreifende Faktoren, die ebenso für eine erfolgreiche digitale Transformation relevant sind. Stichworte sind hier: regulatorisches Umfeld, Daten, Mitarbeiter, Application Management und Infrastruktur sowie Kollaboration.

Regulatorisches Umfeld

Die gesamte Life Sciences Branche unterliegt einem komplexen und mitunter sehr heterogenen Katalog an regulatorischen Anforderungen (FDA, GAMP5 etc.). Dieser dient dem Schutz von Verbrauchern und Patienten, stellt jedoch gleichzeitig eine zusätzliche Komplexitätsschicht dar.

In der Konsequenz prallen oft digitale Paradigmen wie agile Methodik, „trial and error“ und „fail early“ auf etablierte Mechanismen wie „wasserfallorientierte“ Projektdurchführung, V-Modell und die Forderung nach einer durchgängigen (und meist statischen) Rückverfolgbarkeit zwischen (digitalen) Lösungen und zugrunde liegenden (Nutzer-) anforderungen aufeinander. Dies trägt in Summe zur Verunsicherung bei Projektentscheidungen im Umfeld der digitalen Transformation bei.

Daten („Data as an Asset“)

Im Unterschied zu anderen Industriesegmenten (z. B. Konsumgüterindustrie) ist das Wissen über den Kunden (d. h. Patienten) bei Unternehmen der Life Sciences Branche bisher eher schwach ausgeprägt. Dies liegt vor allem am bisher sehr mittelbaren Kontakt zu den Patienten. Im Rahmen der Digitalisierung gewinnen sowohl Patientendaten als auch deren Verwertung zunehmend an Bedeutung. Hierbei stellen sich sowohl Fragen im ethischen und legalen („wem gehören Patientendaten?“) als auch im kommerziellen Kontext („welcher Mehrwert kann durch Patientendaten erzielt werden?“).

Darüber hinaus erfahren Daten und der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) entlang der gesamten Life Sciences value chain einen erheblichen Bedeutungsgewinn (in den Bereichen R&D, Labor, Operations etc.). Ein wichtiger Erfolgsfaktor liegt dabei nicht nur in isolierten Datensätzen, sondern in der übergreifenden Verknüpfung von Daten und der Ableitung von Handlungsempfehlungen.

Mitarbeiter/ Qualifizierung

Ein kritischer Erfolgsfaktor für die Umsetzung einer digitalen Unternehmensagenda stellen die Mitarbeiter dar. Sie sind gleichermaßen Betroffene wie Gestaltende. Diese ambivalente Rolle muss konsistent aufgelöst werden. Es gilt die durch die Digitalisierung entstehenden Bedenken (von der Reduktion der Aufgabenvielfalt über die „digitale Überforderung“ bis hin zur Angst vor dem Arbeitsplatzverlust) proaktiv und realistisch zu adressieren. Ferner ist es erforderlich, frühzeitig das für die digitale Transformation relevante Skill-Set zu definieren und Mitarbeiter in notwendige Schulungs- und Change Management-Konzepte einzubinden.

Grundsätzlich ist von einer Erweiterung der bisherigen (Kern)kompetenzen (z.  B. Pharmazie, Chemie, Maschinenbau) um die Dimensionen IT, Kollaboration und Innovationsbereitschaft auszugehen. Besonders wichtig ist die frühe Integration von erfolgskritischen funktionalen Bereichen wie R&D, Operations, Marketing & Sales und Quality Assurance / Quality Management. Dies gilt umso mehr, da zentrale funktionale Rollen der Life Sciences Branche zwar erhebliche akademisch-fachliche Expertise umfassen, aber nicht immer das notwendige digitale Skill-Set.

Application Management und Infrastruktur

In Life Sciences Organisationen entsteht ein hoher Komplexitätsgrad im Bereich IT Applications. Die Ursache hierfür liegt in einer vergleichsweise kleinteiligen Applikationsstruktur (vor allem bestimmter Bereiche wie R&D und Labor), regulatorischen Anforderungen und der (oft gefühlte) Bedarf, individuelle Applikationen vorzuhalten. Diese Ausgangssituation lässt sich mitunter nur schwer den Effizienz- und Kostenreduktionszielen einer Applikationskonsolidierung unterordnen. Im Rahmen einer digitalen Transformation gilt es, durch die Harmonisierung und Standardisierung von Prozessen die Applikationskomplexität zu reduzieren und Synergien aus der Nutzung von einheitlichen (Software)plattformen zu ziehen. Dazu bieten sich besonders global relevante Systeme (wie z. B. LIMS, MES, CRM) an.

Im Bereich Infrastruktur wurden in der Vergangenheit Potentiale von Cloud-Strategien nicht oder nicht ausreichend genutzt. Hierbei standen neben teils technischen Limitationen vor allem Sicherheits- und Datenschutzbedenken bei Public Cloud-Lösungen im Vordergrund. Eine aktuelle digitale Agenda für Life Sciences Organisationen kommt ohne Cloud und Cybersecurity-Komponente nicht aus.

Kollaboration

Im Bereich Kollaboration gilt es zwei Dimensionen zu berücksichtigen: die Intra-Kollaboration und die Inter-Kollaboration.

Intra-Kollaboration: Die Fachbereiche Business und IT rücken noch konsequenter zusammen. Dieser Tatsache muss sowohl im Operating Modell bzw. in den Kollaborationsmodellen als auch in der Definition und Ausprägung von Rollen Rechnung getragen werden. Die relevanten Skill-Sets der Mitarbeiter ändern sich bzw. müssen neu justiert werden. Neben fachlich-funktionalen Fähigkeiten spielen sowohl IT-Kompetenz als auch Fähigkeiten im Bereich Change Management eine zunehmende Rolle.

Inter-Kollaboration: Die digitale Agenda umfasst ein komplexes Spektrum an Projekten und Aufgaben, die i. d. R. weder durch die betroffenen Unternehmen allein noch zusammen mit nur einem Partner (Consulting, Software etc.) umgesetzt werden zu können. Vielmehr gilt es ein Netzwerk an Partnern zu etablieren, die frühzeitig in die strategischen Ziele der Transformation eingebunden sind. So kann eine Digital-Agenda (Roadmap) gemeinsam definiert und anschließend synergetisch ausgeführt werden. Eine klare und transparente Abschätzung sowohl der unternehmenseigenen als auch der Fähigkeiten des Partnernetzwerkes ist dabei unerlässlich, um den jeweiligen Wertbeitrag der beteiligten Partner optimal zu nutzen.

Der Autor: Marcel Müller verantwortet bei Capgemini Deutschland das Marktsegment Life Sciences.  Er unterstützt seine Kunden bei der  erfolgreichen Gestaltung und Operationalisierung ihrer (digitalen) Strategie entlang ihrer gesamten Wertschöpfungskette. Er startete seine Karriere bei der STADA Arzneimittel AG, und ist seit 2012 im Bereich Management Consulting  mit Fokus auf Life Sciences tätig. 

Capgemini ist ein global führendes Beratungshaus mit Fokus auf Technology Services und Digitale Transformation. Capgemini ist dabei überzeugt, dass sowohl Technologie also auch Mitarbeiter zentrale Faktoren bei der Schaffung von Mehrwert für das Business sind. Capgemini verfügt weltweit über ein Team von 211.000 Consultants in mehr als in 40 Ländern.  Die Capgemini Gruppe erreichte 2018 global einen Umsatz von 13,8 Milliarden Euro.


*)  Quelle:

1. Capgemini Digital Transformation Institute, Smart Factory Survey, February­-March 2017,

2. Capgemini Digital Transformation Institute, Smart Factory Survey, Oktober 2019,

3.  Capgemini Digital Transformation Institute Analysis