Nicht nur die Natur, auch unser Geschäftsumfeld verändert sich dynamisch – und die Geschwindigkeit des Wandels nimmt unaufhaltsam zu. Darüber hinaus ermöglicht die Geschwindigkeit, mit der Daten erstellt, bewegt, analysiert und gespeichert werden können, Managern qualitativ hochwertigere Entscheidungen in kürzerer Zeit zu treffen. Dieser Umstand führt zu einer rascheren Veränderung von bestehenden Ökosystemen, im Vergleich zur Vergangenheit. Wo liegen hier die Chancen, wo die Risiken für deutsche Industrieunternehmen?
Entwicklung, Anpassungsfähigkeit und Digitalisierung
Um ihre digitale Zukunft zu sichern, müssen sich die Akteure weiterentwickeln, neue Fähigkeiten erlernen und neue Kernkompetenzen aufbauen. In vielen Fällen müssen sie ihre Unternehmens-DNA umstellen: von einem Produkt auf eine Dienstleistung, von der Kompetenz bei der skalierten Produktion auf die Fähigkeit, datengesteuerte Geschäftsmodelle einzusetzen und zu monetarisieren. Dies ist Risiko und Chance zugleich:
1. Größe. Ohne Wachstum kann ein Unternehmen nicht überleben, und mit der Zeit wird der Erfolg eines Unternehmens zu seiner größten Belastung. Die Unternehmen sind langsam, kompliziert und haben viele Hierarchieebenen aufgebaut. Die Optimierung und Spezialisierung im Laufe der Zeit macht es nicht flexibel genug für Veränderungen, Anpassungsfähigkeit und Innovation in neuen Geschäftsbereichen. Aus diesem Grund versuchen viele, anpassungsfähig zu bleiben und gleichzeitig zu wachsen. Sie schaffen spezielle Einheiten in der Hoffnung, das Kerngeschäft zu verändern. Im Jahr 2022 haben wir bei MANN+HUMMEL eine globale Digital-Hub-Struktur mit Standorten in Deutschland, Singapur, China und den USA geschaffen, um so eine kollaborative und agile Kultur zu fördern, die die Beschleunigung von Innovationen und Datenanalysen für Kunden rund um den Globus unterstützt. Die Hubs liegen strategisch günstig in der Nähe von Unternehmensstandorten, Start-Up-Acceleratoren und Universitäten.
2. Der Mangel an echtem Interesse an der Zusammenarbeit und am Aufbau von Partnerschaften. Unternehmen sind aktiver als je zuvor an der Gründung von und der aktiven Teilnahme an Kooperationen interessiert. Sie sind auf der Suche nach Best Practices, um sich durch einen Blick „über den Tellerrand“ inspirieren zu lassen. Nur selten geht es aber über diese sehr distanzierte Beziehung hinaus. Es ist schwierig und nicht üblich, den Schritt in eine engere Beziehung zu machen. Eine Beziehung, in der man von dem, was der andere hat, profitieren kann und umgekehrt. Sind die Unternehmen bereit, „ein Stück aus der Schatztruhe“ im Austausch für ein anderes zu geben?
3. Das Topmanagement. Die Aussage „Was dich hierher gebracht hat, wird dich nicht dorthin bringen!“ veranschaulicht die Situation sehr gut. Viele Jahre lang wurde das obere Management aufgrund seiner Erfahrungen und Leistungen im Fachgebiet des Unternehmens ausgewählt. Die Digitalisierung ist für diese Personen eine große Herausforderung, da sich Technologien schnell weiterentwickeln und neue Geschäftsmodelle eine Branche plötzlich umwälzen können. Was das Management im Laufe der Zeit gelernt und gemeistert hat, ist plötzlich kein Vorteil mehr. Das Management muss neu lernen, wie es sein Unternehmen führen kann.
Goliath muss David respektieren
Unternehmen wissen um zwei Dinge: Sie müssen innovativ sein (was sie verkaufen) und sie müssen ihre Abläufe und Prozesse neu erfinden (wie sie es tun). Die digitale Transformation ist der Treiber für beides. Marktführer wissen, dass sie Partnerschaften eingehen müssen. Sie wissen, dass ihre Kerntechnologie um Technologien ergänzt werden muss, über die sie nicht verfügen. Es würde einfach zu lange dauern und wäre zu kostspielig, sie selbst zu entwickeln.
In der Vergangenheit vollzog sich der Wandel einer Branche nur langsam – fast statisch (z.B. wie
man Autos baute und verkaufte). Etablierte Unternehmen hatten einen außerordentlichen Wettbewerbsvorteil in Bezug auf Wissen, Erfahrung und Größe. Heute haben neue Marktteilnehmer eine bessere Chance, ein Ökosystem zu stören oder umzukrempeln, da sie nicht die Größe und Sorge vor Verlusten großer Unternehmen teilen.
Wir sehen eine deutliche Zunahme an Corporate Venture Capital: Laut CBinsights sind die CVC-gestützten Finanzierungen von 2020 bis 2021 um 142 Prozent auf ein Allzeithoch von 169 Mrd. USD angestiegen. Bei MANN+HUMMEL waren wir anfangs sehr skeptisch, ob wir interessante Partner finden würden. Wir haben uns getäuscht. Heute haben wir ein Portfolio strategischer Investitionen, wir produzieren deren Produkte in unseren Werken, wir kaufen ihre Technologie oder verschaffen ihnen Zugang zu unseren globalen Märkten. Wir erfahren auch, wie diese Unternehmen geführt werden, und können beobachten, wie die erfolgreichsten Unternehmen Skalierbarkeit und Rentabilität erreichen und wie sie sich schnell und flexibel umstellen und anpassen.
Es ist nicht alles schlecht für große Unternehmen. Sie haben oft Vorteile, um die sie junge Unternehmen beneiden: Erfolgreiche multinationale Unternehmen verfügen oft über eine starke Marktpräsenz, eine gut etablierte Lieferkette, langfristige Kundenbeziehungen und starke Marken.
Welche Chancen hat ein deutsches Unternehmen?
Umgang mit geistigem Eigentum. Geistiges Eigentum wurde kreiert, um Investitionen in Forschung und Entwicklung zu schützen. Der Erfinder eines Patents konnte den Schutz und die ausschließliche Nutzung seiner Erfindung im Gegenzug für eine vollständige Offenlegung seiner Erfindung genießen. Wenn wir akzeptieren können, dass wir als Teil eines Ökosystems arbeiten und kooperieren, können wir unser Ökosystem vor anderen schützen und haben viel bessere Erfolgsaussichten.
Deutsche Unternehmen haben dank der Qualität ihrer Produkte, ihrer Präzision und ihrer Ingenieursleistungen eine große globale Präsenz und einen guten Ruf genossen. Die Welt verändert sich aber, wird digitaler – und die Stärken der deutschen Wirtschaft im Hinblick auf Qualität und Ingenieurswesen passen nicht mehr genau zu diesen veränderten Anforderungen an Agilität, Schnelligkeit, Minimum Viable Products ..
Glücklicherweise werden physische Produkte gebraucht und werden immer gebraucht werden. Wenn man zum Beispiel die Luft von Verunreinigungen befreien will, dann braucht man einen Filter. Darüber hinaus haben deutsche Unternehmen durch ihre Konstruktionsmethoden jahrzehntelang Konstruktions- und Produktionsdaten erstellt, gespeichert und geschützt. Diese großen und einzigartigen Datenbestände können nun extrahiert und analysiert werden und damit von großem Nutzen sein. Aus diesen Gründen glaube ich, dass deutsche Unternehmen in der Zukunft eine wichtige Rolle in einer digitalen Welt spielen werden. Dieser Erfolg hängt von ihrer Fähigkeit ab, die physische Welt mit der digitalen Welt zu verbinden.
Der Autor:
Charles Vaillant ist Chief Technology Officer und Chief Digital Officer der MANN+HUMMEL Gruppe. In dieser Funktion ist er verantwortlich für neue Technologien, Corporate Ventures Capital, Digital Ventures, Data Science und Analytics sowie für die Steuerung der digitalen Transformationsstrategie des Unternehmens.