Energiewende in der Krise?

Geopolitische Spannungen, explodierende Energiepreise, möglicher Gasmangel im Winter, stark steigende Inflation: Wie Unternehmen mit diesen Gefahren umgehen – und trotzdem die Transformation in Richtung mehr Nachhaltigkeit meistern.

Die Nachrichtenlage ist beunruhigend: Die Preise für Strom und Gas sind in den vergangenen Wochen und Monaten in Deutschland drastisch gestiegen. Hauptgrund für den Preisanstieg: Russland hat die Gasliefer-ungen an Deutschland im Zuge des Ukraine-Kriegs stark gedrosselt, die Inbetriebnahme der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 ausgesetzt und Anfang September die Gaslieferungen über Nord Stream 1 komplett gestoppt. Die Infrastruktur scheint auch physisch in einer Art beeinträchtigt, dass eine Wiederinbetriebnahme nicht ohne Weiteres möglich ist.

Gasnotfallplan auf Stufe zwei

Schon seit Juni 2022 ist die zweite von drei Stufen des Gasnotfallplans der Bundesregierung in Kraft. Ein Krisenteam aus Vertretern des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und der BNetzA plant bereits für den Fall, dass die dritte, die Notfallstufe, eintritt. Der Staat muss dann die Gasverteilung steuern, da der Markt den Bedarf nicht mehr decken kann. In diesem Fall würde die BNetzA vorrangig „geschützte Kunden“ versorgen – kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser, Polizei und Feuerwehr, aber auch Privathaushalte. Auf diese Gruppe entfallen rund 48 Prozent des Gas-Gesamtbedarfs (siehe Grafik).

Gasverteilung in Deutschland: Industriekunden sind im
Notfall nicht geschützt. Handelsblatt (Juni 2022), Quelle: vbw (2022)

Und wie steht es um Industrieunternehmen, die 36 Prozent des Gas-Gesamtvolumens nutzen? Sie sind nicht geschützt. Im Notfall verteilt die BNetzA das Gas an industrielle Großverbraucher nach Dringlichkeit, Anlagengrößen und Vorlaufzeit der Reduktion. Sie bewertet, welche volks- und betriebswirtschaftlichen Schäden zu erwarten sind, und sucht mit den Unternehmen nach Einsparmöglichkeiten. Das bedeutet, dass im Ernstfall regionale Engpässe drohen.

„REPowerEU“ bringt keine kurzfristige Entlastung

Das Risiko für Industriebetriebe, bei Ausruf der Notfallstufe kein Gas mehr geliefert zu bekommen, ist also groß – auch wenn die EU im März 2022 den Aktionsplan „REPowerEU“, basierend auf den Zielen des EU Green Deal und des Fit-for-55-Pakets, beschlossen hat, um vor allem unabhängiger von Gas-, Öl- und Kohlelieferungen aus Russland zu werden. Der Aktionsplan wird aber frühestens ab 2024 seine Wirkung entfalten – kurzfristig können sich Unternehmen nicht darauf verlassen. Sie sollten unbedingt jetzt schon ihren Gasverbrauch für jeden einzelnen Standort analysieren und wenn möglich reduzieren oder in bestimmten Zeiten ganz einstellen. Unternehmen sollten, wo immer möglich, auf andere Energieträger umstellen, um das Risiko von Produktionsunterbrechungen oder gar -ausfällen zu reduzieren.

H2 ist Hoffnungsträger Nummer eins

Zu größerer Unabhängigkeit von Gas soll unter anderem „grüner“, also aus erneuerbarer Energie erzeugter Wasserstoff (H2) wesentlich beitragen. Die mit ihm verbundenen Hoffnungen sind groß: Schließlich lässt er sich für viele industrielle Anwendungen einsetzen, vom Fahrzeug- und Turbinenantrieb bis hin zur Stromerzeugung. Mit Wasserstoff lassen sich zudem kohlenstoffarme Kraftstoffe oder Baustoffe wie Beton herstellen, auch eignet er sich als Speichermedium für erneuerbare Energien. Eine wettbewerbsfähige, verfügbare Alternative zu fossilen Energieträgern kann Wasserstoff durch den Umbau- und Aufbau erst etwa 2030 sein. Um an dem zu erwartenden Marktwachstum zu partizipieren, benötigen Unternehmen eine langfristige, ganzheitliche Wasserstoffstrategie, die Produktion, Transport und Lagerung gleichermaßen betrachtet.
In der energieintensiven Industrie ist das Potenzial für grünen Wasserstoff besonders groß, einzelne Unternehmen investieren bereits stark in die Technologie. Pilotprojekte bei Stahlkonzernen und mit Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen haben erste deutliche Schritte in Richtung einer klimaneutralen Stahlerzeugung gemacht; sie bemühen sich also, auch in der Schwerindustrie größeren Klimaschutz und größere Unabhängigkeit von Erdgas zu erreichen.
Gleichwohl stellt die Transformation hin zur Netto-Null nach wie vor viele Unternehmen vor große Herausforderungen. Die energieintensiven Industriezweige wie die chemische Industrie sind besonders betroffen: Auf die Herstellung chemischer Erzeugnisse entfielen im Jahr 2020 fast 30 Prozent der industriell verwendeten Energie, gefolgt von der Metallerzeugung und -bearbeitung mit mehr als 20 Prozent. Die geschilderte aktuelle geopolitische und gesamtwirtschaftliche Situation erhöht diese Spannungen noch einmal deutlich.
Dennoch stecken in der Energiewende neben den fraglos großen Herausforderungen mittel- und langfristig mindestens ebenso große Chancen. Denn wer sein Handeln schon heute glaubhaft und ganzheitlich auf Nachhaltigkeit ausrichtet, hebt sich positiv vom Wettbewerb ab und hat vor allem die Möglichkeit, neue Märkte zu erschließen.

Energiebeschaffung – die wichtigsten Fragen

Eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür ist eine Energiebeschaffungsstrategie, die zum jeweiligen Unternehmen, zur Branche und zum Standort passt. Unternehmen in Küstennähe etwa haben andere Ausgangsbedingungen als solche in Großstädten.
Einige der wichtigsten Fragen, die Unternehmen für sich beantworten müssen, lauten:

  • Produzieren wir rund um die Uhr oder können wir uns flexibel an sonnen- und windertragsreiche  Zeiten anpassen?
  • Wie ist die Preisentwicklung bei erneuerbaren Energien? Ist es sinnvoller, sich Preise langfristig zu sichern, oder sind variable Preise vorteilhafter?
  • Welchen Anteil an erneuerbaren Energien, wie viel CO2-Einsparung kann welcher Standort bis wann wie erreichen?
  • Wie groß ist die aktuelle, wie groß die potenzielle Leistung klimafreundlicher Technologien im Unternehmen?

Prozentuale Verteilung der Energieverwendung in Produktionsprozessen. Quelle:
Statistisches Bundesamt (Destatis), 2022

Energieversorger haben hohe Liquiditätsrisiken

Geht es um Versorgungssicherheit bei der Energie, stehen die Energieversorgungsunternehmen (EVUs) besonders im Fokus. Ihnen drohen große Liquiditätsrisiken, sowohl beim Einkauf als auch beim Verkauf von Energie. Denn Unternehmen, die Energieträger wie Kohle, Öl, Gas und Strom sowie Emissionszertifikate an den Terminbörsen handeln, müssen Sicherheitsleistungen – sogenannte Margins, eine Art Kaution – erbringen. Diese Margins steigen mit den Preisen, und zwar in der aktuellen Situation insbesondere für Stromerzeuger, die ihre künftige Produktion abgesichert haben. Steigen die Preise so stark wie in der letzten Zeit, sind auch die Margins entsprechend hoch. Und weil die Terminbörsen die Beträge als Sicherheit sofort einziehen, können die Margins EVUs in arge Liquiditätsprobleme bringen. Über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) unterstützt der Bund solche Unternehmen, die Energie an den Börsen handeln, finanziell durch Kredite.
Bei den Stadtwerken ist die Situation etwas anders: Sie handeln Energie größtenteils außerbörslich, sie müssen also weniger Sicherheitsleistungen an den Börsen hinterlegen. Allerdings verlangen auch im außerbörslichen Handel die Vertragspartner oft Sicherheiten, was die Liquidität von Stadtwerken beeinträchtigt. Zwar fordern bereits viele Politiker:innen speziell für sie einen Rettungsschirm, das BMWK hat sich dazu allerdings noch nicht eindeutig positioniert.
Hinzu kommt: Die rund 800 Stadtwerke in Deutschland sind eine nachgelagerte Netzstufe. Fallen vorgelagerte Stufen – beispielsweise die großen Gas einkaufenden Energieversorger – aus, bringt dies auch Stadtwerke in Not. Darüber hinaus können auch die hohen Wiederbeschaffungskosten für Energie Liquiditätsschwierigkeiten verursachen.
Liquiditätsrisiken bestehen auch beim Verkauf, also auf der Kundenseite. Wie wollen Unternehmen mit krisenbedingt zahlungsunfähigen oder säumigen Kunden umgehen? Und Engpässe können beispielsweise auch dadurch entstehen, dass Haushalts- und Gewerbekunden ihre Abschlagszahlungen, die nicht monatsscharf abgerechnet werden, noch nicht an das höhere Preisniveau angepasst haben.
Um solche Liquiditätsrisiken möglichst frühzeitig zu erkennen und zu adressieren, können Szenarioanalysen hilfreich sein. Mit ihnen schätzen Unternehmen ab, wie sich Energiepreise bzw. -verfügbarkeit auf sie selbst und ihre Kunden auswirken.

Staatliche Eingriffe in den Energiemarkt ja, aber nicht dauerhaft

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Ende Februar 2022 ging es im weiteren Verlauf des Jahres 2022 vor allem darum, die Energieversorgung in Deutschland zu sichern, größere Energieunabhängigkeit von Russland zu erreichen und zu diesem Zweck Energie stärker autark zu erzeugen. Die dafür erforderlichen Maßnahmen finanziert im Wesentlichen der Staat, zum Teil mit Umlagen auf die Bevölkerung.
Dies ist, einschließlich der staatlichen Eingriffe in den Energiemarkt sowie der staatlichen Beteiligung an Unternehmen, in Anbetracht der angespannten Situation notwendig. Nachvollziehbar ist auch, dass Politik und Öffentlichkeit wieder darüber diskutieren, vermehrt Energie aus Braun- und Steinkohle sowie aus Atomkraft einzusetzen, damit nicht die hohen Gaspreise allein den Strompreis bestimmen. Klar muss jedoch sein: Mittel- und langfristig gilt es, das Spannungsfeld zwischen Energiesicherheit, Energiekosten und wirtschaftlicher Stabilität zu entschärfen. Die Energiewende dauerhaft staatlich zu finanzieren, würde die Staatsverschuldung deutlich erhöhen und das Wirtschaftswachstum sowie die Wettbewerbsfähigkeit hemmen.

Wettbewerbsfähige Energiepreise sind essenziell

Um es deutlich zu sagen: Damit Deutschland auf globaler Ebene wettbewerbsfähig bleibt, müssen auch die Energiepreise wettbewerbsfähig sein. Diese werden zwar langfristig wieder unter das Spitzenniveau des Jahres 2022 sinken, aber dauerhaft zirka zwischen 25 und 45 Prozent über den Referenzpreisen von 2021 liegen, wie eine PwC-Analyse zeigt. Ein Mittel, den globalen Wettbewerb fairer zu gestalten, könnte die vieldiskutierte CO2-Importsteuer sein. Dabei würde eine Abgabe fällig auf Importe aus Ländern wie China und Indien, die weiterhin in großem Maße günstigere fossile Energie nutzen. Und noch einmal: Der auch hierzulande diskutierte Rückgriff auf Kohle als Energieträger zum Beispiel kann aus Klimaschutzgründen allenfalls eine zeitlich begrenzte Notlösung sein. Grundsätzlich braucht es für die Wettbewerbsfähigkeit sowie eine erfolgreiche Energiewende attraktive Rahmenbedingungen, damit privatwirtschaftliche Unternehmen die Energiewende mit Investitionen mitfinanzieren.
Für solch attraktive Rahmenbedingungen ist es erforderlich, das Energiemarktdesign anzupassen. Wie finden wir z. B. richtige Balance zwischen Marktflexibilität und Regulatorik? Wie binden wir Prosumer optimal in das Energiesystem ein? Wie lässt sich die Investitionsbereitschaft in die erneuerbare Energieerzeugung erhöhen – und wie lassen sich Technologie- und IT-Anpassungen sowie der Wasserstoffhochlauf konkret umsetzen? Fest steht: Das Potenzial für Wasserstoffspeicher, Geothermie und Windkraft in Deutschland ist immens. Bislang nutzen wir nur einen Bruchteil davon. Tun wir dies künftig deutlich intensiver, entlastet dies den Energiemarkt insgesamt. Die PwC-Energiemarktszenarien zeigen: Sind die erneuerbaren Energien stärker ausgebaut, sinkt dadurch auch das durchschnittliche Strompreisniveau.

Die Autoren:
Folker Trepte, Herausgeber dieses Specials, ist Partner und Leiter der Energiewirtschaft bei PwC Deutschland. Der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer leitet das globale PwC-Netzwerk
für Commodity Trading & Risk Management und das Netzwerk „Climate Change und Energy Transition“ bei PwC, ist Mitglied in diversen Fachausschüssen und Arbeitskreisen und vertritt PwC im Deutschen Nationalen Komitee des Weltenergierates (DNK).

 

 

Andree Simon Gerken ist Director im Bereich Energy Consulting bei PwC Deutschland. Als Ingenieur und Betriebswirt leitet er das Team für Transformation & Dekarbonisierung und berät die Energiewirtschaft und energieintensive Industrie bei der technischen Umstellung der Strom- und Wärmeproduktion sowie die damit verbundenen Anpassungen der Betriebs- und Vertriebsorganisationen. Darüber hinaus verantwortet er das energiewirtschaftliche Modellierungsteam für das PwC-Netzwerk in Europa und vertritt die PwC in der Arbeitsgemeinschaft Fernwärme (AGFW).