Eisberge unter kalifornischer Sonne

Der Benchmark für Versicherer ist heute das Silicon Valley. Reformen sind deshalb an der Tagesordnung. Nicht alle Häuser beherrschen jedoch die wichtigsten Disziplinen gleich gut.

Es wird wärmer – auch bei deutschen Versicherern. Ursache ist die warme Sonne, die aus dem fernen Kalifornien bis zu ihnen herüberscheint. Genauer gesagt ist es die transformative Wirkung jener Unternehmen, die in den letzten 15 Jahren im Silicon Valley entstanden und die heute die wertvollsten und einflussreichsten weltweit sind. Die Arbeitskonzepte und Denkweisen der Protagonisten im Silicon Valley umrunden die Welt.
Die Transformation zu digitalen und agilen Unternehmungen ist auch hierzulande zum alles bestimmenden Trend geworden. Mit dem Aufstieg der Digitalunternehmen wurde die materiallose Skalierbarkeit von Produkten zur Maxime. Aus dieser Perspektive ist die Versicherung als reines Dienstleistungsunternehmen grundsätzlich positiv prädestiniert.
Dem folgend ist ein logisches Ziel für Versicherer, digitale Versicherungspolicen und -schadenabwicklung herzustellen und die datenbasierte Sensitivität für Kundenbedürfnisse so entwickeln, dass ein entsprechender Wachstumseffekt eintritt. Viele Versicherer haben erkannt, dass digitale Produkte und die darin benötigte Liefer- und Anpassungsgeschwindigkeit vor allem durch agile Entwicklungsprozesse zu gewährleisten sind.
Es gibt allerdings auch Akteure, die dies bis heute skeptisch sehen. Wer sich konsequent als Digitalunternehmen der Zukunft aufstellt, wird seine bisherige Kultur und bisherigen Werte der neuen Unternehmensform anpassen und neue Kompetenzen entwickeln müssen. Im Zentrum stehen Offenheit, Mut und Vertrauen. Zudem gilt es eine sinnstiftende Antwort zu finden – eine Antwort auf die für das Silicon Valley zentralen Frage nach dem „why“. Erst sie ermöglicht es, Menschen – Kunden wie Mitarbeiter – emotional zu gewinnen und nachhaltig zu binden, erst sie gibt Orientierung für die Transformation.
Während die kalifornische Sonne immer stärker wärmt, ziehen Versicherer noch einen alten Eisberg aus drei sehr offensichtlichen Problemen mit sich:

  • IT-Landschaft – Versicherer haben typischerweise Kernsysteme in alten Host-Umgebungen. Diese zu verändern ist aufwendig und zäh. In diesen Umgebungen kommen sie an aufwendigen und wasserfallartigen Release-Prozessen oft kaum vorbei.
  • Organisation – Organisatorisch gehen die Häuser unterschiedlich große Reformschritte. In vielen Projekten beobachten wir vor allem hybrid-agile Vorgehensweisen und vereinzelte IT-Teams, die nach Scrum arbeiten. Um sie herum bestehen weiterhin pyramidenförmige Hierarchien, die nur langsam schmelzen und Unternehmensagilität verhindern.
  • Regulierung – Strikte Vorgaben reichen bis auf Prozess- und Projektvorgaben herunter und sprechen die klare Sprache der Hierarchie und Beständigkeit.

Insgesamt sind diese Handlungsfelder gut erkennbar als Teile dieses großen Eisbergs, der über die Wasseroberfläche ragt. Zugleich lässt sich beobachten, wie Host-Umgebungen zu cloudbasierten und KI-gestützten Systemen schmelzen. Wo dies bereits vollzogen ist, bilden sich leicht agile Arbeitsstrukturen. Selbst in der mächtigen und starren Regulatorik gibt es Ansätze zur Ausrichtung auf die neue Ära. AXA Deutschland fand sogar in der Revision einen Treiber für ihre Transformation.
Darüber hinaus finden sich unter der Wasseroberfläche, im eher versteckten Teil des Eisbergs, drei weitere kritische Themen:

  • Kultur und Werte – Der Wert der Sicherheit liegt bei Versicherern naturgemäß stark im Fokus. Planbarkeit und Effizienz sind zentrale Größen. Zudem vernehmen wir in vielen Häusern einen ausgeprägten Sinn für Tradition.
  • Kollaboration – Typische Handlungs- und Entscheidungsweisen folgen natürlicherweise der hierarchischen Ordnung. Tendenzen der Besitzstandswahrung und die Bildung von Kopfmonopolen sind noch immer sehr verbreitet.
  • Problemlösung – Bei steigender Komplexität werden klassische Problemlösungsstrategien zum Problem. Die detaillierte Suche nach Ursachen und der Versuch logischer Ableitungen führen meist zu horrenden Aufwänden und scheitern nicht selten am Versuch, zweidimensionale Lösungsstrukturen (in Excel-Tabellen) zu finden.

Hinsichtlich der Fähigkeit zu agiler Kollaboration und Problemlösung gab es in den vergangenen Jahren einige bemerkenswerte Weiterentwicklungen. Gute Beispiele bieten AXA Deutschland und Gothaer Versicherung, wie die folgenden Beiträge dieses Specials beschreiben. Andere Häuser versuchen sich häufig mit einem Mix aus klassischen und agilen Enablern – wirken dabei aber eher unentschieden.
Bei Versicherern mit hohen agilen Reifegraden werden Offenheit, Mut und Vertrauen zu zentralen Werten. Echte Agilität entsteht vor allem dann, wenn Teams schnell Entscheidungen erhalten. Gerade in agil-hybriden Organisationsformen sind die meist mehrstufigen Hierarchien allerdings zu langsam. Der Mut, als Team eigenständige Risiken einzugehen, bietet hier eine kurzfristige Überbrückung, kann aber keine dauerhafte Lösung sein. Das „why“ als wesentliches sinnstiftendes Element wird von den Versicherern selten durchgängig auf die Transformationsaktivitäten übertragen.
„Was hilft aller Sonnenaufgang, wenn wir nicht aufstehen?“, fragte schon der Naturforscher und Aufklärer Georg Lichtenberg. Der Aufbruch ins schmelzende Eis braucht Mut und Vertrauen. An den Führenden und Steuernden liegt es, zu allererst loszulassen, um damit Handlungsfreiheit und Eigenverantwortung zu ermöglichen. So sind alle motiviert, ihre Stärken einzubringen und zu verhindern, dass der Weg zum unkontrollierbaren Schicksal wird. Gute Wegweiser sind generische Landkarten wie Scaled Agile Framework (SAFe®) oder Large Scale Scrum (LeSS). Diese zeigen konsequente Agilität auf und geben vor allem organisatorische Orientierung. Für nachhaltige Erfolge sollte die Unternehmung jedoch unbedingt ihren individuellen Entdeckungspfad entwickeln und ihre Landkarte fortlaufend verbessern.
Die wichtigste Ausrüstung wird in den oben genannten Handlungsfeldern mitgegeben. Darin bemessen wir die Schmelzprozesse und kanalisieren die fortschreitende Entwicklung in klaren Aufgaben – organisiert als Objectices und Key Results (OKR).
Die Wärme Kaliforniens wird sogar für Liebhaber von Eisbergen zum Genuss, wenn alle Bereiche ihre Kompetenzen einbringen und von den Verbesserungen profitieren können. Von Produktentwicklung und IT über Vertragswesen, Schadenregulierung und HR bis zu Revision und Controlling.

Die Autorin:
Chantal Lourier, Herausgeberin dieses Specials, ist Lead Consultant für Transformation Management bei Neomatic. Sie ist seit 2014 im Versicherungsumfeld tätig, seit 2018 Beraterin und seither als IT-Projektmanagerin, Agile Coach und Trainerin im Einsatz.