Ein leidenschaftlich neugieriger CIO

Die Automobilindustrie ist geprägt von einer grundlegenden Transformation: Elektrifizierung, Digitalisierung, neue Geschäftsmodelle und der Wandel in den Lieferketten erfordern Strategien der Automobilindustrie, um die Wettbewerbsfähigkeiten zu halten. Bei sämtlichen Treibern kommt der Informationstechnologie eine besondere Bedeutung zu. Sie befähigt zu neuen Geschäfts- und Zusammenarbeitsmodellen.

Jan Brecht ist seit siebeneinhalb Jahren der CIO bei Mercedes-Benz. Er hat seine Organisation mit einer umfassenden Strategie auf die Transformation eingestellt. Die IT-Organisation hat sich bei Mercedes-Benz vom zuverlässigen Dienstleister zur unternehmensstrategisch relevanten Kernkompetenz entwickelt. Im Gespräch mit Dr. Yilmaz Alan (Ernst & Young) erläutert Brecht den Paradigmenwechsel in der Industrie und seine Strategie.
Alan: Herr Brecht, wir alle kennen die Herausforderung: der Betrieb muss laufen, parallel kommen Innovationen und neue Themen auf. Wie bleiben Sie persönlich auf dem neuesten Stand bei relevanten Entwicklungen?
Brecht: Durch Neugierde. Das vielleicht größte Privileg in meinem Job ist, dass ich ständig interessante Menschen treffe. Und ich glaube daran, dass man nicht immer nur Antworten geben, sondern vor allen Dingen auch Fragen stellen sollte. Das ist die Möglichkeit zu lernen.
Für Neugierde schaffen wir im Übrigen für unsere Mitarbeiter auch Freiräume. Sowohl in der AG über unsere Produktteams, auf die ich später noch zu sprechen komme. Aber auch bei unseren Tochtergesellschaften, beispielsweise der Mercedes-Benz Tech Innovation in Deutschland mit 1.500 Mitarbeitern.
Alan: Konkreter in Bezug auf Mercedes-Benz: Was sind aktuell die großen Herausforderungen, welche für die Branche und für Ihr Unternehmen relevant sind?
Brecht: Ich möchte das in vier Blöcken zusammenfassen. Erstens das Thema Dekarbonisierung/ Elektrifizierung, wo wir als Mercedes-Benz in der Industrie sicherlich eine der ambitioniertesten  Strategien haben. Das zweite ist die Digitalisierung, sowohl des Fahrzeuges, als auch des Unternehmens. Das dritte sind neue Geschäftsmodelle im Vertrieb. Hier beschäftigen wir uns intensiv mit dem Thema Direktvertrieb und Online-Vertrieb. Der vierte Treiber, den sich keiner ausgesucht hat, betrifft aber die ganze Industrie: Nämlich die Herausforderungen in den Lieferketten. Der weltweite Lieferengpass bei bestimmten Halbleiterkomponenten ist zwar schon deutlich besser, aber wir sind noch nicht völlig durch bei diesem Thema. Und es ist auch klar, Rohstoffknappheit, steigende Rohstoffpreise und Disruptionen in der Lieferkette werden diese Industrie noch lange begleiten.
Alan: Aus den angesprochen Themenblöcken geht natürlich hervor, dass die digitale Transformation eine ganz wesentliche Rolle spielt. Wie begegnen Sie als Mercedes-Benz IT diesem Phänomen und welche Rolle spielt Ihre Organisation dabei?
Brecht: Dafür haben wir uns genau diese Treiber als Grundlage genommen. Wir adressieren die digitale Transformation über vier sogenannte „Game Changer“. Nummer eins ist das, was wir Mercedes-Benz Omnichannel (MB.OC) nennen. Da geht es um das Geschäftsmodell Vertrieb und den direkten und vor allem auch digitalen Kontakt zum Kunden. Unsere Ambition dabei heißt „Fünf Klicks zum Kauf, drei Klicks zur Finanzierung“. Das hört sich zunächst so an, als würden wir über Frontendtechnologie sprechen, aber tatsächlich muss man das ganze Geschäftsmodell dahinter vereinfachen, um überhaupt fünf Klicks im Frontend zu erreichen.
Der zweite Game Changer ist das Thema Mercedes-Benz Operating System and End-to-End Software Journey (MB.OS). Durch die Software im Fahrzeug wird es möglich, neue Features zu verkaufen und so insbesondere im After-Sales zusätzliche Umsätze zu generieren. Das wiederum macht uns bei den Kunden attraktiver, weil wir bei bereits verkauften Fahrzeugen im Feld ständig neue Features „over-the-air“ bringen können.
Der dritte Game Changer Mercedes-Benz Customer Operations (MB.CO) adressiert die Volatilität der Lieferketten, geht aber weit darüber hinaus. Wir haben uns hier vorgenommen, dass wir datenbasiert besser vorhersagen können, was unsere Kundinnen und Kunden bestellen werden. Das wiederum macht uns besser für die Kunden, was Liefertreue und Lieferzeiten angeht und stabilisiert gleichzeitig deutlich die Lieferketten.
Den vierten Game Changer nennen wir Mercedes-Benz World of Digital Twins (MB.WT). Dabei geht es um den digitalen Zwilling von Fahrzeug und Fabrik. Der traditionelle Übergang von Entwicklung und Produktion wird dadurch überbrückt. Sprich, wenn Sie das digitale Abbild des Fahrzeuges haben, können Sie daraus im Idealfall auch sofort das digitale Abbild der Fabrik erzeugen. Gerade bei elektrischen Fahrzeugen kommt es auf Geschwindigkeit an (time-to-market). Mit den digitalen Zwillingen können wir die Entwicklungszeitleisten des Fahrzeugs und auch die Launchzeit der Fabrik deutlich verkürzen.
Alan: Wir sprechen hier also tatsächlich von grundlegenden Paradigmenwechseln. Wir reden aber auch von dem gänzlich neuen Einsatz von Technik, hin zu prädiktiven und antizipativen Systemen anstelle von reaktiven und transaktionalen Systemen. Welchen Herausforderungen begegnen Sie hier?
Brecht: Natürlich gibt es da technologische Fragestellungen, die aber in der Transformation oft recht leicht zu beantworten sind. Es gibt aber auf  die digitalen Herausforderungen andere Antworten, als auf die klassischen Herausforderungen. Das klassische Setup in der Automobilindustrie beruht auf dem Taylorismus des frühen 20. Jahrhunderts, also der Fließbandfertigung. Am Ende geht es darum, dass man große Arbeitsinhalte in kleine Scheiben runterbricht und diese dann in dieser Scheibe abarbeitet. Das ist aber nicht die Antwort auf die Herausforderung der Digitalisierung. Die Antwort darauf sind Ende-zu-Ende-Prozesse, Wissensketten und insbesondere Datenmodelle. Ende-zu-Ende-Prozesse sind zum einen eine Wissensfrage. Sie müssen wissen, wie sie mit Daten umgehen und wie sie, über die Organisationseinheit hinaus, die Kette betrachten. Es ist aber mehr als Wissen. Nennen Sie es Kultur oder auch Mindset. Nach 100 Jahren Taylorismus muss die gesamte Industrie deutlich dazulernen.
Alan: Gerade wenn Sie sagen, das Phänomen der Digitalisierung entfaltet dann sein Potenzial, wenn wir bereichsübergreifende Datenköpfe miteinander korrelieren lassen können. Dann spätestens aber stößt man an organisatorische Grenzen. Wie organisieren Sie die Offenheit zwischen den einzelnen Bereichen?
Brecht: Darüber haben wir intensiv nachgedacht. Die kurze Antwort heißt Produktorientierung. Und zwar Produkt nicht nur als Fahrzeuge verstehen, sondern auch als digitales Produkt. Wir reden hier von Projekt zu Produkt. Wir haben bisher in der IT sehr häufig – ich nenne es immer – Inputfaktoren gemessen. Zeitleisten, Budgets, was geht rein? Was aber eigentlich viel spannender ist, ist das, was herauskommt. Was ist der Business Impact? Deshalb glaube ich daran, dass man Kundenbedürfnisse nicht nur projektseitig, sondern als Produkt betrachten sollte. Ich rede nicht gern von Projektleitern, sondern von Product Ownern, die die vollumfängliche Verantwortung für das jeweilige Produkt haben. Ein Produktteam ist in fast allen Fällen cross-funktional besetzt, und zwar unabhängig von der existierenden Linienorganisation. Und in der Natur eines Produktes liegt es, sich am Markt durchzusetzen, was meine Product Owner oder auch Mini-CEOs, wie ich sie gerne nenne, als Ziel haben.

IT-Strategie: Transformation des Geschäfts mit gleichzeitiger Stärkung der IT als Basis. Quelle: Mercedes-Benz    

Alan: Die Automobilindustrie integriert zunehmend Technologien, die in anderen Industrien bereits seit längerem Einsatz finden – so zum Beispiel das Over-The-Air-Provisioning in der Telekommunikation. Welche speziellen Punkte müssen Sie hierbei beachten?
Brecht: Sie haben zum einen die Frage des Geschäftssystems, da der Einsatz der Technologien zur Erreichung unternehmerischer Ziele beitragen muss. Sie haben aber daneben in unserer Industrie vor allem die Frage der Zertifizierung und der Regulatorik. Fahrzeuge müssen in der jeweiligen Konfiguration einzeln zertifiziert werden, bevor sie in einen Markt eingeführt werden. Bei Mercedes-Benz reden wir hier von fast 200 Märkten, in denen wir unsere Fahrzeuge verkaufen. Jetzt stellen Sie sich vor, sie müssen das Auto nicht nur einmal zertifizieren lassen, wenn es in den Markt kommt, sondern sie müssen das jedes Mal machen, wenn sie über ein over-the-air Softwareupdate eine relevante Funktionalität des Fahrzeuges ändern. Und das kann in Zukunft im Extremfall jeden Tag sein.
Das ist eine der ganz interessanten transformatorischen Dimensionen, die es so in der Automobilindustrie noch nie gab, weil sie zukünftig die Hardware vollständig von der Software entkoppeln.
Alan: Können Sie mit ein paar Eckpunkten umreißen was die spezifischen Herausforderungen sind, die Sie für die Transformation Ihrer Organisation angehen müssen?
Brecht: Wir haben das in sieben Punkten in unserer Strategie spezifiziert. Die ersten drei zielen auf die Transformation des Geschäfts und die nächsten vier auf die Stärkung der IT-Organisation ab, um diese Transformation zu ermöglichen. Der erste Punkt bezieht sich auf die vier genannten Game Changer. Diese treiben wir voran im Sinne des Unternehmens.
Der zweite Block bezieht sich auf das Thema Daten. End-to-End-Datenketten, aber auch auf semantische Modelle, um tatsächlich Zusammenhänge herzustellen, die früher sehr, sehr schwierig abzubilden waren.
Das Dritte fassen wir unter Always-On zusammen. Da geht es aber natürlich nicht nur darum, dass die Server durchlaufen, sondern Always-On führt im Grunde in eine Echtzeitwelt. Das hatten sie vor 20 bis 30 Jahren noch überhaupt nicht. Da gab es Batches nur über Nacht.
Und dann haben wir vier Blöcke zur Stärkung der IT-Organisation. Das ist zum einen die schon angesprochene Initiative vom Projekt zum Produkt mit den Product Ownern.
Das Zweite nennen wir Technical Leadership. Da geht es vor allen Dingen darum, die Teams zu befähigen, die neuen Technologien ausprägen und beherrschen zu können.
Den dritten Block nennen wir Sovereign Territory. Das ist eine neue Betrachtung dessen, was wir inhouse machen und was wir nach extern outsourcen sollten. Was sind die Bereiche, in denen wir wirklich inhouse Kompetenz aufbauen wollen?
Und den letzten Block nennen wir Hand-in-Hand. Was sind Organisations- und Zusammenarbeitsmodelle, um in diesem Kontext erfolgreich zu sein? Hier geht es um die Überwindung von Silos.
Alan: Semantische Datenmodelle haben Sie gerade angesprochen und somit sind wir dann schnell im Themengebiet der künstlichen Intelligenz. Mit welchem Potential rechnen Sie?
Brecht: Semantische Datenmodelle sind bereits gut verstanden und ich glaube an das Potenzial. Warum? Weil semantische Datenmodelle ihnen Unternehmenszusammenhänge transparent machen und es abbildet, wie Datenpunkte zusammenhängen. Das halte ich für einen riesigen Schritt, denn eine reine Prozessbeschreibung bleibt immer im Ungefähren, egal wie präzise sie formuliert ist. Ein semantisches Datenmodell kann ähnliche Dinge abbilden und ich kann diese gegen eine Ja-Nein Entscheidung, eine boolesche Algebra, fahren lassen und dann weiß ich, ja oder nein. Eine Prozessbeschreibung hingegen ist immer nur ein vielleicht.
Die Technologie Künstliche Intelligenz ist natürlich eine Revolution, aber momentan schwer vom Hype zu trennen. Ich glaube aber schon daran, dass es einen großen Einfluss auf die Unternehmenswelt haben wird, vor allem für unsere Kundinnen und Kunden. Wir haben beispielsweise Ende März unseren Mercedes Virtual Assistant in Großbritannien gelauncht. Das ist ein KI-gestützter virtueller Assistent, der Kunden bei Fragen zu unseren Produkten und Dienstleistungen unterstützt. In Zukunft wird dieser auch bei Transaktionsprozesse, wie zum Beispiel der Buchung von Terminen, behilflich sein. Zum anderen bietet KI auch die Möglichkeit, im Unternehmen effizienter zu werden. Was zum Beispiel bereits ziemlich gut funktioniert ist das Verfassen von Standardschreiben im Rechtsbereich. Die große Frage ist, was sind die nächsten drei Domänen, wo sie über generative KI wirklich signifikant effizienter werden?
Alan: Sie haben Kultur als wesentliches Element der Transformation angesprochen. Was ist Ihre Strategie, um Ihre Mitarbeiter auf dieser Reise mitzunehmen?
Brecht: Für den IT-Bereich haben wir gemeinsam mit unserem Personalbereich eine Initiative mit dem Namen „Best Team“ gestartet. Um die richtigen Talente zu bekommen und zu behalten, verfolgen wir drei Bausteine.
Zum einen wissen wir, dass sich gerade IT-Toptalente gerne komplexen Herausforderungen stellen. Die Digitalisierung und Elektrifizierung unserer Branche bietet viele Möglichkeiten, sich intellektuell auszutoben.
Ein weiterer Fokus liegt auf der Weiterentwicklung der bestehenden Teams und Mitarbeitenden. Das Unternehmen investiert sehr stark in Fortbildung, und auch speziell in der IT haben wir riesige Qualifikationsprogramme. Dabei stützen wir uns zum Beispiel auf digitale Lernplattformen wie Udemy. Alle Mitarbeitenden in der IT haben eine solche Lizenz.
Der dritte Baustein sind Karrierepfade für Experten. Nicht alle Top-Technologen wollen Teams führen. Hier sind wir verstärkt dabei, fachliche Karrierepfade zu entwickeln.
Alan: Abschließende Frage. Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?
Brecht: Für meine IT-Organisation haben wir als Purpose festgehalten „We run and transform Mercedes-Benz“. Dass wir es geschafft haben, den Fokus der Organisation von Run auf Transform auszudehnen und, dass uns das insbesondere in den vier genannten Game Changern auch gelungen ist, darauf können wir als Team stolz sein.

Jan Brecht ist Chief Information Officer (CIO) von Mercedes-Benz Group AG und Mercedes-Benz AG. In dieser Funktion verantwortet er die globale IT für alle Geschäftsbereiche, Marken und Märkte. Zuvor war Jan Brecht von 2009 bis 2015 bei der adidas Gruppe, zuletzt als CIO & Head of Global Supply Chain zuständig für IT und Logistik. Er begann seine berufliche Laufbahn bei der damaligen Daimler-Benz AG in 1997 und ab 2000 hatte er bei Daimler verschiedene Positionen im IT-Management im In- und Ausland inne.