Digitalisierung bei einem mittelständischen Medizintechnikhersteller

Als klassisch deutscher Mittelständler ist Ottobock stark gewachsen und international expandiert. Für den nunmehr weltweiten Konzern stellt sich die Herausforderung, die internen Geschäftsprozesse zu harmonisieren und zu digitalisieren und gleichzeitig die externe Interaktion mit Kunden und Patienten innovativ weiterzuentwickeln. In einem umfangreichen Transformationsprogramm stellt sich Ottobock neu auf.

100 Jahre alt ist Ottobock dieses Jahr geworden – stets getrieben von Innovationsgeist und Mut zu Neuentwicklungen. In den letzten Jahrzehnten ist Ottobock stark gewachsen und hat konsequent an der Internationalisierung gearbeitet. Prof. Hans Georg Näder, Enkel des Firmengründers Otto Bock, trieb diese Entwicklung mit großem unternehmerischem Elan voran. Jeder Bereich und jede Auslandsniederlassung konnten mit größtmöglicher unternehmerischer Freiheit und Verantwortung den Markt entwickeln.

In dieser Vorgehensweise lag das Geheimnis des Erfolgs, zugleich war sie aber auch ein stetiger Treiber von Komplexität. Um den so gewachsenen Konzern für die Zukunft aufzustellen, holte Prof. Näder das Private-Equity-Unternehmen EQT an Bord und bestellte erstmals in der Firmengeschichte eine Geschäftsführung, die nicht mehr mit Familienmitgliedern besetzt war. Eine der ersten Initiativen war es, eine Digital- und IT-Strategie zu entwickeln.

Digitalisierung bedeutet Geschäftstransformation

Es hat sich schnell herausgestellt, dass es dabei tatsächlich um eine tiefgreifende Transformation des gesamten internen Geschäftsbetriebes handelt. Und so war eine der ersten Maßnahmen, einen Bereich Business-Process-Management (BPM) zu gründen, um die Harmonisierung und Weiterentwicklung, aber vor allem die bereichsübergreifende Integration der Arbeitsabläufe und der zugehörigen Datenströme systematisch voranzutreiben.

Gemeinsam treiben die Bereiche IT und BPM die Digitalisierung der internen Abläufe und Systeme voran. Hier galt es anfangs vor allem, neue Kompetenzen aufzubauen bzw. zu rekrutieren, aber auch externe Partner zu finden, die Industrie- und industrieübergreifende Erfahrung und natürlich auch Ressourcen bereitstellen, das umfangreiche Veränderungsprogramm zu unterstützen.

Es war eine bewusste Entscheidung, die Digitalisierung an der externen Schnittstelle zu Kunden und Patienten mit neuen Produkten und Dienstleistungen als sogenannte „Schnellbootprojekte“ unter Leitung des Chief Digital Officers (CDO) mit größerem Freiraum auszustatten. Um die spätere Integration und dauerhafte Skalierbarkeit zu gewährleisten, passiert dies in enger Abstimmung mit IT und BPM. Die tatsächliche Integration wird jedoch später geklärt, um die Schnellboote nicht auf Tankergeschwindigkeit abzubremsen, mit der die IT das komplexe Tagesgeschäft aufrechterhält.

Dieser Dreiklang aus Chief Information Officer (CIO), BPM und CDO macht die Digital- und IT-Strategie somit zu einem zentralen Baustein der Unternehmensstrategie und prägt die Entwicklung des Unternehmens für die Zukunft. Zugleich unterstützt sie jetzt alle Fachbereiche bei der Erreichung der bestehenden und kommenden Geschäftsziele als strategischer Impulsgeber.

Bis zum Ende gedacht

Basierend auf historisch gewachsenen, also lokal ausgeprägten Prozessen und Systemen gab es in der IT die besondere Herausforderung, fehlende Schnittstellen zu überbrücken und in Lösungen, die die gesamte Wertschöpfungskette durchdringen, zu überführen. Oft fanden sich aufgrund regulatorischer Vorgaben sogar noch klassisch auf Papier basierte Abläufe. Eine neue Geschäfts- und IT-Architektur musste geschaffen werden.

Eine durchgehende Logik mit den zugehörigen Datenstrukturen muss von der Entwicklung in die Produktion übergeleitet werden, dabei die gesamte interne wie externe Logistik umfassen, den Vertrieb ebenso erreichen wie Aftersales und die Patientenversorgung – alles eingebettet in Planung und weitere Unterstützungsbereiche.

Die Umsetzung der zugehörigen Projekte ist für einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren geplant.

Regulatorik

Für ein Medizintechnikunternehmen wie Ottobock beeinflusst die Erfüllung regulatorischer Vorgaben erheblich die Gestaltung der Systemlandschaft. Auf der einen Seite gilt es, die geforderten – künftig digitalen – Dokumentationen (z. B. „digitale Produktakte“) bereitzustellen. Zum anderen muss gewährleistet sein, dass die Computersysteme auch tatsächlich die Anforderungen zuverlässig und reproduzierbar erfüllen. Dies muss validiert werden; es reicht nicht, sich auf Herstellerangaben zu verlassen.

Aufbau einer globalen IT-Organisation …

Um eine globale Harmonisierung der Geschäftsprozesse und der Systeme zu ermöglichen, muss auch die IT-Organisation neu ausgerichtet werden. War diese in der Vergangenheit ebenso dezentral aufgestellt und eigenverantwortlich wie die Landesgesellschaften, hat Ottobock sich dazu entschlossen, eine global geführte und lokal aufgestellte Struktur zu schaffen, wobei nur rund die Hälfte der Ressourcen in der Zentrale sitzt.

Während die Berichtslinien schnell festgelegt sind, ist der Aufbau einer solchen IT-Organisation eine nicht zu unterschätzende Aufgabe. Der Veränderungsprozess bringt Menschen zusammen, die über viele Jahre, teils Jahrzehnte, wenig Berührungspunkte hatten. Ein globales Zusammenarbeitsmodell muss erst einmal entwickelt, im Weiteren dann aber auch erlebt werden. Nach einem Jahr ist das längst nicht abgeschlossen, mit zwei bis drei Jahren muss hier geplant werden.

Zugleich mussten Fähigkeiten neu aufgebaut werden, die bisher nicht oder nur unzureichend ausgeprägt waren. Als Beispiele seien hier IT-Architekturmanagement und Anforderungsmanagement genannt, ebenso wie applikationsspezifische Rollen für die neu geschaffenen Systeme.

… aber auch neue Rollen in den Fachbereichen

Entsprechend musste auch auf Fachseite ein Strauß von Rollen geschaffen werden, der die angestrebten Veränderungen bedienen kann. Neben dem Aufbau der zentralen BPM-Organisation spielen die Geschäftsprozesseigner, neudeutsch Business-Process-Owner, eine entscheidende Rolle. Ihre Aufgabe ist es, für ihre jeweiligen Fachbereiche global Prozesse festzulegen und über lokale Abweichungen zu entscheiden. Ebenso müssen IT-Anforderungen nunmehr global koordiniert werden.

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Umsetzungsprojekte für die IT-Strategie durch die Fachbereiche inhaltlich gestaltet werden müssen – was eine erhebliche Belastung für die Organisation darstellt. Hier zeigt sich der Charakter der Geschäftstransformation sehr deutlich. Dieser Aufwand fördert zugleich das Zusammenwachsen der globalen Organisation über die Grenzen der Fachbereiche hinaus.

Der Autor:  Dr. Boris Piwinger hat als Topmanagementberater bei A.T. Kearney Unternehmen zu Digitalisierung und IT­-Strategie beraten, so auch Ottobock. Seit 2018 ist er bei Ottobock global verantwortlich für die IT­-Transformation und ist IT­-Leiter der  österreichischen  Landesgesellschaft. 

 

Ottobock ist als hidden Champion Weltmarktführer in der technischen Orthopädie und gibt Menschen mit Handicap Mobilität zurück. Mit rund 7.000 Mitarbeitern in mehr als 50 Ländern erzielt das Unternehmen rund eine Milliarde Euro Jahresumsatz.