Digitalisierung aus einem Guss

Der Lockdown infolge der Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass sich das Vordringen digitaler Geschäftsmodelle beschleunigt. Doch nur mit einer ganzheitlichen Strategie gelingt Versicherungen die dringend erforderliche Transformation.

Zweistellige Zuwachsraten beim Onlineverkauf von Versicherungspolicen über Portale, bis zu 100 Prozent Prämieneinnahmen über digitale Kanäle und eine rasante Anpassung der Agenturen an die neuen Gegebenheiten: Diese Entwicklungen im früh von der Corona-Pandemie getroffenen Italien belegen, wie sehr der Lockdown im Frühjahr 2020 tradierte Verhaltensweisen verändert hat. Zunehmend zeigt sich nun auch in Deutschland, dass dieser Wandel offenbar von Dauer ist.

Die Versicherungen haben daher keine andere Wahl, als ihre laufende digitale Transformation noch rascher voranzutreiben. In den vergangenen Jahren haben etliche bereits ihr digitales Angebot erweitert, den Vertrieb über digitale Kanäle gestärkt und zahlreiche Prozesse automatisiert. Es mangelte weder an innovativen Ansätzen noch an aufsehenerregenden Piloten. Doch noch immer stockt die Umsetzung in der Fläche häufig, selbst vielversprechende Vorzeigeprojekte versanden. Nur mit der konsequenten Umsetzung einer ganzheitlichen Digitalstrategie können Versicherungen diese Hürden überwinden und den Erwartungen von Kunden, Mitarbeitern und anderen Stakeholdern gerecht werden.

Digitale Kanäle im Kundenfokus

Das veränderte Kundenverhalten gibt den Takt bei der digitalen Transformation vor. Seit geraumer Zeit steigt die Nutzung digitaler Kanäle bei Interaktionen. Zugleich sinkt die Hemmschwelle, Policen auch bei Branchenfremden abzuschließen. Im Zuge einer Bain-Befragung von rund 14.000 Versicherungsnehmern in Deutschland haben 38 Prozent angegeben, dass sie sich auch bei einem Hersteller, beispielsweise einem Automobilkonzern, oder einem Dienstleister versichern würden. 36 Prozent sind offen für Angebote führender Technologiekonzerne wie Amazon, Apple, Facebook oder Google. Und 32 Prozent stehen Offerten von Insurtechs aufgeschlossen gegenüber.

Noch sind deutsche Versicherungskunden im internationalen Vergleich äußerst loyal. Doch das Vordringen neuer Wettbewerber, vor allem in den USA und Großbritannien, einhergehend mit Marktanteilsverlusten für die etablierten Anbieter zeigt das große Potenzial branchenfremder Player mit einem überzeugenden digitalen Angebot. Nicht zuletzt deshalb sollten die hiesigen Versicherer handeln und eine ganzheitliche Digitalstrategie mit drei Kernpfeilern umsetzen. Bei diesen handelt es sich um digitale Prozesse, digitale Vertriebe und Ökosysteme sowie den Einsatz moderner Technologien (vgl. Abb.). Voraussetzung für eine strukturierte Transformation wiederum sind vier Grundbausteine: eine agile IT, die Einführung agiler Arbeitsweisen samt Change Management, eine optimierte Organisation sowie eine transparente Kommunikation. Hinzu kommt mit der digitalen Fabrik ein häufig unterschätzter Erfolgsfaktor. Sie ist der Motor jeder digitalen Transformation.

Die ganzheitliche Digitalstrategie auf einen Blick

 

Weniger Kosten, höhere Produktivität

Seit Jahren digitalisieren Versicherer Prozesse entlang ihrer Wertschöpfungskette. Robotic Process Automation (RPA) hat sich dabei zum Standardwerkzeug entwickelt. Nun kommt es darauf an, die zahlreichen einzelnen Projekte in eine Digitalstrategie einzubinden, noch bestehende Defizite zu beheben und die Prozesslandschaft kundenorientiert weiterzuentwickeln. Ziel ist die Ende-zu-Ende-Automatisierung einer möglichst großen Zahl von Prozessen.

Die Digitalisierung von Prozessen erhöht nicht nur die Effizienz. Vielmehr entspricht sie auch den veränderten Kundenerwartungen und zahlt damit auf den zweiten Pfeiler jeder erfolgreichen digitalen Transformation ein: auf das optimierte Kundenerlebnis und die entsprechende Ausrichtung von Vertrieben und Ökosystemen. Noch haben zahlreiche Versicherer vor allem bei der Mobilisierung ihrer Vertriebe Nachholbedarf. Sie kämpfen mit hohen Kosten, einer Vielzahl händischer Prozesse sowie einer alternden und zum Teil unproduktiven Agenturlandschaft. Branchenvorreitern ist es dagegen mit einer modernen Organisation bereits gelungen, die Vertriebskosten um rund 30 Prozent zu senken. Sie bieten nun zumindest die Möglichkeit, einfache Produkte nahezu gänzlich vollautomatisch zu erwerben und haben die Produktivität ihrer Agenten um 20 Prozent und mehr gesteigert.

„Mutiges, antizyklisches Handeln zahlt sich aus“

Bain-Partner Dr. Christian Kinder empfiehlt, trotz Rezession eine ganzheitliche Digitalstrategie konsequent umzusetzen.

Wie sollten Versicherungen auf die Corona-Krise strategisch reagieren?

Kinder: Unsere branchenübergreifende Handlungsempfehlung lautet: „Act Now! Plan Now!“ Vorrangig gilt es natürlich, Kunden und Mitarbeiter bestmöglich zu schützen und das Geschäftsmodell zu stabilisieren. Doch zugleich sollte sich jeder Versicherer die Zeit nehmen, frühzeitig die Weichen für die Nach-Corona-Zeit zu stellen. Mutiges, antizyklisches Handeln zahlt sich aus.

Wodurch wird die Nach-Corona-Zeit geprägt sein?

Kinder: Im Versicherungsgeschäft wird sich vor allem die Digitalisierung noch einmal deutlich beschleunigen. Denn der Lockdown hat die Erwartungen von Kunden, Mitarbeitern und anderen Stakeholdern nachhaltig verändert. Über alle Kunden- und Altersgruppen hinweg werden digitale Interaktionen zunehmend zur neuen Normalität. Auch wollen viele Beschäftigte das Homeoffice nicht mehr missen. Darüber hinaus können die Versicherer ihre Effizienz deutlich steigern, wenn sie ihre Prozesse konsequent digitalisieren und automatisieren.

Steht die Digitalisierung nicht bereits seit Jahren im Fokus der Versicherungen?

Kinder: Die Fortschritte der vergangenen Jahre sind zweifellos beeindruckend. Mittlerweile gibt es zahlreiche erfolgreiche Projekte und Initiativen. Doch die Umsetzung in der Fläche stockt vielerorts noch. Diese Hürde lässt sich mit einer ganzheitlichen Digitalstrategie überwinden, die den Roll-out in der gesamten Organisation sicherstellt.

Großes Interesse an Ökosystemen

Solche Vorreiter verzeichnen zudem bereits Erfolge mit ihren Ökosystemen, sprich mit einem Netzwerk von Dienstleistern, das sie in die Lage versetzt, Lösungen für Kundenprobleme, etwa einen Schaden, aus einer Hand zu bieten. Der bereits erwähnten Bain-Befragung zufolge sind 85 Prozent der Deutschen an solchen Ökosystemen interessiert, mehr als die Hälfte sieht ihren Versicherer als bevorzugten Anbieter. Damit ein Ökosystem allerdings wie vom Kunden gewünscht anbieterübergreifend reibungslos läuft, braucht es ein hohes Maß automatisierter Prozesse – ein weiteres Argument für die Beschleunigung der digitalen Transformation.

Im Zuge ihrer Digitalisierungsbemühungen fühlen sich viele Versicherer von ihrer IT ausgebremst. Trotz hoher Investitionen in die eigene IT-Infrastruktur ist in der Branche in den vergangenen Jahren die Furcht vor einer wachsenden technischen Schuld gestiegen. In der Praxis hat sich ein Umbau der IT-Architektur bewährt, bei dem drei Innovationen im Mittelpunkt stehen: Public Cloud und virtualisierte Server, die klassische Rechenzentren ersetzen, Software-as-a-Service-Dienste, die aufwendige Implementierungen zugekaufter Softwarepakete obsolet machen, und Microservices, die bei proprietären Lösungen die alten Monolithen verdrängen. Die neue IT ist agil, die neue IT-Architektur ist modular. Dies erleichtert es Versicherungen, auf sich verändernde Kundenbedürfnisse rasch einzugehen und innovative Technologien zu integrieren. Verbunden mit agilen Arbeitsweisen, einer optimierten Organisation und einer transparenten Kommunikation schafft dies die Basis für eine forcierte digitale Transformation.

Schubkraft für die Transformation

Damit eine Versicherung in puncto Digitalisierung weiter an Fahrt gewinnt, benötigt sie nicht zuletzt einen funktionierenden Motor mit Schubkraft. Dafür steht die digitale Fabrik. Hierbei handelt es sich um ein standardisiertes Modell, mit dessen Hilfe sich digitale Projekte schnell testen, erfolgreich implementieren und nachfolgend skalieren lassen. Bei der Entwicklung neuer Produkte und Services sind vier Phasen entscheidend:

  • Ideengenerierung und Priorisierung. In der gesamten Organisation werden kontinuierlich und strukturiert Ideen gesammelt, bewertet und priorisiert.
  • Lernphase. Ideen werden ausgearbeitet, Prototypen unter Einbindung von Kunden erstellt und iteriert. In der Regel gibt es nach drei Monaten einen Machbarkeitsnachweis. Danach wird das Vorhaben weiterverfolgt oder beendet („fail fast“).
  • Entwicklungsphase. Ein funktionsfähiges Produkt wird entwickelt und pilotiert. Gewöhnlich sind nach drei bis sechs Monaten hinreichend Pilotergebnisse vorhanden, um über eine Skalierung zu entscheiden.
  • Skalierungsphase. Das Produkt wird weiterentwickelt und es erfolgt der Roll-out.

Den Kern der digitalen Fabrik bilden fest zugeordnete Mitarbeiter mit klar definierten Funktionen. Sie bündeln die Digitalisierungskompetenzen und sind das Rückgrat aller digitalen Projekte. Darüber hinaus können für 6 bis 24 Monate Experten aus unterschiedlichen Fachabteilungen hinzugezogen werden, die in Vollzeit den Projektteams zugeteilt sind. So entstehen agile, bereichsübergreifende Teams, die digitale Projekte Schritt für Schritt realisieren. In der Regel stehen ihnen dafür gesonderte Räumlichkeiten zur Verfügung. Diese Fabriken dienen als Keimzelle für neue Arbeitsmethoden und Innovationen. Und dies wiederum macht es leichter, talentierte Nachwuchskräfte zu rekrutieren, sie über intelligente Rotationsmodelle zu binden und so den Kulturwandel voranzutreiben.

Nicht zögern, sondern aktiv werden

Es ließe sich einwenden, dass angesichts der Corona-Pandemie und der schweren wirtschaftlichen Krise andere Themen Vorrang haben. Und selbstverständlich haben der Schutz von Mitarbeitern und Kunden sowie die Stabilisierung des Geschäftsmodells erst einmal höchste Priorität. Nach Überzeugung von Bain sollten Unternehmen jedoch nach der Devise „Act now! Plan now!“ handeln und einen Teil ihrer Ressourcen für in die Zukunft gerichtete Projekte reservieren. Gerade jetzt gibt es gute Gründe, die digitale Transformation zu forcieren. Zum einen haben sich die Erwartungen der Kunden durch den Lockdown weiter verändert. Digitale Innovationen sind gefragter denn je. Zum anderen ist die Bereitschaft der Mitarbeiter gewachsen, sich auf neue Arbeitsmodelle einzulassen. Die Zeit agiler Prozesse ist gekommen. Und schließlich verschärft die Rezession den Kostendruck. Mit automatisierten Prozessen lassen sich Effizienzreserven heben.

Ein besseres Kundenerlebnis, eine flexiblere Organisation und niedrigere Kosten: Wer  heute die digitale Transformation mit einer ganzheitlichen Strategie vorantreibt, dürfte morgen zu den Gewinnern am Markt zählen.

Der Autor:  Dr. Christian Kinder ist Partner bei der internationalen Unternehmensberatung Bain & Company und leitet die Praxisgruppe Versicherungen in der Region Europa, Mittlerer Osten und Afrika. Der promovierte Betriebswirt unterstützt führende Versicherungen bei ihrer gesamten Geschäftstätigkeit. Seine Beratungsschwerpunkte umfassen unter anderem Strategien auf Konzern- und Geschäftsbereichsebene sowie Kunden- und Digitalisierungsstrategien.