Digitale Transformation in der (Cyber-) Industrieversicherung: Haben Versicherer diese vier Hebel auf dem Radar?

Im Zeitalter der Digitalisierung sollten auch Industrieversicherer die vielfältigen Chancen der digitalen Transformation nutzen: Denn nur so können sie auch in Zukunft Unternehmen in einer komplexen Risikolandschaft adäquat und nachhaltig absichern, auskömmliche Prämien für alle Beteiligten anbieten und damit wettbewerbsfähig bleiben. Die Cyber-Sparte ist ein gutes Beispiel, warum spätestens jetzt ein aktives Portfoliomanagement sowie ein prozessgetriebenes, teil- und im standardisierten Geschäft sogar vollautomatisiertes Underwriting und Pricing ins Versicherungsunternehmen Einzug halten muss.

Die Risikolandschaft unterliegt aufgrund geopolitischer Krisen, technologischen Veränderungen, der Inflation, aber vor allem durch die weltweite digitale Transformation einem starken Wandel. Dass dies erst der Anfang ist, demonstriert beispielsweise der gegenwärtige Hype um künstliche Intelligenz. Welches (digitale) Potenzial sich bereits in den nächsten Jahren in Wirtschaft und Gesellschaft manifestieren wird, können wir nur schätzen. Dies betrifft nicht nur die unternehmensinternen IT-Optimierungen, sondern vor allem auch die Versicherungstechnik. Besonders in der Cyber-Sparte verändert sich die Risikolandschaft der Kunden rasant: viel schneller und mit massiveren Auswirkungen als in anderen Sparten. Das Thema Cyber-Kriminalität lässt grüßen.

Die Verlagerung in die Cloud oder die schleichende Integration des Internet of Things (IoT) erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit eines Cyber-Angriffs, sondern im Falle eines „Erfolgs“, durch die Vernetzung mit anderen Geräten und Systemen, auch das Ausmaß des Schadens und damit die Schadenshöhe.

Underwriting: Herz der Versicherung digitalisieren

Technologieumstellungen werden von vielen Cyber-Versicherern nicht ausreichend berücksichtigt, weil sie die erforderlichen Informationen nicht aktiv einfordern. So sind die zum Vertragsbeginn gestellten Risikofragen in manchen Beständen bereits viele Jahre alt; spezielle Fragen zu Cloud oder IoT waren damals noch nicht relevant. Dies kann zu massiven Problemen im Bestand führen, die auch nicht durch gesetzliche oder vertragliche Obliegenheiten beseitigt sind. Das sogenannte „Änderungsrisiko“ entwickelt sich schleichend und potenziert sich Jahr für  Jahr im Bestand, was die Risikoqualität des Portfolios teils dramatisch verschlechtern kann. Insbesondere für die Cyber-Sparte ist es deshalb wichtig, die Digitalisierung der Gewerbe- und Industrieversicherung stark voranzutreiben. Änderungsrisiken im Bestand müssen kontinuierlich transparent erfasst, gemonitort und nötigenfalls konsequent angegangen werden. Dies kann im Extremfall, je nach Bedrohungslage, auch das Re-Underwriting des Cyber-Bestandes in der Erneuerungsphase erfordern.

In der Realität der Cyber-Versicherer fällt diese „Bestandsarbeit“ aber häufig nicht leicht: Viele Underwriter „kämpfen“ mit fragmentierten Prozessen, einem geringen technologischem Fortschritt, unzureichenden Daten sowie Zeit- und Personalmangel. So müssen sie sich noch viel zu oft mit anderen Aufgaben als der Risikoeinschätzung ihrer Versicherungsnehmer befassen – unter anderem dem Datentransfer oder der Erstellung individueller Excel-Übersichten. Die Renewal-Phase wird so für viele Underwriter zu einer Herkulesaufgabe, auch ohne dass eine aktuelle Bedrohungslage sie dazu zwingt, den gesamten Bestand manuell auf Änderungsrisiken zu durchleuchten.

Mit diesen vier Hebeln zur erfolgreichen Transformation

Was für Cyber gilt, gilt längst für alle Sparten: Versicherer müssen ihre Prozesse radikal revolutionieren und insbesondere die Underwriter entlasten und unterstützen. Vier Erfolgsfaktoren sind dabei essenziell:

  1. Datenstrategie:
    Versicherer müssen funktionsübergreifend sämtliche Daten sammeln und zu Auswertungszwecken zur Verfügung stellen – nicht nur im Hinblick auf das Pricing, sondern
    auch für die Risiko- und Schadendetails im Bestand,
  2. Technologie und Pricing:
    Hierbei sind technologische Lösungen Pflicht, zum Beispiel umfassende Portfolio-Performance-Tools und Dash-boards, Scenario-Testing-Funktionalitäten sowie eine effektive Pricing- und Prozess-Engine.
  3. Automatisierung:
    Die oben genannte Technik ebnet den Weg für automatisierte Prozesse, um das Underwriting bei der Entscheidungsfindung besonders in der Erneuerungsphase zu unterstützen.
  4. Mindset:
    Die innovativsten Lösungen sind wertlos, wenn sie keiner nutzt. Das Team muss bei sämtlichen analytischen Neuerungen mitgenommen werden. Am besten gelingt dies, indem die Verantwortlichen schrittweise den Mehrwert in der täglichen Praxis darstellen. So können sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leichter für neue Techniken und Prozesse öffnen.

Analytik und Prozessunterstützung Hand in Hand

Für Versicherungsunternehmen sind diese vier Hebel existenziell entscheidend – insbesondere im Portfoliomanagement, Aktuariat, Produktmanagement und Underwriting. Erfahrungsgemäß sind hierbei kleine Schritte erfolgsversprechender als große. Eine WTW -Umfrage am Londoner Markt zeigt, dass Unternehmen, die bereits erfolgreich in technologische Veränderungen investiert haben, einen Combined-ratio-Vorteil von sechs Prozent punkten gegenüber den Unternehmen haben, die diesen Schritt bislang nicht gegangen sind 1). Die Befragung zielte vor allem auf die Nutzung von Datenbeständen, Systemen zur Unterstützung von Entscheidungen oder digitale Handelslösungen ab. Darüber hinaus wirkt sich die digitale Transformation auch positiv auf die Talentgewinnung aus, denn: Der Nachwuchs achtet sehr genau darauf, welcher Versicherer technologisch voranschreitet und welcher weiterhin traditionell arbeitet.

Versicherer müssen ihre Chancen jetzt ergreifen

Industrieversicherer können sich der digitalen Transformation nicht länger entziehen. Dabei geht es nicht darum, „den Meschen zu ersetzen“, sondern vielmehr darum, ihn technologisch bestmöglich zu unterstützen. Das gilt spartenübergreifend, insbesondere aber in der Cyber-Versicherung mit „ihrem“ sehr hohen Änderungsrisiko. In jedem Fall sollten Versicherer den digitalen Wandel als Chance begreifen und ganzheitlich im Unternehmen integrieren.

1) https://www.wtwco.com/en-gb/news/2023/06/london-market-starting-to-see-concrete-returns-from-investment-in-digital transformation-states

Der Autor:

Dr. Kennet K. Otto ist Leiter für gewerbliches und industrielles Underwriting und Pricing in der Versicherungsberatung bei WTW. Als interdisziplinär geprägter Versicherungsmanager im Gewerbe- und Industriegeschäft ist Dr. Otto für die strategische und technologische Ausweitung dieser Beratungsleistung in Mittel- und Nordeuropa verantwortlich.