„Digital Leadership rückt den Menschen in den Mittelpunkt“

Wie lässt sich Digital Leadership im Unternehmen umsetzen? Es kommt vor allem auf drei Aspekte an, erklärt Frauke von Polier, Chief People Officer bei Viessmann, im Interview. Ihre „digitalen Erfahrungen“ sammelte sie in so unterschiedlichen Unternehmen wie Otto, dem rein digitalen Player Zalando und dem Softwarekonzern SAP.

Frau von Polier, was ist für Sie der Kern von Digital Leadership?

Die Digitalisierung ermöglicht es, uns mehr denn je an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren. Digital Leadership bedeutet für mich deshalb eine Führung, die sich am Menschen orientiert – eine Führung, die Technologie nutzt, um menschenzentrierter zu handeln.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Eine Endkundin möchte ein warmes Zuhause, das nachhaltig und möglicherweise autark mit eigener Elektrizität versorgt ist. Eine Heizung ist da nur eine von vielen Möglichkeiten. Der Ansatz ist, von den Bedürfnissen dieser Kundin auszugehen und für sie Lösungen zu entwickeln. Damit rückt der Mensch und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Digitalisierung, nicht mehr das Produkt. Konsequent weitergedacht bedeutet digitale Führung somit, menschenzentrierter zu agieren und Technologie als Werkzeug zu nutzen, um dieses Ziel zu erreichen.

Das ist eine andere Art zu denken – für alle Beteiligten.

Absolut. Statt Hardware und Software zu entwickeln, geht es darum, Lösungen aus Sicht des Kunden zu entwickeln. Um diesen Veränderungsprozess in den Köpfen zu erreichen, muss die Führungskraft mit den Mitarbeitenden intensiv über die Kunden und deren Experience sprechen. Jetzt muss die Führungskraft gemeinsam mit den Mitarbeitenden über die Kundin sprechen, über ihre Bedürfnisse, Erlebnisse und Erfahrungen. Das ist eine fundamentale Veränderung der Konversation und erfordert eine nach außen gerichtete Sicht.

Was ändert sich dadurch für die Führungskräfte?

Das eine große Thema ist die Orientierung an den Bedürfnissen der Kunden. Das andere Thema ist der Umgang mit neuen Technologien wie etwa jetzt Chat GPT, die einerseits neue Möglichkeiten eröffnen, andererseits aber auch überfordern können. Von Führungskräften wird da schon erwartet, sich in dieser digitalen Welt zurecht zu finden und Empathie für diejenigen zu entwickeln, die sich überfordert fühlen.
Führung ist letztlich eine Rolle mit bestimmten Aufgaben und Funktionen. Durch den Einsatz von Technologie ist es heute möglich, viele dieser Aufgaben wie zum Beispiel Managementaufgaben zu automatisieren. Was dann bleibt und an Bedeutung gewinnt, sind menschliche Faktoren wie Kommunikation, Konfliktfähigkeit und Kontext setzen. Die Anforderungen an Führungskräfte sind deutlich gestiegen: aufgrund der Technologien und der zunehmenden Komplexität der Welt, und damit verbunden, menschenzentrierter zu handeln.

Wie erreicht man diese Veränderung? Wie lässt sich Digital Leadership im Unternehmen
umsetzen?

Ich sehe vor allem drei Aspekte. Der erste ist die Befähigung, der zweite die Vorbildfunktion – und der dritte sind Mechanismen, die die Einhaltung von Zusammenarbeit und Routinen sicherstellen.

Beginnen wir mit dem ersten Aspekt, der Befähigung.

Bei Viessmann haben wir Leadership-Prinzipien formuliert und ein sechsmonatiges Leadership-Programm aufgelegt, speziell mit Blick auf unsere Transformation. Wir achten bei den Trainings  auf die Inhalte, das ist klar – aber ebenso wichtig ist es, mit wem man lernt oder trainiert. Wenn wir uns die Zeit nehmen, die Gruppen sorgfältig zusammenzustellen, entsteht ein wertvoller und effektiver Austausch. Die Teilnehmenden erkennen, dass sie ähnliche Probleme haben und lernen voneinander.

Das zweite ist die Vorbildfunktion. Das fängt ganz oben an, beim Vorstand?

Richtig. Wir haben zum Beispiel – das war auch bei Zalando so – ein digitales Format. Da treffen sich die Vorstände mit allen Mitarbeitenden alle vier Wochen und geben Kontext über wichtige Entscheidungen, erklären wesentliche strategische Änderungen, tauschen sich darüber aus, wie sich die Welt und der Markt verändert haben, wo das Unternehmen steht, was gut läuft und was nicht. Danach folgt Zeit für Fragen und Antworten, wo die Teilnehmenden Fragen in ein Tool eingeben können und die wichtigsten Fragen gleich beantwortet werden. Das Format heißt „State-Of-The-World“, dauert 45 Minuten und jeder ist eingeladen dabei zu sein und mitzumachen.
Das Vorleben und die Transparenz darüber, warum Entscheidungen getroffen werden, aber auch menschlich zu sein und zuzugeben, dass man manchmal nicht jede Frage beantworten kann – das hilft Führungskräften und unseren Familienmitgliedern gleichermaßen. Es signalisiert, dass es in Ordnung ist, Fragen zu stellen und dass von der Führungskraft eine verständliche Antwort erwartet werden kann.

Bei der Vorbildfunktion geht es also vor allem um Transparenz und darum, dass Führungskräfte den Kontext erkennen und an ihre Mitarbeitenden weitergeben?

Ja. In der digitalen Welt geht es weniger um Informationen. Die gibt es im Überfluss, und jeder hat heute Zugang zu Informationen. Entscheidend ist vielmehr, den Kontext herzustellen und Klarheit zu schaffen, wo Unsicherheit herrscht. Dazu gehört auch, sich in den anderen hineinversetzen zu können und zuhören zu können.

… was keine Maschine leisten kann! Das muss von Mensch zu Mensch geschehen.

Da sind wir wieder bei den menschlichen Fähigkeiten. Worauf es heute in einem Unternehmen ankommt, ist die Fähigkeit, Informationen in einen Kontext zu setzen – und nicht mehr, wie früher, Informationen in kleinen Happen zu kaskadieren.

Als dritten Aspekt haben Sie Mechanismen genannt. Was meinen Sie damit?

Damit meine ich feste Formate und Routinen, beispielsweise regelmäßige Stand-ups, kollaborative Tools etc. Sie stellen sicher, dass die Kernfähigkeiten von Digital Leadership – Menschenzentriertheit, Transparenz und Kontext – tatsächlich gelebt werden können.

Digital Leadership braucht also auch Vorgaben – dies umso mehr, wenn agile Teams dezentral und funktionsübergreifend tätig sind?

Digital Leadership wird ja oft auch synonym gesetzt mit agilem Leadership. Es ist daher wichtig zu verstehen, was Agilität bedeutet: Agilität heißt, die Balance zwischen Stabilität und Dynamik zu halten. Warum? Weil zu viel Stabilität zu Bürokratie führt und Mitarbeitende sich auf Prozesse konzentrieren, anstatt kunden- oder menschenorientiert zu denken. Wenn ich hingegen eine hohe Dynamik im Unternehmen habe, aber eine niedrige Stabilität, wie es oft in Start-ups der Fall ist, herrscht häufig Chaos. Agilität bedeutet für mich, die Balance zwischen Stabilität und Dynamik zu finden.

Und dafür braucht es Regeln?

Auf jeden Fall. Wenn ich agil oder digital führe, benötige ich deutlich strengere Routinen, als man gemeinhin denkt. Regelmäßige Meetings, Stand-Ups oder andere wiederkehrende Formate sind entscheidend, wenn man crossfunktional zusammenarbeiten möchte. Da gilt etwa die Regel, dass jedes Teammitglied an jedem Mittwochmorgen um neun Uhr anwesend ist, wenn besprochen wird, was in der Woche passiert ist. Es wird oft unterschätzt, wie sehr digital Leadership auf Routinen angewiesen ist, die strikt eingehalten werden.

 

Frauke von Polier ist seit 2021 Chief People Officer und Mitglied des Executive Board der Viessmann Gruppe. Die Wahlberlinerin kam von SAP, wo sie als COO People tätig war. Zuvor verantwortete sie als Personalchefin bei Zalando die Entwicklung des Startups von 250 auf 14.000 Mitarbeitende.

Die Viessmann Gruppe mit über 14.500 Mitarbeitenden ist bekannt für ihre konsequente Umsetzung des Purpose „Lebensräume für die nächste Generation zu schaffen“ mit Heiz- und Kühltechnik sowie anderen Klimalösungen.