Europas Automobil- und Fertigungsindustrie steht unter wachsendem makroökonomischem Druck. Fortschritte in Cloud-Technologie und Künstlicher Intelligenz (KI) eröffnen neue Spielräume – erfordern aber ein radikales, agiles Neudenken von Geschäftsmodellen und Wertschöpfung. Dieser Artikel zeigt, wie nachhaltige Differenzierung durch kontinuierliche Innovation gelingen kann – und das in einem Umfeld, in dem Technologie zunehmend kommoditisiert und demokratisiert wird.
Mut zu radikaleren Lösungen und zu konsequenter, agiler Umsetzung
In den letzten Jahren wurden zahlreiche (generative) KI-Anwendungsfälle und Proof-of-Concepts (PoC) entwickelt, die durch immer kürzer werdende technologische Innovationszyklen, darunter generative vortrainierte Transformer (GPT) und Multi-Agenten Systeme, angetrieben werden. Dennoch realisieren Unternehmen in der Automobil- und Fertigungsindustrie nicht die gewünschten Vorteile aus ihren KI-Anwendungsfällen. Unsere PwC-Studie „KI in der Fertigung“ aus April 2025 zeigt, dass weniger als 20 Prozent der Unternehmen einen messbaren finanziellen Vorteil oder eine Kostendeckung sehen. Dafür gibt es mehrere Gründe:
1. Mangelnde Skalierung:
Weniger als 10 Prozent der getesteten und validierten KI-Anwendungsfälle werden tatsächlich produktiv eingesetzt und skaliert – etwa über Produkte, Werke oder Regionen hinweg. Häufig fehlen dafür die nötige Daten-Governance, systemübergreifende Integration sowie die Automatisierung von Sicherheits- und Compliance-Vorgaben.
2. Begrenzte Realisierung von Automatisierungs-/Autonomie-Potenzialen:
43 Prozent der Unternehmen sehen in verbesserten Entscheidungen und 41 Prozent in geringeren Personalkosten (bzw. kompensierten Fachkräftemangel) zentrale Hebel für Umsatz- und Gewinnsteigerung. Doch KI-Projekte bleiben oft auf lokale Verbesserungen beschränkt, ohne die Vorteile höherer Autonomiegrade (z. B. prädiktiv, präskriptiv, autonom) zu erschließen.
3. Fehlende organisatorische Agilität:
Viele Unternehmen übersehen, dass KI auch strukturelle Veränderungen in Prozessen und Organisation verlangt. Während klassische Plattformmodelle dominieren, entstehen neue KI-zentrierte Architekturen, die sich dynamisch und über organisatorische Grenzen hinweg entlang von Anwendungsfällen und Datenflüssen entwickeln – jedoch noch selten antizipiert werden.
Cloud als technischer und kultureller Enabler
Think Big, Start Small, Scale Fast
Zukünftig betrachten wir informationstechnische Systeme weniger als statische Konstrukte, sondern vielmehr als dynamische Mosaike modularer Komponenten, die zunehmend domänenübergreifend (Prozesse, Technologie, Mensch) in die Wertschöpfung von Unternehmen integriert sind – sowohl komplementär als auch teilweise substituierend. Analog zum Amazon-Prinzip „Think Big, Start Small, Scale Fast“ motivieren wir unsere Kunden, die kontinuierliche Neugestaltung von Produkten und Dienstleistungen durch Cloud- und KI-Technologien von Beginn an als Priorität auf Geschäftsführungsebene zu betrachten, um deren potenzielle Wirkung auf das zukünftige Geschäftsmodell umfassend zu bewerten. Die zugrunde liegende Prämisse ist, dass disruptive Technologien von heute bereits in wenigen Jahren kommoditisiert beziehungsweise demokratisiert sein werden und somit nicht direkt zur Differenzierung eines Unternehmens beitragen.
Wichtigste Vorteile der Cloud für Unternehmen:
› Schneller Zugang zu neuesten Technologien
› Globale Bereitstellung von Cloud Services innerhalb von Minuten
› einfache Integration anhand standardisierter API Schnittstellen
› Low-Code/No-Code-Bedienoberflächen und Entwicklungsplattformen erweitern Anwenderkreis
› Elastisches Skalieren von Ressourcen als Funktion der Nutzung
Cloud- und KI-Lösungen
Seit Amazon Web Services (AWS) 2006 die ersten Cloud-Dienste einführte, haben sich Cloud-Technologien zu einem zentralen Enabler für Digitalisierung und Innovation entwickelt. Sie ermöglichen Unternehmen, technologische Entwicklungen schneller, skalierbarer und risikoärmer umzusetzen. Gleichzeitig verändert sich der Blick auf IT – weg von isolierten Anwendungen hin zu integrierten, modularen End-to-End-Lösungen, die durch cross-funktionale Teams ganzheitlich entwickelt und betrieben werden.
Ein Beispiel aus der Fertigung zeigt, wie Cloud-Dienste konkret Mehrwert schaffen:
Durch die Integration des vollständig verwalteten KI-Services Amazon Rekognition in eine Fertigungsstraße kann Echtzeit-Bildmaterial automatisch analysiert werden – etwa zur Qualitätssicherung oder zur automatisierten Steuerung von Fertigungsschritten. Die KI erkennt beispielsweise Risse, falsche Montagen oder Umgebungsfaktoren, die es ermöglichen Teile zu sortieren, umzuleiten, oder auf Ereignisse entlang der Fertigungsstraße zu reagieren.
Das Besondere: Unternehmen müssen dafür weder eigene KI-Modelle entwickeln, noch Datenwissenschaftler einstellen oder eine
eigene Infrastruktur aufbauen.
Cloud Solutions Portfolio
Um Technologie unternehmensweit wirksam zu machen, definieren wir keine einzelnen Cloud-Tools, sondern ein Cloud Solutions Portfolio. Dieses umfasst Lösungen mit unterschiedlichem Zeithorizont und Ambitionsniveau, die strategische Prioritäten unterstützen. Es berücksichtigt zentrale Designprinzipien, Leitplanken und Enabler wie Daten, Integration, Weiterbildung, Governance, Sicherheit und Betrieb. Das Portfolio entwickelt sich kontinuierlich weiter – im Sinne eines dynamischen Mosaiks – mit neuen Cloud- und KI-Anwendungsfällen. Erfolgsfaktoren sind agile Strukturen zur Ideenvalidierung und Umsetzung, kontinuierliche Qualifizierung der Mitarbeitenden sowie ein ambitioniertes, mitarbeiterzentriertes Change-Programm.
Praxisbeispiele für Cloud Solutions
Wir investieren kontinuierlich in Cloud- und KI-Solutions, die wir gemeinsam mit Kunden im Automobil- und Fertigungsbereich bauen und fortlaufend weiterentwickeln. Das Ziel dieser Solutions ist es, Kunden neueste Technologien ohne große Anfangsinvestitionen kommoditisiert zur Verfügung zu stellen, damit sie sich auf differenzierende Aspekte ihrer Wertschöpfung oder das Redesign ihrer Geschäftsmodelle konzentrieren können. Beispiele hierfür sind:
- „Fabrikassistent“, der Skalierungsprobleme von Cloud- und KI-Anwendungsfällen in Fertigungsstätten durch Self-Service Konnektivität und Datenkontextualisierung löst und es so ermöglicht, Anwendungsfälle schneller und kostengünstiger über hunderte Werke und 10.000 Maschinen auszurollen.
- „Operativer Einkaufs-Agent“, der mithilfe von generativer KI und serverloser Funktionen über 70 Einkaufsprozesse zwischen externen Stakeholdern und internen Systemen (z.B. S/4HANA, Coupa) orchestriert und automatisiert (z.B. intelligente Dokumentenerkennung und Generierung des Leistungserfassungsblatts).
- „Virtualisierte Entwicklungsplattform“, die es ermöglicht, Software für Automobil- und Fertigungsanwendungen virtualisiert und skaliert mit vollintegrierten Toolketten in der Cloud zu entwickeln und als digitalen Zwilling automatisiert zu testen, um Entwicklungszeiten um bis zu Monate zu verkürzen.

Cloud Solutions Canvas zur iterativen Entwicklung von Cloud Solutions. Quelle: PwC
Ihr Startpunkt: Der Cloud Solutions Canvas
Für die Identifizierung, Validierung und Entwicklung von Cloud- und KI-Lösungen nutzen wir den Cloud Solutions Canvas. Dieses Framework fasst unsere Erfahrungen und Best Practices aus früheren Projekten in fünf fundamentalen Perspektiven zusammen, die entlang zentraler Annahmen sukzessive konkretisiert werden:
1. Kunde:
Der Ausgangspunkt des Canvas sind entweder a) Schmerzpunkte (bedarfsorientiert) oder b) Disruptoren (innovationsgetrieben). Schmerzpunkte beziehen sich auf bislang ungelöste Bedürfnisse, Probleme oder Ineffizienzen im Unternehmen. Disruptoren sind neue, innovative Technologien, die bestehende Abläufe, Produkte oder Dienstleistungen ersetzen oder neu kombinieren, um den Kundennutzen zu erhöhen. Basierend auf diesen Schmerzpunkten oder Disruptoren werden relevante Kunden(gruppen), Industriesektoren oder Funktionen identifiziert und das Potenzial durch die Adressierung der Schmerzpunkte bzw. die Umsetzung der Disruptoren quantifiziert.
2. Produkte/Services:
Im nächsten Schritt wird das Wertversprechen anhand konkreter Nutzerszenarien definiert und gegenüber bestehenden Alternativen abgegrenzt. Entscheidend ist hierbei, über welche funktionalen Fähigkeiten die Solution verfügen muss, um den relevanten Mehrwert für den Kunden zu liefern, z. B. die prädiktive Erstellung von Einsatzplänen und die automatisierte Vorbestellung von Ersatzteilen für ein Wartungsteam in einem großen Chemiewerk unter Berücksichtigung stündlicher Rückmeldungen der Teams mittels Sprachnachrichten.
3. Fähigkeiten:
Nach der Definition der funktionalen Eigenschaften werden die technischen und nicht-technischen Fähigkeiten festgelegt. Technische Fähigkeiten umfassen unter anderem die Lösungsarchitektur, relevante Integrationen und Datenanforderungen (z. B. Formate, Qualität, Latenz, Auflösung). Nicht-technische Fähigkeiten berücksichtigen Aspekte wie Prozess-Redesign, Service-Level-Agreements,
Fähigkeitsprofile, Weiterbildungsmaßnahmen, rechtliche Themen wie Compliance (z. B. EU AI Act), Sicherheits- und Risikomanagement sowie potenzielle Make-or-Buy-Entscheidungen.
4. Market & Kapital:
Gemäß einer produktorientierten Denk- und Arbeitsweise werden für die Solution Markt- und Kapitalmaßnahmen definiert. Dies gilt ebenso für unternehmenseigene Lösungen, bei denen interne Stakeholder die Kunden sind. Dazu gehören die Preisgestaltung sowie ein Marketing- und Vertriebsplan, der die relevanten Kundengruppen auflistet und die notwendigen Materialien (z. B. Dokumentation, Demos, Schulungen) für eine erfolgreiche Einführung beschreibt. Der Vertriebsplan definiert zudem die erwarteten zukünftigen Umsätze oder Einsparungen durch die Solution. Diese werden im Business Case mit den erwarteten Investitionen und laufenden Kosten (z. B. Team, Cloud-Services) zu einer ganzheitlichen Sicht inklusive finanzieller Kennzahlen kombiniert.
5. (Kontinuierliche) Umsetzung:
Der abschließende Schritt umfasst die detaillierte Planung der Lösungsentwicklung und -bereitstellung. Dabei werden der technische Projektplan, die Feature Roadmap und die erforderlichen Ressourcen beschrieben, um die Lösung zu erstellen und anschließend im Rahmen der definierten Service-Level-Agreements zu betreiben. Für eine erfolgreiche Umsetzung sind neben typischen Meilensteinen und Abnahmekriterien insbesondere die Akzeptanz und Validierung durch die tatsächlichen Nutzer entscheidend (z. B. Aktivierung, Engagement) sowie eine kontinuierliche Weiterentwicklung durch Integration von Feedback, die Adressierung weiterer Schmerzpunkte oder die Umsetzung neuer technischer Disruptoren.
Fazit
Die europäische Automobil- und Fertigungsindustrie steht unter massivem Veränderungsdruck – aber genau darin liegt auch ihre Chance. Der Schlüssel zur nachhaltigen Differenzierung liegt nicht allein in neuen Technologien, sondern in deren konsequenter Skalierung, strategischer Nutzung und tiefer Integration. Unternehmen, die Cloud- und KI-Lösungen agil und visionär einsetzen, können aus Technologie echte Wertschöpfung machen. Jetzt ist die Zeit für mutiges Handeln – bevor Innovationsvorsprung zur Commodity wird.