Das Thema Nachhaltigkeit wirkt sich im Retail zunehmend nicht nur auf das Image aus, sondern auch auf das Geschäft. Bloßes Greenwashing war vorgestern, heute gilt es, Nachhaltigkeit in all ihren Facetten zu leben, zu managen und in den verschiedenen Formatdimensionen zum Ausdruck zu bringen. Nachhaltige Sortimente und Leistungen in die Auslage zu stellen, ist für Retailer eine herausfordernde Aufgabe, da die gesamte Lieferkette auf den verschiedenen Stufen zu betrachten und auszurichten ist.
Nachhaltigkeit ist längst kein Trend mehr, sondern Realität. War das Thema für die meisten Unternehmen bis vor kurzem ein Nice-to-have, wird es in den Bereichen Konsumgüter und Handel zentraler Differenzierungsfaktor mit enormer Kundenrelevanz. 88 Prozent der Verbraucher wollen, dass Marken ihnen helfen, durch nachhaltige Kaufentscheidungen den individuellen ökologischen Fußabdruck zu minimieren. Eine 2019 erschienene Studie zeigt, dass nachhaltige Produkte 2018 mit einem Umsatz von 114 Milliarden Dollar 16,6 Prozent des Marktvolumens ausmachten – zu 2013 eine Steigerung von knapp einem Drittel. Darüber hinaus wachsen Marken, die für Nachhaltigkeit stehen, um das 5,6-fache schneller.
Das Spiel hat sich gedreht, Nachhaltigkeit ist vom Zusatznutzen zum Erfolgstreiber mit direkter Wirkung auf Markenimage und letztlich das Geschäft geworden. Viele Brands, welche diese Haltung nicht ausreichend inhaliert haben, leiden schon heute unter Burnout und werden von Kunden zunehmend boykottiert.
Nachhaltigkeit hat Potenzial
Im Retail kann nachhaltiges Handeln Kunden binden bzw. neue Kundengruppen erschließen, aber auch Innovationstreiber sein. In den Operations des Handels per se wird im Hinblick auf die gesamten Wertschöpfungs- und Lieferketten ein geringer Ressourcenanteil verbraucht. Der Löwenanteil und damit großes Ressourceneinsparpotenzial liegen backstage in den vorgelagerten Wertschöpfungsstufen. Hier geht es u.a. um energieeffiziente Produktion und Logistik oder weitere Aspekte wie nachhaltige Bauweisen.
IKEA ist zum Beispiel auf möglichst flache Verpackungen umgestiegen, sodass größere Mengen in die Versandcontainer passen, wodurch sich im Transport die Gesamtemissionen reduzieren. MPREIS, der durch die Ästhetik der Filialen auffallende Lebensmittelhändler aus Tirol, beabsichtigt, eine mit Ökostrom betriebene Elektrolyseanlage zu bauen, um seine LKW-Flotte mit Wasserstoff zu versorgen. Solche Initiativen liefern zwar einen positiven ökologischen Beitrag, erzeugen nach außen jedoch kaum Wirkung in Bezug auf die Wahrnehmung am Markt.
Nachhaltigkeit passiert im Sortiment
Wenn es um Nachhaltigkeit im Retail geht, ist das Sortiment entscheidend. Im Food zeigt sich das immer deutlicher. Bio, vegan, free from, Superfood, Detox etc. boomen – meist auch zugunsten einer verbesserten Umweltbilanz. Zudem steckt in diesen Ernährungstrends hohes Innovationspotenzial für Retailer. Sortimentsübergreifende Eigenmarkenkonzepte bieten sich ebenso an wie die gezielte Einlistung von Startups. Wie schnell neue Marken etablierte Kategorien und Marken ins Wanken bringen, demonstrieren die Erfolge von Bilou im Kosmetikbereich von dm oder die pflanzliche Burger-Variante der Marke Beyond Meat.
Idealerweise reichen solche Konzepte noch weiter und vereinen die ökologische und soziale mit der ökonomischen Dimension, z.B. durch die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe. Über Auswahlkriterien für Lieferanten und Sortiment können Retailer enormen Einfluss darauf nehmen. Viele Fortschritte lassen sich insbesondere zusammen mit anderen Wertschöpfungsstufen realisieren, z.B. mit Rohstofflieferanten, Forschungslabors, Verarbeitern. So ist es P&G mit Ariel 3in1 gelungen, im Vergleich zu Flüssigwaschmitteln mit zehn Mal weniger Wasser auszukommen.
Eine noch engere vertikale Verflechtung von Händlern und Herstellern wird erforderlich sein, um weitere Fortschritte zu erzielen. Der Retail wird mehr Verantwortung für den gesamten Leistungserstellungsprozess übernehmen müssen, denn am POS stehen Kunden, die nicht nur immer höhere soziale und ökologische Anforderungen, sondern auch kritische Fragen stellen.
Etwas einfacher haben es vertikalisierte Brands. Burberry beispielsweise verwendet in seinen Produkten nur noch 100 Prozent nachhaltig produzierte Baumwolle. Über 160.000 Baumwollbauern werden dafür in ganz Asien in nachhaltigen Anbaumethoden geschult. Lush – die Trendmarke für frische handgemachte Kosmetik – verzichtet wo es geht auf Verpackungen. Die kleinen Töpfchen aus recyceltem Kunststoff, in denen Cremes und Lotions verpackt sind, werden in den Filialen zurückgenommen und wiederverwertet. Nachhaltig Handeln können aber nicht nur die „Großen“. Der österreichische Parketthersteller Weitzer verzichtet seit vielen Jahren gänzlich auf Tropenhölzer und sourct sogar mehr als die Hälfte des Holzes aus eigener nachhaltiger Forstwirtschaft. Das geführte Sortiment ist also wesentlich, um Nachhaltigkeit am POS zu materialisieren und letztlich glaubwürdig zum Markt hin zu besetzen.
Tue Gutes und rede darüber – aber konkret
Die Kommunikation von Nachhaltigkeit spielt sich bei vielen Marken auf Ebene der Corporate Communication ab. Das reicht jedoch nicht, um sich kaufentscheidungsrelevant zu positionieren! Weit wirkungsvoller ist der direkte Leistungsbezug – insbesondere direkt am POS.
Fragen, mit denen sich der Handel auseinandersetzen muss, lauten daher: Wie soll die Nachhaltigkeits-Kompetenz an den Kontaktpunkten materialisiert werden? Was sind die zentralen Botschaften? Welche konkreten Leistungsbeweise – nicht bloße Leistungsversprechen – können angeführt werden, wenn es um Zutaten oder Produktbestandteile, Herstellungsverfahren, CO2-Abdruck oder Sozialstandards geht?
Basis dafür sind entsprechende KPIs, Zertifikate und Belege, um dies transparent und glaubhaft zu belegen. Denn Retail-Marketing darf kein Greenwashing sein. So kann auch eine 10-MillardenDollar-Spende von Jeff Bezos für den Klimaschutz nicht über Amazons Defizite bei Arbeitsbedingungen oder die massenhafte Vernichtung zurückgesandter Produkte hinwegtäuschen. Gutes Retail-Marketing soll vielmehr die verschiedenen Aspekte der Nachhaltigkeit entlang der gesamten Wertschöpfungskette und Customer Experience glaubhaft und attraktiv vermitteln.
Natürlich soll die nachhaltige Haltung des Retailers auch stationär zum Ausdruck kommen. Wie nachhaltig wird gebaut? Welche Materialien werden eingesetzt? Wie zeigt sich Nachhaltigkeit in der Designsprache? Die ganzheitliche Bearbeitung des Themas Nachhaltigkeit spielt sich nicht nur auf kommunikativer Ebene ab. Neben der Produkt- und Sortimentsebene ist auch das Gestaltbild des gesamten Retail-Formats entscheidend, um das Thema glaubhaft und ganzheitlich – ökologisch, sozial und ökonomisch – zu besetzen.
Der Autor: Dr. Markus Webhofer ist Gründer und Managing Partner des Institute of Brand Logic, einer Beratungsboutique zur Führung von markenorientierten Unternehmen. Im Kompetenzfeld Retail entwickelt das Institut führende Retail-Formate und begleitet deren Umsetzung. U.a. zählen die Spar Gruppe Österreich, MPREIS, dm Drogeriemärkte, Audi, SOS-Kinderdorf, Schär, Neuburger oder Swarovski zum Kundenkreis des Instituts. Markus Webhofer ist auch Dozent im In- und Ausland sowie Autor von diversen Publikationen.