„Der Druck auf Unternehmen steigt exponentiell“

Das Thema Nachhaltigkeit setzt Unternehmen immer stärker unter Druck. „Gesellschaft, Kunden, Mitarbeiter und Finanzierer verlangen zeitgleich belastbare Aussagen sowie messbares verändertes Handeln“, beobachtet Burkhard Wagner, Geschäftsführer der Strategieberatung ADVYCE. Parallel dazu steigt der Anspruch an die Forschung, Lösungen für mehr Nachhaltigkeit zu finden. „Wir dürfen nicht überall den Weg der Komplexitätsreduktion wählen“, mahnt im folgenden Interview Prof. Dr.-Ing. Karsten Lemmer, Mitglied des Vorstandes des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR)

Corona hat die Frage nach der Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse und Aussagen für die
Politik in die öffentliche Debatte gehoben. Wie offen ist die Wirtschaft in dieser Frage?

Wagner: Die Frage ist ja nicht neu, siehe „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome. Aber der gesellschaftliche Druck ist heute nochmal ein ganz anderer. Die Transferfähigkeit und -bereitschaft muss an mancher Stelle noch deutlich geschärft werden. Wir brauchen hohe Innovationsgeschwindigkeit, neue Technologie-Konzepte – denken Sie an Wasserstoff, Batterietechnologie oder Mobilität. Und das geht nur in enger Zusammenarbeit.
Lemmer: Es ist die Verantwortung der Forschung, die Innovationspipeline zu füllen, nicht nur mit Blick auf kurzfristigen Markterfolg. Wir brauchen industrielle Lösungen von Morgen. Auch die Wissenschaft muss sich öffnen, um ihre Forschung an den realen Bedarfen zu orientieren. Etwa wenn es um Zeitschienen der Wirtschaft geht oder wenn es darum geht, bestehende Ansätze mit Großforschungsinfrastrukturen zu testen und zu skalieren. Und wir müssen auch frühere Ideen gemeinsam und immer wieder neu bewerten. Wir brauchen parallele Lösungswege, denn wir wissen nicht im Voraus, wo der größte Hub entsteht.
Um Forschungsideen erfolgreich weiterzuentwickeln, hilft es, die Dimensionen Effizienz, Wirtschaftlichkeit, Praktikabilität und Wechselwirkungen im Gesamtsystem sowie die gesellschaftliche Akzeptanz bei einer wissenschaftlichen Entwicklung zu betrachten. So etwas führt dann zu nachhaltigen Innovationen.

Was sind die Themen, die Ihre Kunden am drängendsten umtreiben?

Wagner: Der Druck auf Unternehmen steigt exponentiell und das von ganz unterschiedlichen
Seiten – der Öffentlichkeit, Nichtregierungsorganisationen, der Politik. Gesellschaft, Kunden,
Mitarbeiter und Finanzierer verlangen zeitgleich belastbare Aussagen und planvolles sowie messbares verändertes Handeln. Die Vereinbarkeit von Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit ist aber oft ungeklärt: Wer zahlt letztlich für Nachhaltigkeit?
Lemmer: Wir beobachten auch, dass der Anspruch an Lösungen aus der Forschung hin zu „mehr Nachhaltigkeit“ steigt. Wir versuchen durch Gesamtsystemanalyse und -betrachtung darzustellen, dass innovative, nachhaltige Technologien nicht immer teurer sind. Es kommt ja auf den Zeithorizont an, was unterm Strich teurer ist: Jetzt in Infrastruktur und Technologien zur CO2-freien Energieerzeugung und -nutzung zu investieren, wird sich langfristig finanziell auszahlen.

Wo findet der stärkste Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft statt?

Wagner: Im Energie- und Mobilitätssektor sind aktuell viele funktionierende Modelle zu beobachten, aber auch in der Medizin, Biotech, Robotik / Industrie 4.0 – hauptsächlich dort, wo Innovationen für das Geschäftsmodell entscheidend sind oder wo die EU-Taxonomie am komplexesten einwirkt, etwa bei Lieferketten, Flug oder Herstellung.
Lemmer: Jenseits von Branchengrenzen kooperieren Wissenschaft und Wirtschaft gewinnbringend auf ganz verschiedenen Ebenen. Einerseits, wenn es um konkrete Technologieentwicklung und -skalierung geht, andererseits schon in frühen Innovationsphasen, wenn das „Produkt“ noch gar nicht klar umrissen ist – einfach um Chancen nicht ungenutzt zu lassen. So arbeitet das DLR mit verschiedenen Akteuren des Energiesektors zusammen, um im Strukturwandel den Umbau von fossilen Kraftwerken in Energie-speicherkraftwerke zu schaffen. Oder mit einem Industriepartner, um einen Wasserstoffverbrennungsmotor für schwere Baumaschinen zu entwickeln. Und natürlich ist auch der Knowhow-Transfer über Menschen wichtig: Wissenschaftler wechseln mit hoher Expertise in die Industrie oder gründen sogar eigene Unternehmen, die die Wirtschaft dann eben auch nachhaltig beflügeln.

Reicht der Weg des gesellschaftlichen „Ausverhandelns bis zum Kompromiss“, um der Herausforderungen der Klimaziele Herr zu werden?

Wagner: Mit Kompromissen allein lässt sich das Klimaziel vermutlich nicht erreichen. Auch Corona zeigt ja, dass wir da gesellschaftlich langsam an unsere Grenzen stoßen. Die Vielzahl an Informationskanälen und der millionenfach multiplizierte, permanente Dialog erfordern neue Verhaltensregeln, aber auch anders agierende Politiker. Absolute Transparenz sorgt da leider eben nicht für Klarheit, sondern für Unübersichtlichkeit – so mancher flieht dann in ideologischen Nonsens, der aber vermeintlich Komplexität reduziert.
Lemmer: Wir dürfen nicht überall den Weg der Komplexitätsreduktion wählen, sondern müssen uns mache Dinge sehr eingehend anschauen. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es auch Lösungen, die nicht zwingend ein Kompromiss sind – aber vielleicht länger brauchen, aktuell noch zu teuer sind oder noch zu kleinskalig. Deswegen ist Technologieoffenheit so wichtig und die Kooperation mit der Industrie von Beginn an.
Ein gutes Beispiel ist Wasserstoff- und Elektro-Mobilität. Es geht hier nicht um Pro und Contra
bei nur einem Verkehrsträger, sondern darum, Systemdimension aufzumachen und mehrere Elemente der Mobilität zu verändern: zum Beispiel  statt Lieferauto in der Stadt ein Lastenrad, Lieferdrohnen für bestimmte Dienste, automatisierter Bedarfsverkehr für weniger Individualverkehr oder mehr Güterverkehr auf der Schiene – jeweils mit unterschiedlichen Antriebstechnologien. Forschung bedeutet, Wege aus einer Problemsackgasse aufzuzeigen. Aber: Nachhaltigkeitsbewertung und Abwägung – zum Beispiel Ökonomie versus Umweltschutz versus soziale Nachhaltigkeit – sind nicht wissenschaftlich entscheidbar, sondern ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess – sinnvollerweise faktenbasiert.

Welche Rolle spielen Nichtregierungsorganisationen in der ganzen Debatte – und gibt es da einen Austausch mit dem DLR?

Lemmer: In Nichtregierungsorganisationen arbeiten auch viele Wissenschaftler, und natürlich gibt es da Austausch. Wir sind zum Beispiel in Fachverbänden oder Netzwerken mit vielen Akteuren im Gespräch, auch Nichtregierungsorganisationen. Das DLR sieht sich eher in der Vermittlerrolle. Beispiel Windenergie: Wir bauen im Norden einen Forschungspark Windenergie. Da stehen wir permanent im Dialog mit allen betroffenen Akteuren.

Ist die EU-Taxonomie-Verordnung der richtige Hebel?

Wagner: Steuerung braucht normierte und verlässliche Transparenz. Natürlich wird aber eine Regulierung oft als Kontrast zu Offenheit, Neugierde und Unternehmertum verstanden.
Lemmer: Aus wissenschaftlicher Sicht wünschen wir uns Planbarkeit und verlässliche Transparenz, denn für die Kooperation mit der Wirtschaft sind schlicht Experimentierräume und gute Rahmenbedingungen nötig.

Warum beschäftigt sich eine Strategieberatung mit dem Thema Nachhaltigkeit?

Wagner: Wir arbeiten an Themen, die Vorstände oder Aufsichtsräte gerade am drängendsten beschäftigen, und das Thema Nachhaltigkeit gehört ganz sicher dazu. Die richtige Strategie ist für die langfristige Ausrichtung eines Unternehmens entscheidend; jetzt werden bei ganz wichtigen Zukunftsfragen – etwa im Bereich der Taxonomie, aber auch in Sachen Image – Weichen gestellt. Da braucht es Orientierung und den Blick von außen.

Welche Branchen sind aus Ihrer Sicht in Sachen Nachhaltigkeit am weitesten?

Wagner: Profitabilität ist ein Treiber. Das heißt, wer die Taxonomie am besten einpreisen kann, geht voran. Eine moderne Führungskultur, junge Mitarbeiter, digitale Geschäftsmodelle sind ebenfalls Treiber. Und: Alle Unternehmen, die visionär denken und arbeiten, müssen stark wissenschaftlich vernetzt sein.
Lemmer: Die Partner aus den DLR-Kernbranchen Luftfahrt, Raumfahrt, Verkehr, Energie blicken intensiv auf das Thema Nachhaltigkeit – ihre Wettbewerbsfähigkeit hängt ja davon ab. Es gibt hier viele Beispiele gemeinsamer Entwicklung: Wir nutzen ein umgebautes Flugzeug, um gemeinsam mit einem Industriepartner den Brennstoffzellen-Antrieb für Regional- und Kurzstrecke zu entwickeln. Wir gestalten den modularen Fahrzeug-Prototypen „U-Shift“ für automatisierten und elektrischen Liefer- und Personenverkehr gemeinsam mit Industriepartnern, kleinen und mittleren Unternehmen und Zulieferern. Schiffbauer und Fährbetreiber arbeiten gemeinsam mit uns daran, den Fährbetrieb mit „grünem“ Wasserstoff ökologisch und ökonomisch zu bewerten. Schienenverkehrsunternehmen entwickeln mit uns Digitalisierung, Leichtbau, Komfort und nachhaltige Antriebe im Schienenverkehr weiter. Behörden nutzen exakte Satellitendaten zur Zustandserfassung des globalen Waldbestands. Viele Unternehmen schauen auch auf die Entwicklung von Hochtemperatur-Wärmepumpen beim DLR für die industrielle Wärmewende, wie es sie in der Leistungsklasse bisher nicht gibt, aber dringend braucht.

Wo haben die Unternehmen denn den größten Nachholbedarf?

Wagner: Das „G“ in Environmental, Social, Governance (ESG) ist weitgehend noch nicht umgesetzt. Daten fehlen, Messmethoden sind nicht geübt, finale Regeln und Rahmenwerke fehlen als Orientierung. Es gibt auch noch viel zu selten qualitativ belastbare Benchmarks entlang zentraler Wertschöpfungsketten.

Wo stehen Sie selbst als Unternehmen mit Blick auf Nachhaltigkeit?

Lemmer: Forschung hat hier zwei Perspektiven: Wir können auf nachhaltige Weise forschen. Das DLR hat schon vor über 20 Jahren begonnen, dies in seiner strategischen Gesamtausrichtung zu verund bezieht es – zusätzlich zu seinen Forschungszielen – auf Organisationsführung, Infrastrukturen, die Gestaltung eines zukunftsfähigen Personalmanagements, Dienstreisen und weiteres. Die zweite Perspektive: Wir forschen für Nachhaltigkeit. Das bedeutet, kraft unseres Wissens herauszufinden, wie eine Transformation hin zu einem nachhaltigeren Leben auf unserem Planeten möglich ist. Also beispielsweise Energie- und Verkehrsforschung oder auch Erdbeobachtung und Klimaforschung zu betreiben. Das ist nicht nur Klimaschutz, sondern umfasst alles, was den Umgang mit den Ressourcen auf unserem Planeten verbessert.
Im besten Fall haben wir das Privileg, als Forschungseinrichtung eine innovative nachhaltige
Technologie an unseren Standorten selbst zu testen. Beispiel „eChiller“: Am DLR-Standort Weilheim wird zur Kühlung der Server eine neuartige und umweltschonende Kühlungsmethode getestet. Die Kältemaschine verwendet Wasser als Kältemittel, dadurch ist es deutlich umweltfreundlicher als andere Kältemittel. Das Prinzip basiert auf der Direktverdampfung, Verdichtung, Kondensation und der Entspannung von Wasser beziehungsweise Wasserdampf in einem geschlossenen Kreislauf.
Zudem gibt es durch die Verwendung von Wasser weniger Verschleißteile, geringeren Wartungsaufwand und es sind keine Sicherheitsvorkehrungen für giftige und klimaschädliche Stoffe nötig.
Wagner: Wir sind als Dienstleister gewissermaßen Teil des Problems für unsere Kunden, wenn wir unseren Fußabdruck nicht geeignet reduzieren. Wir haben ein eigenes internes Team aufgesetzt und wesentliche Maßnahmen wie Reiseverhalten, Fuhrpark, Strom-/Energiebezug, Getränke etc. deutlich angepasst.

Welche Rolle spielen Bewusstsein und Haltung der Mitarbeitenden für die Entwicklung?

Wagner: Haltung ist wesentlich dafür, dass der Wandel gelingt, sie bestimmt Richtung und Geschwindigkeit der Veränderung. Wie ernst Absichten sind, erfährt man letztgültig ja leider meist erst, wenn es wehtut. Um auch in Sachen Nachhaltigkeit Vorreiter zu sein, brauchte es allerdings früher deutlich mehr Visionskraft als heute, wo die Fakten auch dem Letzten klar sein sollten.
Lemmer: In der Wissenschaft ist die Überzeugung von einer sinnvollen Aufgabe wichtig und glücklicherweise auch eher die Regel; meist will man etwas für die Gesellschaft tun. Die Forschung denkt zumeist früh und kontinuierlich über die Auswirkungen ihres Tuns nach. Da ist Nachhaltigkeit sehr präsent. Haltung und Bewusstsein schafft man aber letztlich nur über Verhalten und Vorleben – und das täglich.

Die Autoren:
Prof. Dr.-Ing. Karsten Lemmer
(57) ist im Vorstand des Deutschen Zentrums für Luft und Raumfahrt (DLR) verantwortlich für das Ressort „Innovation, Transfer und wissenschaftliche Infrastrukturen“. Wesentliche Handlungsfelder sind für ihn die Erschließung von Innovationen aus der Forschung, der Transfer von Know-how und Technologien sowie Großforschungs-anlagen für exzellente Forschungsergebnisse und größere Technologiereife.

 

 

 

Burkhard Wagner (53) ist Gründer und Geschäftsführer der Strategieberatung ADVYCE. Er besitzt mehr als 20 Jahre Erfahrung in der strategischen Beratung von Vorständen, Aufsichtsräten und Geschäftsführungen großer und mittlerer Unternehmen. Wagner engagiert sich zudem in zahlreichen karitativen Einrichtungen und ist Geschäftsführer der non-Profit-Organisation Edu-Sense, die die digitale Bildung an Schulen vorantreibt