Den Daten der Geschäftsprozesse auf der Spur

Mit Process Mining eröffnet sich die Chance, ein aktuelles Bild der tatsächlichen Abläufe im Unternehmen zu erhalten. Das Verfahren ermöglicht es, aus den Datenspuren der Prozessabläufe wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen – zum Beispiel ob bei der Prozessausführung Compliance-Regeln eingehalten oder verletzt wurden, an welchen Stellen Kapazitätsengpässe entstehen, ob von vorgesehenen Kapazitätszuordnungen abgewichen wurde oder wie sich Durchlaufzeiten und Qualität verhalten.

Die Optimierung von Geschäftsprozessen ist seit den 1990er Jahren der organisatorische Fokus bei der Einführung von Unternehmenssoftware und wird als Business Process Management (BPM) bezeichnet. Ein BPM-Projekt beginnt mit der Auswahl der zu reorganisierenden Geschäftsprozesse aus der Digitalisierungsstrategie des Unternehmens. In einer kurzen Ist-Analyse werden sie in einem Ist-Prozessmodell grafisch abgebildet und auf ihre Schwachstellen analysiert. Anschließend werden die neuen Prozesse definiert und ebenfalls grafisch dokumentiert. Die Modelle werden mit Hilfe von BPM-Tools, zum Beispiel nach dem vom Verfasser entwickelten ARIS-Konzept, erstellt und in der Prozessmodelldatenbank verwaltet.

Im nächsten Schritt wird aus dem Soll-Prozessmodell die benötigte Software bestimmt. Dieses kann einmal durch das Customizing einer Standardsoftware geschehen oder durch die Entwicklung bzw. Generierung einer Individuallösung mit Hilfe eines workflow-orientierten Business Process Management Systems (BPMS). In beiden Fällen steht dann eine lauffähige Lösung für die neu gestalteten Geschäftsprozesse zur Verfügung und der enge BPM-Ansatz „von der Problemerkennung bis zum lauffertigen Anwendungssystem“ ist abgeschlossen.

Aber erst die anschließende Ausführung der Prozesse zeigt, ob sich der erwartete Nutzen eines BPM-Projektes einstellt.

Vom Business Process Management zum Process Mining

In Theorie und Praxis richtet sich deshalb das Interesse immer mehr von der generellen Beschreibung einer typischen oder optimalen Prozessstruktur auf die Ausführung der einzelnen Geschäftsprozesse, der sogenannten Prozessinstanzen.

Theoretisch sollen die Instanzen dem Geschäftsprozessmodell beziehungsweise der mit seiner Hilfe konfigurierten Software folgen. Das ist aber nur der Fall, wenn keine unvorhergesehenen Abweichungen auftreten. Alle Abläufe sind dann vordefiniert und laufen automatisch ab – was aber eben nur in der Theorie der Fall ist. In der Realität treten dagegen Änderungen in den vorgesehenen Zuordnungen von Organisationseinheiten wie Personen oder Maschinen zu Funktionen auf; es ergeben sich Fehler, Nacharbeiten oder es entstehen technische Störungen. Der Mensch greift dann ein und ändert ad-hoc Abläufe gegenüber dem Soll-Modell.

Derartige Abweichungen begründen das Interesse an der Ausführung realer Prozessinstanzen und eröffnen das Gebiet des Process Mining. Obwohl die ersten Entwicklungen auf die frühen 1990er Jahre zurückgehen, rückt es erst in den letzten Jahren in den Fokus von Theorie und Anwendung.

Die Log-Dateien liefern die Daten

Die einzelnen Prozessabläufe hinterlassen aus den Ausführungssystemen Datenspuren in Form von Ereignismeldungen in sogenannten Log-Dateien, die dann dem Process Mining für Auswertungen zur Verfügung stehen. Während das BPM von der Ist-Analyse über Soll-Modellerstellung bis zur Softwareimplementierung von den Prozessmodellen getrieben ist, wird nun die Auswertung der Prozessausführung primär von Daten gesteuert.

Es geht also darum, aus den Datenspuren der Prozessabläufe unerwartete Muster und Zusammenhänge zu erkennen und diese in gut verständlicher, häufig grafischer Form aufzubereiten.

Im ersten Schritt werden die Spuren der Geschäftsprozesse während ihrer Ausführung in einer Log-Datei erfasst und ihr Verhalten beobachtet (Process Monitoring). Die wesentlichen erfassten Ereignisse in der Log-Datei sind Beginn und Ende einer Funktionsausführung (IT-technisch entspricht dieses zum Beispiel Start und Ende einer Transaktion in einem ERP-System); aber auch organisatorische Daten wie die beteiligten Mitarbeiter können erfasst werden. Diese Daten können dem bestehenden Soll-Modell zugeordnet werden. Interessante Auswertungen sind dann zum Beispiel die Identifizierung der am häufigsten benutzten Wege innerhalb des Prozessmodells; in der Abbildung durch die Strichstärke angedeutet und die Identifizierung genauer zu analysierender Funktionen, hier durch die Häufigkeit der Bearbeitung und durch eine hohe Spannweite der Bearbeitungsdauer gekennzeichnet.

Bereits durch Auswertung der Log-Datei mit einem vorliegenden Soll-Modell können somit Anregungen für organisatorische Verbesserungen gewonnen werden. Ist aber das Soll-Modell veraltet, fehlt eine gute Basis für die Prozessanalyse. Deshalb sind Algorithmen entwickelt worden, um in einem zweiten Schritt des Process Mining aus den Daten der Log-Datei automatisch ein Ist-Modell zu generieren. Dieses kann dann wie im vorangegangenen Fall Basis für die Auswertung der Log-Datei sein.

Die automatische Generierung eines Ist-Modells anhand der Log-Datei ist auch dann sinnvoll, wenn Unternehmen erst in das Gebiet der Geschäftsprozessanalyse einsteigen wollen und noch keine Modellierung betrieben haben. Sie sparen damit aufwändige händische Modellierungsarbeiten. Allerdings fehlt bei einer reinen Ist-Betrachtung die kreative und strategische Entwicklung neuer innovativer und disruptiver Geschäftsprozesse.

Schlussfolgerungen zur Verbesserung der Prozesse

Stehen Soll-Modell und generiertes Ist-Modell zur Verfügung, so können im dritten Schritt beide Modelle miteinander verglichen werden. Aus den Vergleichen lassen sich Abweichungen ermitteln und analysieren, um dann im vierten Schritt das Soll-Modell an die Realität anzupassen.

Der fünfte Schritt zeigt den großen Nutzen des Process Minings. Hier werden alle Analyseergebnisse ausgewertet und zu Handlungsvorschlägen zur organisatorischen Verbesserung des Prozessmanagements genutzt.

Process Mining kann Auskunft geben, ob bei der Prozessausführung Compliance-Regeln eingehalten oder verletzt wurden, an welchen Stellen Kapazitätsengpässe entstehen, ob von vorgesehenen Kapazitätszuordnungen abgewichen wurde, wie sich Durchlaufzeiten und Qualität verhalten usw. Typische Maßnahmen zur Verbesserung sind Schulung von Mitarbeitern zur Vermeidung von Bearbeitungsfehlern, strengere Einhaltung von organisatorischen Regeln sowie Anpassung der Software an neue Anforderungen.

Automatisch Schlussfolgerungen zur Verbesserung der Prozesse zu ziehen, erfordert den Einsatz komplexer Methoden aus KI, insbesondere des Machine Learning. Dieses Gebiet befindet sich noch im Forschungsstadium.

Treten gravierende Änderungen im Umfeld des Prozesses auf, die zu einer grundsätzlichen Überprüfung der Prozessstruktur Anlass geben, oder soll eine neue Anwendungssoftware eingeführt werden, kann der strategische BPM-Ansatz neu begonnen werden.

Die Ergänzung des BPM-Ansatzes um das Process Mining, insbesondere auch durch den Einsatz von KI-Techniken, führt zu einer neuen Qualität des Prozessmanagements und wird deshalb als intelligent BPM (iBPM) bezeichnet.

Kombination von Process Mining und Robotic Process Automation

Eine interessante Verbindung besteht zwischen Process Mining und Robotic Process Automation (RPA). Bevor ein Softwareroboter entwickelt und die Arbeit eines Sachbearbeiters übernehmen kann, müssen zunächst die Arbeitsschritte des Sachbearbeiters detailliert erfasst werden. Hierzu werden Verfahren des Process Mining eingesetzt, indem die Tätigkeiten des Sachbearbeiters wie Anmelden bei einem IT-System, Aufruf einer Transaktion, Eingabe von Daten auf der „Klick“-Ebene verfolgt und dokumentiert werden. Dieser als Recording bezeichnete Vorgang ist dann Ausgang für die Entwicklung des Roboters.

Das bisher beschriebene Process Mining untersucht in Zeitabständen die abgelaufenen Prozessinstanzen. Diese sind selbst nicht mehr beeinflussbar, sondern die gewonnenen Erkenntnisse können nur zu organisatorischen Verbesserungen für zukünftige Prozessabläufe genutzt werden. Deshalb wird mit dem Konzept Operational Performance Support angestrebt, die laufenden Prozessinstanzen zu beobachten und während ihrer Bearbeitungszeit zu beeinflussen. Dazu zählen Prognoseverfahren, um frühzeitig Qualitätsfehler zu erkennen und weitere Bearbeitungsschritte zu vermeiden. Auch real- time-Lernhilfen können in Problemsituationen den Bearbeiter unterstützen.

Das Process Mining wird gegenwärtig intensiv wissenschaftlich bearbeitet. Ziel dieser Forschungen ist es, das Process Mining durch Entwicklung komplexer Algorithmen nahezu vollständig zu automatisieren. Der Verzicht auf den Einsatz menschlichen Fachwissens führt aber zum Teil zu einer überhöhten Komplexität der Algorithmen für Aufgaben, die ein erfahrener Prozessmanager intuitiv leicht und besser erledigen kann. Hier ist eine Kombination aus Automatisierung und Fachwissen sinnvoller.

Unter Leitung des Verfassers wurde bereits Anfang der 90er Jahre von der damaligen IDS Scheer AG das System ARIS PPM (Process Performance Manager) als eines der ersten Process-Mining-Softwareprodukte entwickelt und seitdem international erfolgreich eingesetzt.

Inzwischen gibt es ein immer breiteres Angebot an kommerziellen Softwaresystemen zum Process Mining. Auch bieten Hersteller von Anwendungssoftware Process-Mining-Funktionen zur Unterstützung ihrer Software an, so zum Beispiel die Scheer GmbH mit ihrer Softwaresuite „Scheer PAS“.

Literatur:

Van der Aalst, W. (2011), Process Mining – Data Science in Action, Springer Verlag

Scheer, A.-W. (2018), Unternehmung 4.0 – Vom disruptiven Geschäftsmodell zur Automatisierung der Geschäftsprozesse, AWSi Publishing, Saarbrücken

Der Autor: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. August-Wilhelm Scheer ist einer der prägendsten Wissenschaftler und Unternehmer der deutschen Wirtschaftsinformatik und Softwareindustrie. Als Unternehmer und Politikberater arbeitet er aktiv an der Ausgestaltung der Digital Economy. Prof. Scheer hat mehrere IT-Unternehmen mit den Schwerpunkten SoftwareEntwicklung und IT-Beratung gegründet. Zu dem gegenwärtigen Unternehmensnetzwerk mit fast 1.000 Mitarbeitern gehört auch die Scheer GmbH, die mit rund 600 Mitarbeitern IT-Beratungs- und Implementierungsprojekte durchführt.

„Die Interpretation bleibt Domäne des Prozessmanagers“

Herr Prof. Scheer, klassischerweise werden Geschäftsprozesse in Unternehmen durch Techniken wie Interviews oder Workshops erfasst, beschrieben und optimiert. Wird diese Vorgehensweise durch Process Mining bald komplett ersetzt?

Scheer: Die reine Erfassung der Funktionen eines Geschäftsprozesses und ihrer Reihenfolge, der sogenannten Kontrollstruktur, kann durch Techniken des Process Mining zur Prozessmodellgenerierung weitgehend ersetzt werden. Zur Analyse, Beurteilung und Verbesserung der Prozesse ist aber vor allem fachliche Kreativität und Erfahrung erforderlich, so dass der Mensch nicht ersetzt wird. Für diese Tätigkeiten können weiterhin Workshops sinnvoll sein.

Wenn ein Unternehmen die Möglichkeiten des Process Minings nutzen möchte – was sind die ersten Schritte? Worauf sollte es vor allem achten?

Scheer: Das Unternehmen sollte als erstes die wichtigsten Geschäftsprozesse identifizieren, also solche Prozesse, bei deren Verbesserung ein hoher Nutzen zu erwarten ist. Bietet die für die
Prozessausführung bereits eingesetzte Software Mining-Funktionalitäten an, dann sollte diese genutzt werden. Andernfalls sollte eine unabhängige Standardsoftware zum Process Mining ausgesucht werden. Der Aufbau der Log-Datei und die Bereitstellung von Konnektoren zu den Anwendungssystemen ist der nächste Schritt. Insgesamt muss für das Process Mining ein Projekt mit einer Organisation aus IT- und Prozessspezialisten aufgebaut werden.

Wo liegt beim Process Mining die Grenze einer sinnvollen Automatisierung? Welche Aufgaben wird ein erfahrener Prozessmanager auch in Zukunft besser erledigen können?

Scheer: Ein erfahrener Prozessmanager kennt bereits häufig die Schwachstellen seiner Organisation aus der Erfahrung. Dieses gilt aber nicht für neu eingeführte Prozesse. Hier ist also bereits eine automatische Modellierung und erste Analyse sinnvoll. Die Interpretation von Ergebnissen und die Ausarbeitung von organisatorischen Verbesserungen bleibt aber Domäne des Prozessmanagers.