Alles bleibt anders

Im internationalen Vergleich nimmt die Digitalisierung des Gesundheitswesens hierzulande spät Fahrt auf. Die AOK PLUS hat sich auf den Weg gemacht, die gesetzliche Krankenversicherung fit für die Zukunft zu machen.

Wer die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland in Frage stellt, hat sich bisher wenig Freunde gemacht. Mehr als 130 Jahre ist die Sozialversicherung alt und eine tragende Säule unseres Gesundheitswesens. Neun von zehn Menschen in Deutschland legen ihre Gesundheit in die Hände einer der gesetzlichen Krankenkassen. Sie sind deshalb unverzichtbar.

Ich sehe das anders. Gesundheitsversorgung muss von der Zukunft her gedacht werden. Sie aus dem Jetzt heraus zu betrachten heißt, nur auf heutige Herausforderungen zu reagieren. Der Blick nach vorn jedoch offenbart eine unbequeme Frage: Wer braucht in zehn Jahren noch gesetzliche Krankenkassen?

Vermutlich fallen jedem ad hoc drei oder vier große Namen ein, die in ihrer Branche ganz vorn mitmischten und dennoch vom Markt verschwanden, weil sie Trends verschlafen hatten. Krankenversicherungen sind davon nicht ausgenommen. Zwar konzentriert sich der Markt in Deutschland stetig, doch andere Player, allen voran global agierende Konzerne wie Google, Amazon oder Walmart, denken Gesundheit bereits heute neu.

„Klassische Rollen der Gesundheitsbranche werden in der Welt der individualisierten Medizin und adaptiven Versicherung völlig neu ausgehandelt“, zu diesem Ergebnis kam die Trendstudie zur Zukunft der Krankenversicherung bis 2030, die wir vor vier Jahren gemeinsam mit den Leipziger Zukunftsforschern von 2b AHEAD durchführten. Für mich war es die erste intensive Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rolle eine Krankenversicherung in der Zukunft einnehmen kann. Die des Kostenträgers, der die Beiträge an die Leistungserbringer verteilt, kann es angesichts der zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung von Abrechnungsprozessen jedenfalls nicht sein.

Auf den Prüfstand gestellt

Die Studie skizziert, welche Chancen und Risiken sich aus dem digitalen Wandel ergeben, und welche Erwartungen die Kunden an das Gesundheitswesen stellen werden. Zwei Kernpunkte möchte ich hervorheben: Technologien werden der größte Treiber im Gesundheitswesen sein, und statt nahezu alle Kräfte und Mittel auf die Heilung von Krankheiten zu konzentrieren, wird der Fokus noch mehr auf der Prävention liegen. Darin steckt ein riesiges Potential, vorausgesetzt man ist gewillt, die Branche und ihre etablierten Wertschöpfungsprozesse in Frage zu stellen. Die AOK PLUS mit ihrer Marktposition und Vernetzung in alle Bereiche des Gesundheitswesens hat die Kraft, die Gesundheitsversorgung in Deutschland maßgeblich und kundenorientiert mitzugestalten, und die Akteure flächendeckend im Sinne einer optimalen Versorgung zu vernetzen.

Den Paradigmenwechsel von Kuration zu Prävention hat die AOK PLUS längst begonnen. Seit Jahren wird überdurchschnittlich viel in Präventionsangebote investiert, angefangen von Kursen für junge Eltern über Programme für Kindertagesstätten und Schulen bis hin zum betrieblichen Gesundheitsmanagement. Wir wissen daher bereits viel über das, was unsere Kunden bewegt, und das nicht nur im Krankheitsfall.

Zu viele Einzellösungen

Im Vergleich zu anderen Lebensbereichen läuft die Digitalisierung im Gesundheitswesen zäh. Ausgerechnet ein Virus musste uns Anfang dieses Jahres vor Augen führen, welche Potenziale bisher liegen gelassen wurden. Flächendeckende Videosprechstunden, telefonisch ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, Online-Gesundheitskurse – plötzlich schien alles möglich. Digitalisierung sollte jedoch nicht um der Digitalisierung willen geschehen. Das allein macht bisher analoge Prozesse nicht besser. Digitale Transformation in der Gesundheitsversorgung darf nicht heißen, dass für jede Eventualität vom elektronischen Rezept bis zum Heuschnupfen eine eigene App entwickelt wird. Es zählt der konkrete Kundennutzen.

Zu vielen digitalen Gesundheitsangeboten mangelt es heute an Kundenzentrierung. Angebote strömen in den Markt, die von den Kunden nicht verstanden werden oder ihr Recht auf Selbstbestimmung bei der Datennutzung vernachlässigen. Anderen Akteuren wiederum fehlen Zeit und Ausstattung, um wirklich gute Lösungen zu etablieren. Zudem sprechen viele Geräte und Systeme nicht die gleiche Sprache.

Die Akteure im Gesundheitswesen haben die Lösung vieler Probleme selbst in der Hand. Allerdings unterliegen gesetzliche Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts anderen Restriktionen als in der freien Wirtschaft. Insgesamt konkurrieren mehr als 100 gesetzliche Krankenkassen, alle an das Sozialgesetzbuch gebunden, einer Aufsicht – in unserem Fall dem Sächsischen Sozialministerium – unterstellt und von politischer Reglementierung durch die Bundesregierung abhängig.

In diesem Rahmen bewegen wir uns mit Erfolg – auch wenn manche Marktteilnehmer unseren Drang nach Veränderung nicht nachvollziehen können. Verständlicherweise  stellen auch Kolleginnen und Kollegen die Frage, warum die AOK PLUS sich neu erfinden möchte. Ich will nicht verschweigen, dass ein lautes Nachdenken über die Zukunft des Unternehmens einige Unsicherheiten und Angst vor Veränderungen schürt. Das ist nachvollziehbar: Die AOK PLUS war bisher stets hierarchisch organisiert. Doch auch diese Struktur hat sich stetig weiterentwickelt, und durch diese Veränderung konnten wir uns unsere jetzige Marktposition erarbeiten. 2012 haben wir begonnen, einen Strategieprozess zu implementieren, um unseren Service und Kundenerlebnisse optimal zu managen und Versicherte zu begeistern. Aufbauend auf den Ergebnissen der Zukunftsstudie haben wir 2018 das Unternehmensprogramm „Gemeinsam Gesundheitslotse werden“ gestartet.

Der Lotse sein

Als Lotse gestalten wir das Gesundheitswesen aktiv mit, vernetzen die Akteure und begleiten unsere Kunden individuell auf dem Weg zu ihrem maximal möglichen Gesundheitslevel. Digital Health-Angebote und Projekte sind dabei Bausteine, die – wenn sie richtig eingesetzt werden – allen Beteiligten helfen: Unsere Kunden können bewusster leben, unsere Partner besser behandeln, unsere Mitarbeiter schneller entscheiden und besser beraten.

Digitale Lösungen können ganz praktische Herausforderungen überwinden: Immer mehr ältere und chronisch kranke Menschen sind zu behandeln, teure medizinische Innovationen zu bezahlen, ländliche Gebiete zu versorgen. Digitale Lösungen ermöglichen eine bessere und effizientere Gesundheitsversorgung und einen breiteren Zugang zu medizinischer Expertise insbesondere auch in ländlichen Regionen, beispielsweise in Form digitaler Hausbesuche und einem leichteren Zugang zu Videosprechstunden.

Diese Vision mit Leben zu füllen bringt für uns selbst eine grundlegende Veränderung mit sich: die Entwicklung hin zu einer agilen Organisation. Damit einhergehend wurde ein allumfassender Kulturwandelprozess angestoßen. Orientierung gibt der Purpose – die Frage nach dem Warum und Wofür der ganzen Organisation, jedes Teams und jedes Einzelnen.

Erste Meilensteine

Eine solche Transformation gelingt in einem bisher hierarchisch organisierten Unternehmen natürlich nicht von heute auf morgen. Wir haben daher entschieden, einen Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem klassischen Tagesgeschäft herauszulösen. Im Unternehmensprogramm „Gemeinsam Gesundheitslotse werden“ arbeiten 300 Menschen in agilen Teams und entwickeln neue Lösungen. Schon vor dem Start merkten wir: Das Interesse unter den Mitarbeitenden ist enorm und der Wille mitzugestalten spürbar. Dieser Enthusiasmus ist die Bestätigung, den richtigen Schritt gewagt zu haben.

Die crossfunktionalen Teams integrieren  Kunden und Partner: Ärzte, Hebammen, Apotheker, Physiotherapeuten oder Pflegeeinrichtungen stehen oftmals vor denselben Herausforderungen wie gesetzliche Krankenkassen. Wir profitieren voneinander, indem wir in gemeinsamen Projekträumen arbeiten. Zudem binden wir unsere Kunden schon bei der Ideenfindung
und der Produktentwicklung ein, damit sie die Angebote verstehen und auch nutzen.

Eine Reihe von Ergebnissen dieser Zusammenarbeit sind bereits im Einsatz. Dass auch kleine Dinge eine große Wirkung haben können, beweist dabei die Online-Hintergrund-Auskunft zur Abfrage des Zuzahlungsstatus (kurz: OHA). Die Weblösung ermöglicht Apothekern, in Sekunden zu prüfen, ob die vor ihnen stehenden Versicherten beim Einlösen eines Rezepts von der Zuzahlung befreit sind. Eine Win-Win-Win-Situation für Kunden, Apotheker und uns. In der Vergangenheit war das Nachweiskärtchen oft nicht zur Hand und ein extra Anruf bei der AOK PLUS nötig.

Ein großer Meilenstein war der Launch von yuble.de im Juli 2019. Mit dieser Website wurden wir selbst zum Plattformanbieter und machen unsere Lotsenrolle erlebbar. Im ersten Schritt ermöglicht yuble das Buchen und Verwalten von Gesundheitskursen, einem Präventionsangebot, das erfahrungsgemäß ca. 250.000 unserer Versicherten pro Jahr nutzen. Mit der Plattform haben wir eine Basis geschaffen, auf der wir perspektivisch zahlreiche weitere Prozesse integrieren und Akteure schrittweise vernetzen wollen.

Silos einreißen

Das Programm „Gemeinsam Gesundheitslotse werden“ verändert nicht nur unsere Rolle im Gesundheitswesen der Zukunft, sondern unsere gesamte Unternehmenskultur nachhaltig. Es stellt das traditionelle Verständnis von Führung in Frage, erfordert neue Freiräume, neue Lernmethoden und einen anderen Umgang mit Fehlern. Viele motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter treiben diesen Veränderungsprozess in der AOK PLUS voran. Es sind Menschen, die für ihre Themen brennen und mit Euphorie ihre Projekte voranbringen. Sie begeistern auch andere für die „neue Welt“. Wo der Wert von Kollaboration erkannt wird, werden alte Organigramme und Denk-Silos eingerissen. Eine vernetzte Organisation entsteht – eine, in der gemeinsam innovative Lösungen geschaffen werden. Das bedeutet für Führungskräfte  – auch für mich als Vorstand –, Mitarbeitenden Vertrauen zu schenken, neue Verantwortungen zu übertragen und sie mal „machen zu lassen“.

Weil die Projektteams agile Arbeitsmethoden einsetzen, werden Problemstellungen sorgfältiger analysiert und erarbeitete Prototypen immer wieder bewusst geprüft, gehen zuerst Minimal Viable Products (MVP) in den Markt und werden dann schrittweise skaliert. Zu der Arbeitsweise gehört auch, Ideen zu verwerfen und Misserfolge zu nutzen, um klüger von Neuem zu beginnen. Scheitern ist ausdrücklich erlaubt, und das erste Produkt muss nicht perfekt sein. Deshalb haben wir uns bei der Entwicklung von yuble gleich zu Beginn von dem Ziel verabschiedet, eine allumfassende Plattform auf den Markt zu bringen. Viel wichtiger war, die Idee schnell umzusetzen. Geschafft haben wir das in neun Monaten mittels agilen Arbeitens.

Weiterdenken

In allen Entwicklungsprozessen als AOK PLUS gelangen wir irgendwann zu der Frage: Können wir gemeinsam noch mehr bewegen? Mit Blick auf die digitale Transformation beantworte ich die Frage mit einem deutlichen Ja. Die Learnings aus unseren Projekten in Thüringen und Sachsen teilen wir deshalb mit anderen AOKs.

Das Klima ist günstig: Die Pandemie hat der Digitalisierung im Gesundheitswesen einen Schub verpasst, und auch der Gesetzgeber hat das Potenzial von Digital Health für eine höhere Versorgungsqualität erkannt. So sind alle Krankenkassen per Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) verpflichtet, ihren Versicherten zum 1. Januar 2021 kostenfrei eine von der Telematik zugelassene elektronische Patientenakte zur Verfügung zu stellen.

Auf dem Weg zu einem wirklich vernetzten, digitalen Gesundheitssystem stehen wir damit im internationalen Vergleich zwar noch am Anfang. Doch die Veränderungen, die ich beobachte, lassen mich optimistisch nach vorn blicken. Wir werden uns immer wieder neu erfinden.

Der Autor:  Dr. Stefan Knupfer studierte an der Universität Regensburg und promovierte zum Doktor der Wirtschaftswissenschaften. Seit 2014 ist er mit Rainer Striebel Vorstand der AOK PLUS. Mit mehr als 3,4 Millionen Versicherten ist diese die größte gesetzliche Krankenkasse in Thüringen und Sachsen und versichert jeden Zweiten in den Freistaaten. 2019 wurde sie von Focus Money als „Beste regionale Krankenkasse“ ausgezeichnet.