Agilität ist der Weg, nicht das Ziel

Überall hört und liest man von Agilität und agilen Organisationsformen. Dabei kommt schnell der Eindruck auf, „jeder sollte eine haben“ – ein bisschen wie „mein Handy, mein Dienstwagen, meine agile Organisation“. Aber Agilität ist kein Selbstzweck. Allerdings: zu prüfen, welchen Mehrwert agile Organisationsformen für ein Unternehmen haben, ist ein guter Anfang. Denn oft ist Agilität der Ausgangspunkt für eine tiefgreifende Veränderung.

Mit ihrer 202-jährigen Geschichte ist die Gothaer ein stabiles und verlässliches Unternehmen. Das ist auch gut so, denn Sicherheit ist unser Kerngeschäft. Auf den ersten Blick mag so ein solider Traditionsversicherer nicht gerade wie ein Paradebeispiel für Veränderungsfähigkeit wirken. Doch das täuscht: Denn um so lange Zeit am Markt zu bestehen, muss man sich auf Veränderungen einstellen können. Heute ist das wichtiger denn je.
Als Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit und eher mittelgroßer Konzern, der seinen Fokus auf den deutschen Markt legt, haben wir einige Vorteile, was Veränderungsfähigkeit angeht:
Wir sind nur unseren Mitgliedern verpflichtet. Wir haben keine komplizierten Strukturen, kurz gesagt: Wir sind nicht „zu groß“. So können wir Neues leichter ausprobieren. Und wenn es nicht funktioniert, machen wir es einfach anders.

Gothaer Versicherung: Die vier Elemente der agilen Zusammenarbeit.

Wie alle Versicherungen stehen wir vor Herausforderungen: Digitalisierung, Wandel der Kundenbedürfnisse, Kostendruck, Wettbewerb um Talente. In klassischen, nach Funktionen geordneten Strukturen sind die aktuellen und künftigen Fragen nur schwer zu beantworten. Daher haben wir bereits vor einigen Jahren damit begonnen, agile Organisationsformen auszuprobieren.

Die richtigen Menschen zusammenbringen

Wie viele andere auch haben wir als Unternehmen zunächst über die IT-Entwicklung Erfahrungen mit agilen Methoden gemacht. Doch Methoden allein greifen zu kurz: Unsere agile Organisation braucht mehr als das. Um uns diesen Fragestellungen zu nähern, haben wir vor vier Jahren das „Team agile Organisation“ gegründet. Wir wollten unseren eigenen Weg in der Gothaer finden. Deshalb hat das Team zunächst ein Organisationsmodell entwickelt, das zu unserem Unternehmen passt. Außerdem haben die Kolleginnen und Kollegen von Anfang an agil zusammengearbeitet. So konnten sie alles, was wir ins Unternehmen bringen wollten, selbst ausprobieren. Inzwischen haben sie eine Reihe von Geschäftsfeldern und Teams auf ihrem Weg in die agile Zusammenarbeit begleitet.
Ein wichtiger Startpunkt dabei ist für uns die cross-funktionale Zusammensetzung von Teams. Wenn es zum Beispiel darum geht, Produkte oder Anwendungen zu entwickeln, hat es enorme Vorteile, die richtigen Menschen und Fähigkeiten aus unterschiedlichen Bereichen zusammenzubringen. Denn durch cross-funktionale Teams können wir nun schneller auf Neuerungen reagieren und rasch durchdachte Lösungen schaffen. In klassischen Linienorganisationen geht dagegen häufig viel Zeit damit verloren, Ressourcen und Zuständigkeiten zu klären. Außerdem verschenken wir hier oft die Chance auf kreativere Lösungen. Denn sie entstehen gerade durch die Diversität, durch verschiedene Fähigkeiten und Sichtweisen, gebündelt in einem Team. In unseren Geschäftsfeldern arbeiten deshalb Menschen mit unterschiedlichen Expertisen und Perspektiven zusammen. In der Gothaer nennen wir diese cross-funktionalen Zusammenschlüsse Wertströme.

Eigenverantwortlich und selbstorganisiert

Die rein organisatorische Maßnahme, die richtigen Menschen zusammenzubringen, ist aber nur ein Teil der Veränderung. Für uns geht es auch darum, die Zusammenarbeit neu aufzustellen. In den Wertströmen haben die Teams die Möglichkeit, viel stärker als in der klassischen Organisation selbstorganisiert zu arbeiten. Dadurch können die Teammitglieder ihre Fähigkeiten und ihre Stärken besser einbringen. Außerdem sind sie bei jedem Entwicklungsschritt im Wertstrom involviert. Das bewirkt auch einen Wandel in den Köpfen. Es entsteht ein umfassendes Verantwortungsgefühl: bei jedem einzelnen, in den Teams und dem gesamten Wertstrom.
In klassischen Hierarchien reicht die Verantwortung oft nur bis zum Übergabepunkt an den nächsten Bearbeiter oder Bereich: Bis hierhin ist es meine Verantwortung, ab da deine. Dies kann für den einzelnen den Blick auf das große Ganze verstellen, sei es auf ein Produkt, ein System oder eine Anwendung. Wenn dagegen alle die Verantwortung Ende-zu-Ende gemeinsam übernehmen, weiten sich die Perspektiven, und der Fokus liegt auf dem Ermöglichen des angestrebten Ziels: die besten Lösungen für die Kunden zu schaffen.

Neue Form der Führung

Die neue Art der Zusammenarbeit erfordert eine neue Form der Führung. Ob in einem einzelnen, selbst-organisierten Team oder in einem übergreifenden Wertstrom: Führung ist immer notwendig. Sie gibt den Rahmen vor, priorisiert Anforderungen, sorgt für Transparenz, misst den Erfolg und vieles mehr. In einer klassischen Linienorganisation ist für diese Aufgaben eine Führungskraft zuständig. In unseren Wertströmen und ihren Teams teilen wir einzelne Bausteine der Führungsrolle auf mehrere Menschen auf. Das sorgt für einen stärkeren Fokus auf die jeweiligen Aufgaben.
Weiterer Vorteil: Es haben mehr Menschen die Möglichkeit, Führung zu übernehmen, auch abseits einer hierarchisch-disziplinarischen Verantwortung. Das stärkt die Mitarbeitenden und eröffnet neue Entwicklungsperspektiven. Gleichzeitig bleiben Führungskräfte auch in unseren Wertströmen wichtig. Nur ihre Rolle verändert sich: Sie werden stärker zu Enablern und Coaches, die die Fähigkeiten der Mitarbeitenden fördern und deren persönliche Weiterentwicklung unterstützen.
Diese Elemente unserer agilen Zusammenarbeit sind eine Momentaufnahme und kein festes Modell für die nächsten 202 Jahre. Die agile Organisation verändert sich mit jeder Erfahrung beim Ausprobieren und Weiterentwickeln. So finden wir heraus, was funktioniert und was nicht. Agilität bedeutet für uns, nie stehen zu bleiben. Sie ist der Weg – nicht das Ziel.

Die Autorin:
Maike Gruhn ist seit 2002 bei der Gothaer Versicherung in verschiedenen Führungsfunktionen mit Fokus auf Produktentwicklung beschäftigt. Seit 2020 leitet sie die Konzernentwicklung und gestaltet in der Rolle als Chief Transformation Officer gemeinsam mit dem „Team agile Transformation“ die Veränderung der Gothaer.