Abschied von der Linearwirtschaft – wie der erfolgreiche Einstieg in die nachhaltige Kreislaufwirtschaft gelingt

Kein Weg führt daran vorbei: Die Nutzung von Ressourcen muss in den kommenden Jahren um ein Vielfaches effizienter werden. Klimakrise, Lieferkettenprobleme, knappe Rohstoffe, teure Energie, strengere Regulierung, veränderte Erwartungen der Verbraucher weisen in die gleiche Richtung. Zunehmend rückt dabei die Idee einer Kreislaufwirtschaft in den Blick. Die klassischen Methoden des Produktlebenszyklus-Management (PLM) werden in dieser nachhaltigen Version um eine Weiternutzung am Ende des Lebenszyklus ergänzt. Doch die Idee des Kreislaufs muss die gesamte Wertschöpfungskette bestimmen, von der Forschung, Entwicklung über Produktion und Logistik bis zum Gebrauch.

Die Natur gibt immer wieder perfekte Lösungen vor: Pflanzen und Tiere wachsen, vergehen und  werden dabei zum Nährboden für neues Wachstum. Das System spielt sich – ohne menschlichen Eingriff – in einem Gleichgewicht ein. Allzu oft haben wir verlernt, diese natürlichen Vorbilder zu nutzen, wie aus Altem immer wieder Neues entstehen kann.
Eine der wichtigsten Lehren aus diesem Kreislauf, der seit Jahrtausenden funktioniert: Die Natur kann Funktionen schrittweise anpassen, schafft aus Verbrauchtem Neues, greift auf passive Energie zurück – statt Rohstoffe zu verbrauchen und danach einer Deponie zuzuführen.

Typische Fragen, die sich Unternehmen auf ihrem Weg zu einem nachhaltigen Geschäftsmodell stellen. (Quelle: EY)

Geschlossene Materialkreisläufe unterstützen Nachhaltigkeit

Unternehmen können von diesem Vorbild in vieler Hinsicht lernen, schließlich ist Nachhaltigkeit in aller Munde. Druck machen zum einen die Verbraucher. Die Sorge vor dem Klimawandel hat längst zu einem Umdenken geführt. Für regionale Herkunft, Langlebigkeit, sowie Reparaturmöglichkeiten sind schon heute 2/3 der Konsumenten bereit, einen höheren Preis zu zahlen (Quelle: Circular Economy ist wichtiger denn je, EY Deutschland, 3.Transparenz mit Technologien schaffen).
Zusätzlich vorangetrieben wird der Trend durch Regierungen und Aufsichtsbehörden. Der „Green Deal“ der EU-Kommission für eine nachhaltigere Wirtschaft, der die Staaten der Europäischen Union bis 2050 klimaneutral machen soll, gibt den Rahmen vor. Ergänzt wird er unter anderem durch den „Aktionsplan Kreislaufwirtschaft“, der wirtschaftliches Wachstum durch mehr Wiederverwendung, Reparatur und Recycling vom Ressourcenverbrauch entkoppeln soll. Bereits ab 2030 gelten deutlich strengere Regeln für den Materialverbrauch.
Knappe Ressourcen sorgen bei vielen Unternehmen für ein Umdenken. Dass fossile Brennstoffe endlich sind, ist lange bekannt. Bei Lithium und Seltenen Erden, wichtige Bestandteile von Batterien, wird die Elektrifizierung zu einem Schub bei der Nachfrage führen, der kaum mit den heute bekannten Bodenschätzen zu decken ist.
Die bisherige Linearwirtschaft – Produzieren, Nutzen, Entsorgen („take-make-waste“) – stößt in diesem Umfeld an ihre Grenzen. Volle Deponien und knappe Rohstoffe zwingen die Gesellschaft,  deutlich länger als bisher von einem Produkt beziehungsweise dessen Inhaltsstoffen zu profitieren.
Ohne den Kreislaufgedanken, bei dem Produkte und Materialien so lange wie möglich verwendet, geteilt, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden, wird es Unternehmen nicht gelingen, sich bei der Wertschöpfung von äußeren Faktoren unabhängiger zu machen. Fünf entscheidende „Rs“ geben den Ton vor: Reduce, Re-Use, Repair, Remanufacture, Recycle – den Verbrauch verringern, Produkte länger nutzen, sie reparieren und schließlich die Bestandteile recyceln.

Anforderungen an das Lebenszyklus-Management ändern sich

Die entscheidende Herausforderung für das Produktlebenszyklus-Management (PLM) liegt darin, den Materialkreislauf zu schließen und die Nutzungsdauer von Produkten zu maximinieren – Ziel ist hier eine Langlebigkeit der Produkte ggf. unterstützt durch zusätzliche Services und Geschäftsmodelle. Im althergebrachten, linearen Modell wird ein Produkt oder eine Maschine am Ende der Lebenszeit entsorgt. Künftig werden das Produkt und die darin enthaltenen Materialien weiterverwendet. Eine Reparatur kann das genauso ermöglichen wie die Zerlegung in einzelne Teile und Komponenten, die für eine weitere Nutzung, je nach Material und Zustand, aufbereitet oder eingeschmolzen und neu hergestellt werden.
Um die Wiederverwertung und Weiterverwendung zu ermöglichen, muss das Produkt zum Hersteller oder geeigneten Partnern zurückgeführt werden.
Mit einer Logistik für Re-Use, Refurbish und Remanufacture ist es jedoch nicht getan. Sämtliche Schritte auf dem Weg zu einem neuen Produkt – sei es eine komplexe Maschine, ein langlebiges Gebrauchsgut oder eine Anschaffung mit einer überschaubaren Lebensdauer – müssen die Weiterverwendung berücksichtigen.
Um den Kreislauf zu schließen, müssen Forschung, Entwicklung und Design künftig von Anfang an den ganzheitlichen Ansatz im Blick behalten. Neue Materialien für Produkt und Verpackung gehören genauso dazu wie eine einfache Zerlegbarkeit von Maschinen, Gebrauchsgütern, Elektronik oder Textilien, um die weitere Nutzung oder Reparatur zu vereinfachen.
Der Einkauf wird zum Koordinator des Produktlebenszyklus. Dazu gehört eine regelmäßige Bewertung der Komponenten, Teile und Materialien, die sich bereits in der Nutzung befinden. Dabei lässt sich mittels Digitalisierung die nötige Transparenz herstellen.
In der Produktion ist ein Grundstein der Kreislaufwirtschaft dank des Trends zu mehr kundenspezifischen Anpassungen schon gelegt. Auch die erneute Nutzung aufbereiteter Teile macht mehr maßgeschneiderte Schritte nötig. Digitale Methoden helfen dabei: Mit einem digitalen Zwilling lassen sich zum Beispiel komplexe Produktionsschritte im Vorfeld simulieren und Ausschuss vermeiden.
Für die Logistik kommt ein neuer Aufgabenbereich hinzu: die Organisation der Rückführung von Produkten einschließlich der Anreize für das Einsammeln. Für Maschinen und Anlagen gewinnen Reparatur, Überarbeitung und Weiterentwicklung am Einsatzort an Bedeutung. Der Kreislauf läuft umso effizienter, je länger Produkte genutzt werden. Regelmäßige Wartung und Reinigung spielen dabei eine entscheidende Rolle. Erneut kommt der Digitalisierung eine wichtige Rolle zu: Mit dem digitalen Zwilling einer Maschine können Fristen überwacht und Wartungsschritte vorbereitet werden.
So muss sich jede Abteilung im Unternehmen an die neue Kreislauf-Realität anpassen. Zusätzlich ist eine zentrale Koordination sinnvoll. Die Kreislaufverantwortlichen orchestrieren die gesamte interne und externe Lieferkette. Sie haben im Blick, welche Produkte oder Maschinen wann zurückkommen und wie sie durch Aufbereitung, Recycling oder Zerlegen für den nächsten Schritt im Kreislauf vorbereitet werden.
Dafür ist Überzeugungsarbeit nötig, bei Entwicklern, Einkäufern und Produktionstechnikern, Kunden, Verbrauchern und Vertriebspartnern. Eine klare Kommunikation des neuen Ansatzes hilft, die Veränderungen zu begründen und die Vorteile der Kreislaufwirtschaft deutlich zu machen.

Transformation von linearen zu nachhaltigen zirkulären Produktlebenszyklusmodellen. (Quelle: EY)

Biologisch, technisch, real, digital – Kreisläufe ergänzen sich

Rohstoffe und Materialien sind in einer Kreislaufwirtschaft in zwei Zyklen in Bewegung: dem biologischen und dem technischen Kreislauf. Fossile Brennstoffe, Metalle, Plastik und andere synthetische Produkte sind endlich in ihrer Verfügbarkeit. Im Kreislauf werden sie so lange wie möglich immer wieder genutzt. Organische Materialien, etwa Holz, Wasser, Lebensmittel, können dagegen in das Ökosystem zurückgeführt werden. Nachwachsende Rohstoffe werden dem System dann wieder entnommen.
Je weniger Schritte für die Aufbereitung von Materialien nötig sind, desto höher ist die verbleibende Qualität. Je nach Zustand arbeiten unterschiedliche Anbieter im Produktionsprozess damit weiter. Oft sind das die Zulieferer und der Aftersales, die von Anfang an eng eingebunden sein sollten.
Für den Überblick, welche Bestandteile in welcher Qualität wo eingesetzt werden, ist ein digitales Abbild oder digitaler Zwilling hilfreich, der den Materialfluss spiegelt. Integrierte Daten zeigen die Transformation von Produkten und Wertströmen. Dieses „digitale Doppel“ unterstützt zusätzlich Produktentwicklung, Herstellung und Vertrieb mit virtueller Simulation und Produktmodellen. Klassische dokumentengetriebene Methoden können weder Datenfülle noch Methodik handhaben. Vielmehr sollte ein digitales System alle Bereiche des Unternehmens  von Innovation und Entwicklung über Einkauf, Produktion und Vertrieb bis zur Wartung spiegeln.

Geschäfts-, Produkt- und operationelle Planung im Fokus

Die Umstellung von einem linearen Produktzyklus mit Ablaufdatum zur Kreislauflösung ist ein komplexer Prozess. Die Neuausrichtung reicht in alle Aspekte des Unternehmens. Doch die Transformation bietet auch die Chance, das Geschäftsmodell auf den Prüfstand zu stellen und neue Ansätze zu verfolgen.
Denkbar sind u.a. neue Nutzungsmodelle: Miete, Pacht, Leasing oder Pay-per-Use statt dem Kauf erleichtern die regelmäßige Wartung. Die Rückführung zum Produzenten ist vertraglich geregelt, das Unternehmen spart sich ein Anreizsystem für die Rückgabe an den Hersteller.
Neue Abrechnungssysteme können stärker auf die Nutzung abstellen. Ein Beispiel dafür liefert die Chemieindustrie, die Produkte als Service anbietet. Statt nach Menge zahlen Kunden auf Basis des Ergebnisses, zum Beispiel der Anzahl mit einem Produkt gereinigter Maschinen.
Auch die Kooperation mit spezialisierten Partnern bietet sich an, sowohl für Dienstleistungen rund um das Produkt als auch für die weitere Verwertung von Rohstoffen und Komponenten, zum Beispiel Online-Marktplätze, die überzählige Rohstoffe einer neuen Verwendung zuführen.
Mit einem wachsenden Interesse an den Abläufen der Kreislaufwirtschaft ergeben sich neue Kooperationsansätze: Von der Organisation der Rückholung von Produkten und produktspezifischen Reparaturshops über den Austausch von Methoden und Inhaltsstoffen, die das Recycling erleichtern, bis zur Einsparung von Energie, Material und Arbeitskraft reichen die Ideen schon heute.

Herausforderungen und Mehrwerte: Welche Kreislaufwirtschaftsstrategien sollte die Industrie nutzen? (Quelle: EY)

So gelingt der Einstieg in den Kreislauf

Wie jede Transformation birgt der Übergang zu einem Kreislaufsystem Herausforderungen. Bedenken sollten Unternehmen unter anderem die folgenden Aspekte:

  • Organisation: Sind Mitarbeitende vorbereitet für die veränderten Schwerpunkte? Wurden gezielt Sustainability-Engineering Kompetenzen geschaffen? Wurde über die Kollaboration mit Partnern entlang des nachhaltigen Produktlebenszyklus nachgedacht?
  • Entwicklung: Das Produkt-Design muss überarbeitet, ein Rückführungssystem implementiert, die Bewertung der genutzten Produkte und ihrer Komponenten sowie Materialien organisiert werden.
  • Finanzen: Veränderte Nutzungs- und Bezahlmodelle beeinflussen den Cashflow. Anpassungen des Geschäftsmodells machen womöglich Investitionen nötig.
  • Recht: Das Modell ändert die Beziehung zwischen Lieferanten, Produzenten und Kunden. Zusätzliche Vereinbarungen und neue Verträge werden notwendig. Aus der veränderten Nutzung von Materialien können steuerrechtliche Folgen resultieren.
  • Digitalisierung: Die Anforderungen der Kreislaufwirtschaft sind, ohne die vollständige digitale Unterstützung des Produktlebenszyklus kaum zu bewältigen.

Unternehmen müssen aktiv werden. Der Druck, ökologischer und nachhaltiger zu handeln, nimmt beständig zu. Wer agil ist und sich rasch an neue Standards und veränderte Kundenwünsche anpasst, positioniert sich im Wettbewerb am besten.
Zirkuläres Wirtschaften muss dafür in der Strategie verankert werden. Ziel ist die Transformation des kompletten Produktlebenszyklus. Ein eigenes Ökosystem muss her, ein Zyklus der beständigen Verbesserung, Rückführung und Wiederverwertung. Im besten Fall wird das Unternehmen zu einer (digitalen) Plattform des Produktlebenszyklus, auf der sämtliche Informationen – über Hersteller, Partner, Produzenten, Kunden, Beratung und Service – zusammenfließen.
Jedes Unternehmen wird dabei seinen eigenen Ansatz finden. Je nach Produkt und Branchefunktionieren unterschiedliche Methoden, um eine Kreislaufwirtschaft erfolgreich zu implementieren. Stimmt die Transparenz dank Digitalisierung, können Big Data und künstliche Intelligenz dabei unterstützen, mit Datenauswertung Schwachstellen zu identifizieren und den Ansatz weiter zu verfeinern.
Anhand der gewonnenen Erkenntnisse kann das Unternehmen rasch feststellen, wie Produkte im Markt ankommen und wo es Verbesserungsbedarf gibt. Schließlich müssen sich zirkuläre Prozesse auch in wirtschaftlicher Hinsicht lohnen. Gerade hier zeigen aktuelle Best-Practice-Ansätze in unterschiedlichen Branchen ein enormes Potenzial für Unternehmen auf: Kreislaufwirtschaft macht sich nicht nur für die Umwelt bezahlt!

Was erwartet Sie in diesem Special?

Unsere Autoren vertiefen das Thema, indem Sie folgende Teilaspekte beleuchten:

Rückgrat einer nachhaltigen Produktentstehung:
Von der Geburt bis zur Wiedergeburt eines Produkts: Wie hilft ein Ende-zu-Ende digitalisiertes Produkt-Lifecycle-Management-System, nachhaltige Produkte zu definieren und zu produzieren?
Die Kreislaufwirtschaft ist der entscheidende Faktor für die Dekarbonisierung:
Die Kreislaufwirtschaft muss über die Herstellung und Lieferung der Produkte hinaus auf den gesamten Lebenszyklus und insbesondere auf die Verlängerung der Lebensdauer der Maschinen und Anlagen ausgerichtet sein.
Nachhaltige Produktion und Kreislaufwirtschaft mit kundenindividuellen Produktvarianten:
Varianten-/Konfigurationsmanagement über den gesamten Produktlebenszyklus ist ein wesentliches Element der nachhaltigen Produktgestaltung, z.B. für Nachrüst- und Ersatzteilstrategien bei langlebigen Produkten.
Standards für Produktnachhaltigkeit etablieren:
Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit sind untrennbar miteinander verbunden, z.B. muss die CO2-Bewertung von Produkten in bestehende Kostenkalkulationsmodelle integriert werden.
Aufbruch zur Circular Economy: „Collaboration is key“:
Der optimale Weg zur Kreislaufwirtschaft kann nicht im Alleingang beschritten werden, sondern nur durch die interne Zusammenarbeit der Abteilungen entlang des Produktlebenszyklus in Verbindung mit einem externen Netzwerk aus Kunden, Herstellern und Lieferanten. (Seite 10)
Mit Product Mining zum resilienten und nachhaltigen Unternehmen:
Ein nachhaltiges und profitables Produktportfolio gelingt nur, wenn Nachhaltigkeitskennzahlen und intelligente Entscheidungshilfen entlang der Produktwertschöpfungskette zur Verfügung stehen,  z.B. für eine Portfoliostraffung hin zu energieeffizienteren Produkten.
Nachhaltigkeit als überbetrieblichen Kreislauf denken:
Ein ganzheitlicher, ressourceneffizienter Wertschöpfungskreislauf kann nur durch eine gemeinsame, unternehmensübergreifende Wertschöpfungskette erreicht werden.

 

Die Autoren:

Martin Neuhold ist Partner in der Unternehmensberatung von EY. Er leitet den globalen Bereich Supply Chain Services, den Kompetenzbereich Supply Chain & Operations sowie den Advanced Manufacturing Sector in Europe West. Darüber hinaus verfügt er über Fachwissen in den Bereichen Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit als treibende Kräfte bei der Umgestaltung von Wertschöpfungsketten, Produkten und Geschäftsmodellen. Er hat in den Sektoren Chemie, Maschinenbau und Automobilbau als Spezialist für Prozessoptimierung und Veränderungsmanagement gearbeitet und dabei fortschrittliche Veränderungs- und Moderationswerkzeuge in großen Transformationsprogrammen eingesetzt.

 

Andreas Welz ist Direktor in der Unternehmensberatung von EY. Er leitet das PLM Kompetenzzentrum in Deutschland und konzentriert sich hier auf die Beratungsschwerpunkte  Agile bzw. Hybride PLM Betriebsmodelle und integrative Transformationsprogramme mit einem holistischen Blick auf Prozesse, Organisation, IT und strategische Ausrichtung. Bevor er zu EY kam, war er in verschiedenen größeren Industrieunternehmen in Management- und Beratungsfunktionen tätig und verantwortete dort Aufgaben im Bereich Produkt Lifecycle Management und Produktentwicklung.