Krisenzeiten erfordern eine Vertrauenskultur – mehr denn je

Mit Covid-19 haben sich Gesellschaft und Unternehmen in Richtung neuer Arbeitsmodelle verändert – und mehr noch als in der Vergangenheit sind Vertrauen und Empathie zu den entscheidenden Erfolgsfaktoren moderner Führung geworden. Doch gilt das auch in Zeiten einer Rezession? Kommt es jetzt nicht wieder auf engere Kontrollmechanismen an?

„Wie drehen wir die eingeleitete Kulturveränderung nun wieder in Richtung strikten Kostenmanagements und Prozesseffizienz? Und das, ohne Führungskräfte und Mitarbeiter zu verlieren?“ Die Tonlage, in der das Vorstandsmitglied eines Maschinenbauunternehmens mir diese Frage stellte, machte deutlich: Die sich abzeichnende Rezession weckte Zweifel an unserem bislang erfolgreichen Kulturentwicklungsprozess. Im Nachgang der Covid-19-Pandemie hatten wir ein Programm für das Unternehmen aufgesetzt, um die Entwicklung einer neuen Arbeits- und Führungsphilosophie zu unterstützen.
Ziele des Programms waren der Abbau gelebter Hierarchie, der Aufbau einer Vertrauenskultur, weniger Kontrolle durch Führungskräfte und mehr Möglichkeiten für Mitarbeiter, selbständig Entscheidungen zu treffen. Ein wesentlicher Teil war die Veränderung der Führungsphilosophie und Entwicklung der Führungskräfte in Richtung eines Ansatzes, der Methoden des Coachings aufgriff („The leader as a coach“) – sowohl in der Entwicklung von Mitarbeitern als auch in der operativen Führung selbst. Ein weiterer Schwerpunkt des Programms lag auf Empathie.
In der Kombination dieser Themen kam von Teilnehmern mehrfach die Rückmeldung, dass es länger dauere, bis Führungsinterventionen den erwünschten Effekt erzielten. An dieser Stelle setzten nun die Befürchtungen des Vorstands an: Die prognostizierte Rezession vor allem als Folge des Ukrainekriegs, aber auch aufgrund der globalen Lieferkettenprobleme ließ daran zweifeln, ob der neue Führungsstil noch der richtige Ansatz sei.
War es notwendig, die beabsichtigte Kulturveränderung stark zu ändern oder gar zurückzudrehen?

Empathie ist in der Rezession noch wichtiger für effektive Führungsarbeit

Gemeinsam mit dem Vorstand erörterten wir die Unternehmenssituation. Am neuen Arbeitsmodell mit flexibleren Arbeitszeiten und -orten wollte das Unternehmen in jedem Fall festhalten. Auch die Veränderung der Führungsphilosophie wünschte man sich weiterhin. Wie aber wäre das mit einem strengeren Kostenmanagement vereinbar?
Die Lösung hierfür liegt darin, Organisationen und Teams emotional weiter zusammenwachsen zu lassen – und das in einer Situation, in der sie physisch oft weiter voneinander entfernt sind als vor Beginn der Pandemie. Erfolgreiche Führung über die Distanz setzt höhere Anforderungen an das Einfühlungsvermögen von Führungskräften, um verstehen zu können, wie es den Mitarbeitern in ihrer individuellen Situation geht, wo mehr Freiräume oder weitere Unterstützung notwendig sind oder wenn Dinge sich in die falsche Richtung entwickeln. Um diese Einblicke in Videogesprächen und Telefonaten zu erhalten, ist neben Einfühlungs-vermögen eine gute Vertrauensbasis erforderlich.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die klassischen Reaktionsmuster auf eine Rezession nicht mehr zielführend. Auf eine wirtschaftliche Schieflage reagierten Unternehmen typischerweise durch Verlagerung von Entscheidungen auf höhere Hierarchieebenen, durch erhöhten Fokus auf Prozesseffizienz und durch engere Führung von Mitarbeitern. Nach der Pandemie wird das so nicht mehr funktionieren – Unternehmen werden einen alternativen Ansatz finden müssen, um die neuen Erwartungen der Mitarbeiterschaft weiterhin erfüllen zu können und die mit dem Marktabschwung einhergehende Unsicherheit nicht noch durch sinkende Mitarbeiterzufriedenheit zu verstärken.
Sicher: Tritt die Krise ein, braucht es klare, eventuell schmerzhafte Vorgaben des Managements. Wie diese bei den Mitarbeitern ankommen, können Führungskräfte aufgrund der neuen Arbeitsmodelle und der Führung über Distanz nicht immer gut erkennen. Doch fällt es ihnen mit einem hohen Grad an Empathie leichter, zu erkennen, wie ihre Teams auf diese Vorgaben reagieren. Auch fällt es ihnen leichter, die Botschaften von vornherein so zu formulieren, dass sie konstruktiv aufgenommen werden.
Selbstverständlich war Empathie auch vor der Pandemie bereits ein Erfolgsfaktor für effektive Führung. Die neuen Arbeitsmodelle haben sie nur noch wichtiger gemacht – und die prognostizierte Rezession wird diesbezüglich noch mehr fordern.

Vertrauen in Personen statt Kontrolle

Wenn Kontrolle durch die Führungskraft nicht mehr zeitgemäß und aufgrund physischer Distanz zudem weniger möglich ist, muss Vertrauen an ihre Stelle treten. Vertrauen allerdings ist ein Gefühl und keine Fähigkeit, die geschult, erlernt oder gar vorgegeben werden kann. Vertrauen ist ein Resultat des Verhaltens von Personen miteinander. Durch gelebte Transparenz und Offenheit, das Zeigen von Emotionen und Geduld können Führungsteams eine Vertrauenskultur aufbauen. Damit Kontrolle in einem Unternehmen durch Vertrauen ersetzt werden kann, muss das Vertrauen auf breiter Basis in der Kultur verankert sein.
Unserer Erfahrung nach tun sich insbesondere technisch oder wissenschaftlich geprägte Organisationen häufig schwer, den Einfluss von schwer messbaren Faktoren wie Empathie und Vertrauen auf eine positive Geschäftsentwicklung zu akzeptieren. Zukünftig wird es allerdings erfolgskritisch sein, dass Führungskräfte einen emotionalen Zugang zu ihren Mitarbeitern haben, der es ihnen in der neuen Arbeitswelt ermöglicht, sie zu verstehen, mit ihnen zu kommunizieren und sie kontinuierlich zu motivieren.
„Lassen Sie uns also mit unserem Programm weiter machen. Wir sollten die Wichtigkeit der Social Skills und Vertrauenskultur aber noch weiter unterstreichen“, war das Fazit des Vorstandsmitglieds aus unserem Gespräch.

Der Autor:
Nach langjähriger Führungserfahrung bis auf globale Executive Committee-Ebene in weltweit führenden Unternehmen arbeitet Alexander Meyer auf der Heyde international als Executive Coach mit Führungskräften und Führungsteams. Sein Unternehmen KALEADO (www.kaleado.com) begleitet Unternehmen bei Kulturveränderungen und im Bereich Leadership Development.“