Netzwerke und übergreifende Ökosysteme sind im Trend. Ein Beispiel hierfür ist Catena-X, ein offenes Datenökosystem für die Automobilindustrie. Darin arbeiten Konzerne wie die BMW Group, Mercedes Benz, SAP, Siemens, Bosch, Schäffler, BASF und ZF zusammen. Der Artikel beschreibt die Prinzipien, die Catena-X zum Modell eines weltweiten Industrie-Ökosystem gemacht haben. Damit können Ziele der gesamten Industrie wie die CO2-Reduktion, Zirkulärwirtschaft oder Lieferkettenstabilität gemeinsam erreicht werden.
Starke IT-Systeme innerhalb eines Unternehmens bringen viele Mehrwerte, sie können Effizienzen steigern und Innovationen fördern und sind damit Grundvoraussetzung für ein übergreifendes Industrieökosystem. Denn dieses benötigt starke Glieder, um zu einer robusten Kette zu werden.
Parallel entwickeln sich Ökosysteme innerhalb von Unternehmen und zwischen Unternehmen. Erstere haben oft dieselben Ziele, skalieren aber häufig nicht über die Verbindung mit einem Partner hinaus – was für einige Herausforderungen der Zukunft, wie bspw. regulatorische Anforderungen essenziell Ist. So wird mit dem EU Batteriepass beispielsweise von Automobilherstellern erwartet, dass diese sicherstellen, dass Produkte aus Komponenten und Rohstoffen bestehen, die bis in die Rohstoffmine fair, nachhaltig und sozial entstehen. Denn erst dann können beispielsweise Datenketten und Lebenszyklus eines Produkts aufgebaut werden, die wichtig sind, um stabile und resiliente Lieferketten zu ermöglichen, nachhaltige Produkte zu entwickeln und auf regulatorische Veränderungen so schnell und schlank wie möglich zu reagieren.
Der Schlüssel für eine erfolgreiche Zusammenarbeit sind komplementäre Werte der Partner im Ökosystem: So können selbst Konkurrenten gegenseitig Wert füreinander schaffen.
In der Vergangenheit lag die Hoffnung auf der dezentralen Blockchain-Technologie. Die Idee ist vergleichbar, doch eine Skalierung zu komplex, zu technologisch und wenig unternehmenszentriert. Was diesen Initiativen oft fehlte, war die Berücksichtigung von Kultur, eine klare Gewaltenteilung statt Machtkontrolle und Designprinzipien, die für alle Unternehmen gleichermaßen gelten.
Es gibt fünf Grundprinzipien, die den Übergang zu einem internationalen Industrie-Ökosystem beschreiben und Orientierung bieten:
1. Kontrolle überdenken: Erfolgreiche Ökosysteme halten ein Gleichgewicht zwischen Offenheit und Kontrolle. Die richtige Governance und technologische Architektur sind der Schlüssel zum Erfolg.
2. Sinnstiftung: Jedes Ökosystem braucht eine klare Mission. Ziel der Vermarktung sollte das Ökosystem sein, nicht das Produkt.
3. Mehr Geben als Nehmen: Bei Ökosystemen geht es um Interaktionen und die Wertschöpfung des Ökosystems. Schaffen Sie Mehrwerte für Teilnehmer.
4. Fokussierung auf das, was das Unternehmen umgibt: Der Wert eines Ökosystems entsteht durch Netzwerkeffekte und deren Skalierung.
5. Ausrichtung des Ökosystemdesigns für Netzwerkeffekte: Der Schlüssel sind komplementäre Werte im Ökosystem – so können selbst Konkurrenten gegenseitig Wert füreinander schaffen.
Rethink Control: Ein Kräftegleichgewicht sichert den Erfolg des Datenökosystems Catena-X und ermöglicht Mehrwert für alle Beteiligten. Quelle: Catena-X & Marie Manu (Senior Consultant bei MHP)
Kontrolle überdenken: Ein Kräftegleichgewicht ermöglicht Mehrwert für alle
Catena-X ist anders. Von Anfang an mit einem Industrieansatz gedacht, quasi einer Gewaltenteilung. Denn neben OEMs und direkten Lieferanten waren alle Partner, die letzten Endes im Ökosystem zuhause sein sollen, von Sekunde eins vertreten. Große und kleine Unternehmen, jene am Anfang oder am Ende der Wertschöpfungskette, Recycler, Software-Anbieter, die Wissenschaft. Das wird auch bei der Besetzung des Vorstands deutlich, der sich gleichberechtigt aus diesen Partnern zusammensetzt.
Dieses Kräftegleichgewicht zeigt sich auch darin, dass die Erschaffung von Standards von der Entwicklung losgelöst ist. Ein Beispiel: Jedes Unternehmen kann jede Rolle einnehmen. Auch nach welchen Spielregeln gespielt wird, kann jeder mitentscheiden. Diese Festlegung vereinfacht den Datenaustausch miteinander und sorgt auch dafür, dass beispielsweise ein Anbieterwechsel deutlich einfacher wird. Das eine Unternehmen arbeitet vielleicht an den Standards mit, ein anderes an der Entwicklung. Das dritte ist Teil eines Joint Ventures, welches den Marktplatz für die Lösungen betreibt.
Wichtig ist das Gleichgewicht, unabhängig der Unternehmensgröße, welches die Marktmacht verteilt. Es herrscht Pluralität. Nur durch diese Kräfteverteilung entschied das Bundeskartellamt letztlich positiv und gab die Freigabe für die kartellrechtliche Unbedenklichkeit von Catena-X.
Catena-X hat gleich am Anfang eine klare gemeinsame Vision geschaffen, die alle 28 Unternehmen mittragen und für die es sich zu kämpfen lohnt.
Open Source Entwicklung als entscheidender Erfolgsfaktor
Ein weiterer wichtiger Ansatz war die Open-Source-Entwicklung. Diese hat Vorteile wie Transparenz (durch Einblick in den Quellcode), keine Lock-in-Effekte beziehungsweise Abhängigkeit von einem Hersteller und Entfall von Lizenzgebühren. Auf die Frage, wer sich damit auskenne, wurde einstimmig mit „ja“ geantwortet. Alle waren bis dato allerdings lediglich Konsumenten in der Open Source Community. Eine solche Community zu starten und selbst aufzubauen, war den meisten großen Häusern und auch Softwareanbietern fremd.
Die Open Source Community kennt mehrere Rollen, die so auch bei Catena-X gelebt werden. Zum einen sind das Mitwirkende, also die Teilnehmer, die durch das Schreiben von Code, aber auch durch Problembehebung oder beispielsweise die Organisation von Veranstaltungen mit ihrer Expertise einen Beitrag zum Erfolg leisten. Zum anderen sind es Entscheider, also diejenigen in der Community, die auf Basis ihres hohen Beitrags von einem anderen Mitglied vorgeschlagen werden und nachfolgend mehr Entscheidungsbefugnis erhalten. Die Währung sind Entwicklungsleistung und Aktivität. So ist es beispielsweise auch möglich, dass ein kleines mittelständiges Software-Startup anstelle der großen Automobilhersteller zum Entscheider wird.
Eine klare Vision eint: das erste offene, kollaborative und inter-operable Ökosystem
28 Häuser bringen 28 Kulturen mit. Umso wichtiger war es, dass Catena-X gleich am Anfang eine gemeinsame Vision geschaffen hat, die alle mittragen und für die es sich zu kämpfen lohnt: der Aufbau des ersten offenen, kollaborativen und inter-operablen Ökosystems. Dieses Ziel, die größten und anspruchsvollsten Industrieprobleme gemeinsam zu lösen, ist groß – und keiner kann es allein erreichen. So etwas eint. Nach nur drei Monaten haben 28 Pionierunternehmen ein Konsortium gegründet mit allen dazu nötigen inhaltlichen, rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen. Prozesse wie diese brauchen sonst im Schnitt sechs bis zwölf Monate.
Man fühlt sich an die COVID-Pandemie erinnert. In nur zwei Monaten hatten damals Pfizer und BioNTech Kooperationsverträge verhandelt, weil sie die Schieflage der Welt durch schnelles Handeln bewegen wollten. Eine weltumfassende Pandemie kann man nicht mit wirtschaftlichen Herausforderungen vergleichen, aber die Herausforderungen mit instabilen Lieferketten werden mehr und mehr, die Komplexität steigt und eine CO2-Reduktion passiert nicht von allein, sondern muss gemeinschaftlich getragen werden. Es entsteht dasselbe „Window of Opportunity“. Also ein Zeitfenster, das es ermöglicht, sehr viele Probleme auf einmal zu adressieren.
Der Erfolgsweg von Catena-X: agile Methodik und globale Vernetzung
Die Methodik war klar: schnell zu vermitteln, dass die Organisation lieferfähig ist. So erhielten alle Partner und Mitarbeitende Grundschulungen und rollenspezifische Schulungen in den ersten acht Projektwochen. Nach nur drei Monaten konnte so mit einem ersten „Speedboat-Projekt” gezeigt werden, dass 28 Häuser mit 28 verschiedenen Interessen und Kulturen durchaus in der Lage sind, erfolgreich gemeinsam Wert zu schaffen.
Auch bei 1.273 Seiten Gesamtprojektbeschreibung für die Bundesregierung bleiben bei 28 Unternehmen noch viele Unbekannte. Um Ungewissheiten entgegenzuwirken und in kurzen Zyklen, statt im klassischen Wasserfallmodell zu arbeiten, hat sich Catena-X für die agile Software-Entwicklung als Basis entschieden, konkret nach dem Scaled Agile Framework Model (SAFe). Anpassungsfähigkeit ist auch bei der Wahl des agilen Frameworks wichtig, sollte aber nicht in ein Korsett gezwängt, sondern flexibel angepasst werden, um den größtmöglichen Nutzen zu erzielen.
Die Standards und das Vorgehen von Catena-X haben weltweit Anklang gefunden und skalieren in verschiedenen Anwendungsfeldern.
Keine starren Modelle, sondern individuelle Gestaltung
Im Rahmen von Catena-X bedeutete das aufgrund der COVID-Pandemie mehr Flexibilität statt häufiger physischer Zusammenkunft. So wurden Zeremonien ausgesetzt und zentral über die Kernrollen von SAFe gefahren (Product Owner, Release Train Engineer, Systemarchitekt und Portfolio Manager). Auch die „Release Trains“ wurden reduziert und stattdessen KITs (für eng. „Keep It Together“) etabliert. Das sind Werkzeugkästen für diverse Geschäftsprozesse. Für den Bau von Applikationen sind es sowohl strategische Guidelines wie Mission, Vision, Beispielapplikationen zur Orientierung, aber auch semantische Modelle und Standards.
Ein Erfolgskonzept, das zum Nachahmen einlädt
Dieses agile Vorgehen auch im agilen Arbeitsmodell war trotz hoher Komplexität, einem gänzlich neuen Themenfeld und neuen Kolleginnen und Kollegen, die sich in der Zusammenarbeit und Methodik erst noch finden müssen, ein Erfolg. Anlässlich der Hannover Messe 2023 präsentierte Catena-X die erste Beta-Umgebung. Im Oktober darauf ging mit der ersten Betreibergesellschaft Cofinity-X live.
Diese Werte und das Vorgehen von Catena-X haben bereits weltweit Anklang gefunden und skalieren in verschiedenen Anwendungsfeldern. Ganz gleich ob innerhalb der Anwendungsfelder oder über die Automobilindustrie hinaus, zum Beispiel in Manufacturing-X. Die Open-Source-Initiative wächst aber auch international: mit Partnern in den USA, in Asien oder beispielsweise in Frankreich in Europa. Was gleich bleibt, sind Standardisierung und Gewaltenteilung. Und der unbedingte Wille, gemeinsam etwas zu verändern.
Der Weg zur Teilnahme an Catena-X
Haben Sie Interesse, sich mit Ihrem Unternehmen aktiv an Catena-X zu beteiligen? Über nebenstehenden QR-Code erhalten Sie weitere Informationen zum Onboarding in das Catena-X-Datenökosystem. Wir begleiten Sie auf der Reise von der ersten Interessensbekundung bis zum aktiven Datenaustausch im Netzwerk mit Geschäftspartnern.
Der Autor:
Oliver Ganser, seit 2021 Vorstandsvorsitzender des Catena-X e.V. und Leiter des Industrie-Konsortiums Catena-X Automotive Network mit 28 Partnern. Über Führungsrollen im In-/Ausland und Unternehmensfunktionen legte er den Grundstein für die unternehmensübergreifende kollaborative und datenbasierte Zusammenarbeit.