Die deutsche Pharmaforschungslandschaft zeichnet sich durch eine große Bandbreite an medizinischen Ausrichtungen und technologischen Kompetenzen aus. Die forschenden Unternehmen geben hier jährlich mehr als 9,4 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung aus. Dennoch schöpft Deutschland sein Potenzial noch nicht aus, insbesondere im Bereich klinischer Arzneimittelstudien. Einige der zugrundliegenden Handicaps werden aber inzwischen politisch angegangen.
Der Weg zur heutigen Situation
Nach den USA und China ist Europa die weltweit drittgrößte Region für die Entwicklung neuer Medikamente. Daran hat auch Deutschland seinen Anteil. Hier hat die Arzneimittelentwicklung eine lange Tradition. Zwischen 1970 und 2000 lag der Schwerpunkt auf Herzmedikamenten, Blutdruck- und Diabetes-Mitteln, Antibiotika und hormonellen Verhütungsmitteln.
Das änderte sich in der Folgezeit grundlegend: Die Entwicklung von Antibiotika, Blutdrucksenkern, Kontrazeptiva und später auch Antidiabetika wurde weitgehend eingestellt, dafür gewann die Onkologie zunehmend an Bedeutung und ist heute F&E-Gebiet Nummer Eins. Ebenfalls erstarkt ist die Entwicklung von Therapeutika gegen Autoimmun- und neurodegenerative Krankheiten sowie von Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten. Kontinuität zeigt sich bei den Herzerkrankungen, gegen die immer wieder neue Medikamente aus Deutschland Zulassungen oder Zulassungserweiterungen erhalten haben.
Pionierarbeit leisteten deutsche Pharmalabors unter anderem bei der Entwicklung von direkten oralen Gerinnungshemmern und bispezifischen Antikörpern für die Onkologie; sowie bei den Gliflozinen, die zunächst bei Typ-2-Diabetes und dann auch bei Herzinsuffizienz breite Anwendung gefunden haben.
Stark verändert hat sich auch das Spektrum der Unternehmen, die hierzulande Pharmaforschung betreiben. Waren es bis zur Jahrtausendwende vor allem große Unternehmen mit zumeist deutschem Hauptsitz, so betreiben mittlerweile auch etliche Konzerne mit ausländischem Hauptsitz (USA, UK, Frankreich, Japan, Dänemark, Schweiz) hierzulande Forschungslabore; und ein signifikanter Teil der Pharmaforschung wird heute von Start-ups und Unternehmen mittlerer Größe betrieben.
Stärken des Standorts für Pharma-Innovation
Heute zeichnet sich die deutsche Pharmaforschungslandschaft durch eine große Vielfalt der adressierten medizinischen Gebiete und der technologischen Kompetenzen aus: Medikamente auf Basis von chemisch-synthetischen oder biopharmazeutischen Wirkstoffen, RNA-basierten Wirkstoffen, Vektorviren oder Zellen – für alle gibt es hierzulande kompetente Forschungsinstitute und Unternehmen. Gerade auch für das aufstrebende Gebiet der RNA-basierten Medikamente (bekannt geworden insbesondere durch die ersten zwei mRNA-basierten Corona-Impfstoffe, von denen einer aus Deutschland stammt) ist Deutschland stark aufgestellt, wie die Standortkarte in Abb. 1 exemplarisch verdeutlicht.
Die jährlichen F&E-Ausgaben der Pharma- und Biotech-Unternehmen in Deutschland haben laut Stifterverband (Stand 2022) ein Niveau von 9,4 Milliarden Euro erreicht; dies entspricht 38 Millionen Euro pro Arbeitstag. Ähnlich viel geben Unternehmen in Europa sonst nur noch in der Schweiz aus.
Ein wichtiges Plus für ihre deutschen Standorte sehen viele Unternehmen in ihren gut ausgebildeten und verantwortungsvollen Mitarbeiter:innen. 2021 waren rund 25.000 von ihnen in der Forschung und Entwicklung tätig – Männer und Frauen hielten sich dabei sowohl beim akademischen als auch beim technischen Personal in etwa die Waage.
Für den Standort Deutschland sprechen zudem das dichte Netz von sehr guten Fakultäten an den Universitäten und Fachhochschulen sowie eine Vielzahl außeruniversitärer Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-, Leibniz- und Fraunhofer-Institute bzw. die Helmholtz-Zentren. Medizinische Expertise wird in Deutschland auch durch die „Kompetenznetze in der Medizin“ gebündelt, in denen Ärztinnen und Ärzte einrichtungsübergreifend Krankheiten wie Sepsis oder Krebs bei Kindern erforschen. Seit 2009 sind noch sechs Deutsche Zentren der Gesundheitsforschung und ein Forschungsnetz hinzugekommen, die neue Vorsorge- und Behandlungsmöglichkeiten für Volkskrankheiten finden sollen.
Handicaps und wie sie angegangen werden Trotz all dieser guten Rahmenbedingungen
Trotz all dieser guten Rahmenbedingungen und Erfolge ist nicht zu übersehen, dass Deutschland aktuell als Pharma-F&E-Standort noch weit hinter seinen Möglichkeiten bleibt.
So werden aufbauend auf bahnbrechenden Grundlagenergebnissen noch zu selten Start-ups für die Translation – also die Entwicklung darauf aufbauender anwendbarer und marktfähiger Medikamente – gegründet. Mehrere Studien wie zuletzt „Pharma-Innovationsstandort Deutschland“ (2023)Studie1), vom vfa und der Unternehmensberatung Kearney haben herausgearbeitet, dass ein unterentwickelter Zugang zu Risikokapital und eine überbordende Bürokratie wesentliche Ursachen dafür sind. Immerhin hat der Erfolg des deutsch-amerikanischen mRNA-Impfstoffs gegen Covid-19 anscheinend dazu beigetragen, dass Investoren der deutschen Pharmaforschung wie der mehr zutrauen.
Eine Studie des Fraunhofer-Instituts ISI von 2023 wiederum attestierte Deutschland zwar breite Kompetenz für die Medikamentenentwicklung, doch betont sie zugleich, dass das Land dabei in wesentlichen Technologiefeldern mit anderen Ländern im Wettbewerb steht, die darin jeweils ein höheres Maß an Souveränität erlangt haben.
Auch bei der Mitwirkung von Kliniken und Arztpraxen an klinischen Studien zur Erprobung von Arzneimitteln ist Deutschland in den letzten Jahren zurückgefallen. In diesem Gebiet, das für die Unternehmen mindestens so wichtig ist wie für Patientinnen und Patienten, war Deutschland bis 2016 mit rund 641 Studien weltweit noch die Nummer 2 hinter den USA. Im Jahr 2022 war das Land nur noch an 524 Studien beteiligt. 2023 dürften es noch weniger gewesen sein, und Deutschland wurde von mindestens vier weiteren Ländern überholt. Wie „untertourig“ Deutschland hier aktiv ist, zeigt vor allem ein Ländervergleich aus der vfa/Kearney-Studie1): Zwischen dem Spitzenreiter Dänemark, wo pro Million Einwohner:innen 29.300 an Arzneimittelstudien teilnehmen, und Deutschland, wo es nur rund 1.500 sind, liegen Welten!
Das mag auf den ersten Blick überraschen, denn Deutschland verfügt über eine leistungsfähige Kliniklandschaft, deren medizinische Kompetenz und hohe Sorgfalt bei der Datenerhebung von Pharmaunternehmen immer wieder gelobt wird. Mindestens ebenso entscheidend ist für sie aber, wie schnell sie für Studien in einem Land die nötigen Genehmigungen erhalten, Datenschutzfragen klären und Verträge mit Kliniken schließen können. Auch die Möglichkeit, anonymisierte Gesundheitsdaten aus der Bevölkerung für die Studienplanung nutzen zu können, spielt eine Rolle. Hier sind viele andere Länder weitaus besser aufgestellt.
Erfreulicherweise hat die deutsche Regierung 2023 begriffen, dass sie die Situation durch Gesetzgebung verbessern muss. So erleichtert das kürzlich verabschiedete Gesundheitsdaten-Nutzungsgesetz für Unternehmen den Zugang zu anonymisierten Gesundheitsdaten; und mit dem kommenden Medizinforschungsgesetz (MFG) sollen einige Bremsen in den Genehmigungsverfahren und Vertragsverhandlungen für klinische Arzneimittelstudien gelöst werden. Der Gesetzentwurf, über den derzeit das Parlament berät, geht in die richtige Richtung, wird aber allein nicht ausreichen, um Deutschland wieder in die internationale Spitzengruppe zurückzuführen. Dafür braucht es eine grundlegende und von vielen Akteuren getragene Trendwende nach dem Vorbild Spaniens, das seit einigen Jahren „Europameister“ bei klinischen Studien der Industrie ist.
Und ein weiteres Handicap müsste beseitigt werden: Die durch ein Spargesetz von 2022 verschlechterten Vermarktungsbedingungen für Medikamente in Deutschland. Die Unternehmen waren es gewohnt, neu zugelassene Arzneimittel mit als erstes in Deutschland mit in die Versorgung zu bringen. Dies müssen sie nun zumindest für manche Neuprodukte überdenken, denen eine Unterbewertung ihres Nutzens und damit unangemessen niedrige Erstattungsbeträge drohen – und das mit Signalwirkung über Deutschland hinaus. Das wiederum hat auch Rückwirkungen auf die Entscheidung für oder gegen die Beteiligung deutscher Krankenhäuser an klinischen Studien.
Pharma setzt auf Deutschland, weil auch Deutschland auf Pharma setzt
Trotz dieser in manchen Bereichen schwierigen Marktbedingungen setzen forschende Pharmaunternehmen in letzter Zeit wieder verstärkt auf den Standort Deutschland, wenn es um Großinvestitionen geht. So planen mehrere Konzerne hierzulande den Aufbau modernster Produktionskapazitäten, etwa für Krebs- und Adipositas-Medikamente. Andere schaffen neue Laborkapazitäten für die Forschung sowohl zu Biopharmazeutika als auch chemisch-synthetischen und RNA-basierten Medikamenten sowie für Gentherapien. Damit zeigen diese Unternehmen, dass sie den erklärten Absichten der deutschen Regierung Glauben schenken, die in der Pharmaindustrie eine zukünftige Leitindustrie für Deutschland erkennt. Dafür ist diese Branche ja auch wie gemacht, weil sie hohe Werte, gefragte Exportgüter und hochqualifizierte Arbeitsplätze schafft, ohne dabei besonders energieintensiv zu sein.
Quellenangabe:
1) Philipp et al. (2023). Pharma-Innovationsstandort Deutschland. Kearney / vfa. https://www.de.kearney.com/pharma-innovationsstandort-deutschland
Der Autor:
Han Steutel ist Präsident des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) in Deutschland. Die 48 Mitglieder des vfa repräsentieren rund zwei Drittel des deutschen Arzneimittelmarktes. Rund 20 Prozent ihrer Belegschaft arbeiten in Forschung und Entwicklung.