Wie digitale Zwillinge effiziente Prozesse ermöglichen

Process Mining hat sich bei Siemens als digitales Werkzeug etabliert. In den Bereichen Einkauf, Logistik, Fertigung, Finanzwesen und Vertrieb werden Millionen von Vorgängen als digitale Zwillinge visualisiert und anschließend optimiert. Seit der Einführung im Jahr 2014 konnten damit erhebliche finanzielle Potenziale gehoben werden.

Komplexität ist eine der zentralen Herausforderungen, denen sich globale Unternehmen wie Siemens im Rahmen der digitalen Transformation stellen müssen. Beispiel Kundenbestellungen: Allein im Produktgeschäft werden bei Siemens jährlich über 30 Millionen Einzelteile bestellt. Vom Kundenauftrag bis zum Zahlungseingang („Order2Cash“) können über 60 verschiedene Prozessschritte erforderlich sein. Daraus ergeben sich mehr als 300 Millionen einzelne Aktivitäten – in einer früher unüberschaubaren Prozessvielfalt und Komplexität.

Process Mining ermöglicht Siemens heute, diese komplexen Prozessabläufe in Form von digitalen Zwillingen einfach und transparent abzubilden, Ineffizienzen aufzudecken und eine Digitalisierung der internen Prozessabläufe umzusetzen. Ein digitaler Prozess-Zwilling ist (gemäß Gartner) ein dynamisches Softwaremodell, das aus IT-Systemen Spuren einzelner Aktivitäten abgreift und visualisiert. Für das Management bietet sich dadurch ein einfacher Überblick zum jeweiligen Prozess, inklusive operativer Steuerungsmöglichkeiten. Die „Digitale FIT Rate“ zeigt beispielsweise an, wie oft ein Auftrag durchschnittlich „angefasst“ wird. Unnötige Aktivitäten sind leicht zu identifizieren, eliminieren oder durch Automatisierungen zu substituieren. Im Rahmen des „Order2Cash“-Projektes konnten hierdurch letztes Jahr über 10 Millionen manuelle Aktivitäten eingespart werden.

Order2Cash ist nur ein Beispiel, wie innerhalb der Siemens AG mit Process Mining Komplexität visualisiert und nachhaltig verbessert wird. Seit Einführung der innovativen Technologie im Jahre 2014 haben sich zahlreiche Anwendungsfälle in den Bereichen Einkauf, Logistik, Fertigung, Finanzwesen und Vertrieb etabliert, die von tausenden Mitarbeitern aktiv genutzt werden. Millionen von Bestell-, Liefer-, Fertigungs- und Zahlungsvorgängen werden als digitale Zwillinge visualisiert und anschließend optimiert.

Process Mining hat sich inzwischen als digitales Werkzeug etabliert, das die jeweiligen Prozessexperten in einer neuen und innovativen Form unterstützt. Insgesamt konnten damit erhebliche finanzielle Potenziale gehoben werden.

Datenschatz aus digitalen Prozessspuren

Die technische Grundlage für die digitalen Zwillinge lässt sich über ein einheitliches Referenzmodell darstellen. Der erste Schritt ist die Datenbereitstellung, also die Identifikation und Extraktion von relevanten digitalen Prozessaktivitäten. Bei Siemens werden hierfür „digitale Prozessspuren“ aus über 60 verschiedenen IT-Systemen ausgelesen. Jeder relevante, in einem lokalen System gebuchte Vorgang wird automatisch innerhalb weniger Sekunden in eine zentrale Datenbank übertragen – durchschnittlich über 40 Millionen Änderungen pro Stunde. Dann erfolgt die Datennormierung, d.h. eine Vereinheitlichung und Harmonisierung der digitalen Spuren aus den verschiedenen Quellsystemen. Dadurch können z. B. logistische Prozessschritte aus eigenen und Speditionssystemen konsistent verknüpft werden. Prozessmodellierung und -visualisierung ermöglichen die intuitive Darstellung der tatsächlichen Prozessabläufe in Form von digitalen Zwillingen für die Experten der jeweiligen Fachabteilungen.

Im Laufe der Jahre konnte ein digitaler Datenschatz aufgebaut werden, der vielfältige weitere Anwendungsmöglichkeiten ermöglicht. Robotic Process Automation (RPA) ist beispielsweise ein vielversprechender Ansatz, durch Automatisierung einzelne Prozessabläufe effizienter abzuwickeln. Auf Basis der inzwischen verfügbaren, weltweiten Transparenz einzelner Aktivitäten lässt sich leicht identifizieren, welche Aktivitäten bereits heute durch einen Roboter abgewickelt werden. Gleichzeitig wird aufgezeigt, welche dieser Aktivitäten in anderen Einheiten noch manuell durchgeführt werden, wodurch unmittelbare Anwendungsmöglichkeiten für RPA deutlich werden. Das selbstentwickelte Tool „RPA Scout“ zeigt diese Potenziale für Lieferantenaufträge und Kundenbestellung auf.

Spannende Perspektiven

In Kombination mit IIoT (Industrial Internet of Things) ergeben sich spannende weitere Potenziale: Im heutigen Internet der Dinge wird der einzelne Artikel zunehmend „intelligent“ und optimierungsfähig. Durch die Normierung der Daten und mit dynamischen Plattformen lässt sich das Konzept des intelligenten Zwillings beliebig erweitern. Mit diesem digitalen Werkzeug erhalten Prozessexperten und Datenanalysten ganz neue Möglichkeiten, mit detaillierten Einblicken Prozessabläufe unmittelbar zu verbessern. Bei Siemens hat sich dieses spezifische Domänenwissen inzwischen derart kompetent entwickelt, dass auch externe Unternehmen die Erfahrung und Beratung von Siemens nutzen.

Process Mining hat sich bei Siemens „Intra- Company“ quer durch unterschiedliche Bereiche etabliert. Denkbar ist, die Anwendung unternehmensübergreifend zu erweitern, z. B. durch eine übergreifende Prozessoptimierung mit Lieferanten, Spediteuren und Kunden. Das beschriebene Referenzmodell sowie offene Plattformen wie die von Siemens entwickelte IIoT-Plattform MindSphere bieten dafür die notwendigen Grundlagen.

Auch künstliche Intelligenz zeigt erste vielversprechende Ansätze: Während im heutigen System der Anwender noch selber nach Auffälligkeiten suchen muss, gibt es erste Piloten, bei denen die Software dem Anwender relevante Fälle vorschlägt. Mit einer zunehmenden „Intelligenz“ des Systems wird damit der Mensch immer besser unterstützt. All dies sind kleine Schritte in Richtung eines selbstlernenden und -optimierenden Systems, welche mithilfe von digitalen Zwillingen den Weg für die vollautomatisierte Abwicklung standardisierter Prozesse ebnen kann.

Der Autor: Dr. Lars Reinkemeyer ist als leitender Angestellter der Siemens AG unter anderem für Process Mining verantwortlich. Bereits 2014 griff er diese innovative Form der Big-Data-Analyse auf, in Ergänzung zu anderen verfügbaren Analytics-Tools. Neben IT verfügt er über internationale Führungserfahrung in Strategie, Vertrieb und Compliance.