Versicherungsdeckung, ein Auslaufmodell? Versicherer wandeln sich zum Lebensbegleiter

Versicherer sind auch heute noch durch vier große Markteintrittsbarrieren vor Wettbewerb geschützt: Regulierung, das Gesetz der großen Zahl, ihr immaterielles und vertrauens basiertes Produkt und die Trägheit der Kunden. Was ist, wenn das in Zukunft nicht mehr reicht?

Wir können schon jetzt erkennen, wie Technologie – Smartphones, Cloud, das Internet der Dinge – diese Barrieren immer weiter senkt. Für die Kunden der Zukunft zählt Eigentum an sich immer weniger; es ist der Zugang, der wichtig ist. Netflix und Spotify bilden hier die Vorreiter, für Versicherer noch unverfänglich. Aber wenn der Kunde, anstatt einen Pkw mit Versicherung zu kaufen, lieber Car2Go und ZipCar nutzt, ist das Geschäftsmodell vieler Versicherer in Gefahr. Und Insurtechs, wendige Startups, die sich die Rosinen aus einer vielfach ineffizienten Versicherungswertschöpfungskette herauspicken, können diese Entwicklung noch weiter beschleunigen.

Den neuen Modellen ist gemein, dass sie auf wirtschaftlichen Ökosystemen basieren, einem komplexen Netzwerk voneinander abhängiger Organisationen und Beziehungen, oft quer über Branchen und sogar Länder hinweg. Wirtschaftliche Ökosysteme sind in der Regel um ein Bedürfnis oder eine Dienstleistung herum aufgebaut, sei es Mobilität (wie in den Pkw-Beispielen), Wohnen oder Gesundheit. Und die Summe dieser wirtschaftlichen Ökosysteme ergibt das, was wir in einer Studie das „Jeder-mit-jedem-Wirtschaften“ („Everyone-to-everyone“ oder E2E Economy) nennen. (1)

In Ökosystemen und damit der E2E-Wirtschaft haben nur die Unternehmen einen Platz, die in der Lage sind, in Zusammenarbeit mit den Ökosystempartnern kontextbezogenen Mehrwert für den Kunden zu liefern und damit das Ökosystem als Gesamtes zu stärken. Die Kunst wird dabei sein, Austauschbarkeit zu vermeiden – denn je ubiquitärer und austauschbarer die Leistung, desto geringer der Mehrwert für das System.

Das klassische Kerngeschäft eines Versicherers ist die Risikoübernahme. Leider ist genau diese relativ stark austauschbar – das uns allen bekannte White Labeling. Von Versicherer zu Versicherer mögen sich hier Preise und Konditionen unterscheiden, aber nicht der grundsätzliche angebotene Wert und damit die Differenzierungsmöglichkeit. White Labels braucht die E2E-Wirtschaft nicht viele.

Was aber, wenn Versicherer ihre Risikokompetenz nutzen, um im Ökosystem eine viel exponiertere Rolle zu spielen? Der beste Schaden ist einer, der nie passiert – das heißt die Situation, in der der klassische Versicherer nie in Erscheinung treten würde. Statt der Rolle eines Risikoträgers sollten deshalb Versicherer in E2E-Wirtschaft die eines Lebensbegleiters und etablierten Ratgebers für Unternehmen anstreben – eines Partners, der den Kunden beteiligt, ihn versteht und für ihn regelmäßig erkennbare Leistung erbringt (vgl. Abbildung).

Neue Rolle als Lebensbegleiter: Was Kunden von ihrem Versicherer erwarten

Was erwarten die Kunden von diesem Lebensbegleiter? Zu nennen sind hier vor allem drei Qualitäten bzw. Fähigkeiten:

  • Komfort („Beteilige mich“) : Hohe Konnektivität mit offenen Schnittstellen ist im Ökosystem ein grundsätzliches Teilnahmekriterium, denn der Kunde von heute ist Erreichbarkeit und schnelle Antwortzeiten überall und jederzeit gewöhnt. Komfort bedeutet allerdings nicht zwangsweise, dass alles Online sein muss. Gerade im Umgang mit Risiko sind Vertrauen und damit der Ansprechpartner Mensch wichtig, ob in der verkaufenden, beratenden oder unterstützenden Funktion.
  • Individualisierung („Verstehe mich“) : Daten sind das Lebensblut der E2E-Welt. Versicherer besitzen bereits eine Fülle von Daten über ihre Kunden und die Objekte, die sie versichert haben, aber diese sind in der Regel strukturiert, statisch und vergangenheitsbezogen – ausreichend für die Massenprodukte der Vergangenheit, aber nicht für den „Maßanzug“ im Ökosystem. Entscheidend ist die Verwendung unstrukturierter, antizipativer und kontextbezogener situativer Daten.
  • Einfachheit („Arbeite für mich“) : Eine der Vokabeln, die aus dem modernen Versicherungslexikon eigentlich gestrichen gehört, ist der Versicherungsantrag – der Kunde als Bittsteller. Mit dem Lebensbegleiter im Ökosystem zu interagieren und Geschäfte zu machen, muss einfach sein. Cloud und Plattformen, beides wichtige technische Unterstützungen für Ökosysteme, können Versicherern hierbei helfen.

Ein Wandel vom Risikoträger zum Lebensbegleiter erfordert mehr als nur die Neueinführung von etwas anderen Produkten, es braucht ein grundsätzliches Umdenken im Geschäftsmodell und in der Unternehmenskultur. Ich bin aber überzeugt: Nur den Versicherern, denen dieser Schwenk gelingt, wird die ganze Zukunft in der E2E-Welt der Ökosysteme offenstehen.

Der Autor: Stefan Riedel, Vice President Insurance Europe, verantwortet den Versicherungsbereich der IBM in Europa. Zuvor führte er das Assekuranzteam in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Seine Erfahrungen davor sammelte er bei IBM Deutschland als Gesamtverantwortlicher für alle Industrien der IBM im Outsourcing sowie in der Verantwortung der Beratungssparte der IBM für Versicherungen in Zentral- und Ost-Europa.


(1) Bedell, Craig, Christian Bieck, Anthony Marshall and Stefan Riedel. “You, me or us? Digital Reinvention in the global insurance industry”. IBM Institute for Business Value. Oktober 2017. https://www.ibm.com/thought-leadership/institute-business-value/report/drinsurance