Mehr als ein IT-Projekt

Wer heute seine Einkaufprozesse digitalisieren möchte, kann aus einer moderneren und reiferen Lösungsvielfalt wählen als noch vor einigen Jahren. Die üblichen Fehler bei der Implementierung von IT-Lösungen sollten sich jedoch nicht wiederholen. Digitalisierung erfordert auch Anpassungen in der Organisation – am besten mit den Mitarbeitern und durch die Mitarbeiter direkt.

Keine Sorge, in diesem Text wird nicht ein weiteres Mal auf die Notwendigkeit der Digitalisierung im Einkauf hingewiesen. Man sieht im täglichen Geschäft, dass die Botschaft inzwischen überall angekommen ist. In der Automobil- und Luftfahrtindustrie ist Digitalisierung schon seit Jahren gelebte Praxis. Überall, wo es große Stückzahlen gibt, einen hohen Automatisierungsgrad in der Produktion oder eine strenge Nachweispflicht in Bezug auf Prozesse und Materialeinsatz, wurden schon elektronische Bestellprozesse etabliert, als noch niemand von Digitalisierung sprach.

Jedes Unternehmen für sich hat eine andere Absprungbasis: Für Mittelständler kann die Investition in eine neue Einkaufssoftware einen enormen Entwicklungsschub bedeuten, aber auch ein großes Risiko mit hohen Kosten. Gründer wiederum können gleich ohne Ballast mit neuesten Technologien durchstarten. Etablierte Finanzdienstleister dagegen haben zwar jede Menge IT-Systeme an Bord, aber meist nicht im Einkaufsbereich. Bei manchen Unternehmen ist Procurement 4.0 nur Evolution, bei anderen Revolution.

Doch eines gilt für alle: 4.0 ist kein ausschließliches IT-Projekt. Vielmehr bedeutet 4.0 auch, dass Prozesse geprüft und das Operating Model hinterfragt werden sollten. Neues Arbeiten und neues Führen sind gefordert. Nicht nur weil „New Ways of Working“ und „Agile Leadership“ gerade hip sind, sondern weil die hohen Investitionen in die Digitalisierung sonst verschenkt sind. Was bringt ein System, das niemand nutzt oder an der eigentlichen Problemstellung vorbeigeht?

Ein Beispiel: Ein Unternehmer ruft sein Digitalisierungsteam zusammen. Gemeinsam werfen Sie einen Blick auf die IT-Landkarte – nicht ohne Stolz, denn es wurde bereits in viele Tools investiert. Nun möchte der Chef wissen, wie das Unternehmen es hinbekommt, große Datenmengen zu analysieren, so dass man Risiken in der Supply Chain besser einschätzen und voraussehen kann – am besten so etwas wie eine digitale Glaskugel. Was tut der Leiter „Digitalisierung“ im besten Fall, wenn er seinen Job richtig versteht? Nicht etwa direkt vermeintliche Lösungsanbieter vorschlagen, sondern herausfinden, was denn die eigentlichen Schmerzpunkte („Pain Points“) sind und welche Erleichterung und Hilfestellung („Gain Points“) sich der Chef von einer Systemerweiterung verspricht.

Nicht immer ist die Lösung zwangsläufig eine digitale Lösung.

Wer Digitalisierung und Procurement 4.0 angeht, sollte stets den Dreiklang im Kopf haben: Struktur, IT-Lösungen und Menschen. Veränderungen in einer Dimension bedingen automatisch auch Maßnahmen in einem der anderen Elemente.

Elemente erfolgreicher Digitalisierungsprogramme – Quelle: h&z

Die Vision im Blick

Ohne übergreifende Vision kommt der Stein nicht ins Rollen. Was soll anders, besser, leichter, schneller werden? Weniger operative, manuelle Arbeit, dafür mehr Fokus auf Warengruppenstrategien, Lieferantenpartnerschaften und Risikomanagement. Aus der Vision lassen sich konkrete Ziele ableiten. Die Dimension der Veränderung ergibt sich aus dem Vergleich von Ziel und Status quo. So ist auch die Organisationsstruktur anzupassen – durch neue Rollen im Einkauf oder einen schlankeren operativen Einkauf. Dies erfordert wiederum neue Prozesse, klare Verantwortlichkeiten, Kennzahlen und Governance – und damit ein neues „Operating Modell“ für den Einkauf.

Nicht selten müssen sich die Prozesse auch an die gewählte IT-Lösung anpassen – und nicht wie bisher umgekehrt.

Die Qual der Wahl

Im Fokus der Veränderung steht die Auswahl von neuen Tools und IT-Lösungen. Für den Einkauf geht es klassisch um Prozessverschlankung und Automatisierung von wenig wertschöpfenden Aufgaben sowie um mehr Transparenz – und damit um bessere (Unternehmens-)Steuerung, Transparenz über Einkaufsvolumen, Beschaffungsgüter, Lieferanten, Bedarfsstrukturen, Risiken und Chancen. Die cross-funktionale Erarbeitung der Anwendungsfälle („Use Cases“ und „User Stories“) ersetzt dabei das Lastenheft und macht eine strukturierte, erfolgversprechende Toolauswahl möglich.

Doch welches System ist das richtige? Suite oder Best-of-Breed? Weitgehend ist die Erkenntnis gereift, dass selbstgestrickte Lösungen keine Dauerlösung darstellen und meist eine Verschlimmbesserung sind. Die Anbieter-Landschaft hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Durch Portfolio-Erweiterungen, Fusionen von Anbietern oder technische Weiterentwicklungen gibt es heute zahlreiche moderne Lösungen für den Einkauf, die auch die immer wieder geforderte User Experience erfüllen, also intuitiv zu bedienen sind.

Der Faktor Mensch

Werden die Einkäufer und Fachbereiche von Anfang an in das Digitalisierungsvorhaben eingebunden, werden sie meist auch mit neuen Arbeitsweisen vertraut gemacht. Scrum, Sprints, Kanban-Boards und Design Thinking werden im IT-Kontext kennengelernt und zunehmend für das Tagesgeschäft adaptiert. Da wäre noch mehr Experimentierfreude oft wünschenswert.

Denn wer etwas praktisch ausprobieren darf, mitgestalten kann und die Vorteile erkennt, wird sich zum Mitstreiter für die gemeinsame Sache machen. Und wenn die Technik ähnlich freundlich und intuitiv zu bedienen ist wie die von den Leuten privat verwendeten Benutzeroberflächen, wird der Einkauf als Wirkungsbereich insbesondere für Berufseinsteiger attraktiv. Schließlich sind Mitarbeitergewinnung und -bindung heutzutage fast herausfordernder als die Digitalisierung selbst.

Procurement 4.0 bedeutet auch, neue Rollen zu definieren. Einige Mitarbeiter trifft die Digitalisierung unmittelbar, wenn die bisherigen Aufgaben wegfallen. Nicht jede und jeder wird es schaffen oder anstreben, plötzlich strategisch zu arbeiten, Innovationen zu managen und Lieferanten zu entwickeln, statt Bestellvorgänge zu bearbeiten und Liefertermine zu verfolgen. Oft schlummert jedoch ungeahntes Potenzial, wenn die Mitarbeiter gefordert und gefördert werden.

Die neue Rolle des Einkaufsleiters

Schlechte Nachrichten für alle CPOs: Allwissende, patriarchische Einkaufsleiter gehören in Zeiten von Procurement 4.0 der Vergangenheit an. Wissen ist kein Alleinstellungsmerkmal mehr, sondern durch Dashboards und Business Intelligence Cockpits abteilungsweit verfügbar. Der moderne Einkaufsleiter konzentriert sich auf die Richtungsweisung in moderierender Funktion, hält den Teams den Rücken frei und fungiert als Vermittler in Richtung Management und Fachbereich.

Keine Frage, dass es dafür andere Typen braucht, nicht unbedingt jüngere, sondern stets neugierige, offene und uneitle, solche, die auch Verantwortung abgeben können, Vertrauen in die Mannschaft haben und Fehler verzeihen. Als agiler Manager gilt es, mit losen Enden zu leben und viele Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten. Auch sind Leitplanken und rote Linien zu definieren, damit auf der großen Spielwiese Digitalisierung alle wissen, was sie zu tun haben, und nicht komplett verwirrt sind.

Das unterschätzte Potenzial der Lieferanten

Im Kontext von Einkauf dürfen auch die Lieferanten nicht außer Acht gelassen werden. Sie sind oft die besten Informanten, um herauszufinden, wo es immer wieder in der Wertschöpfungskette hakt, wo Zeit und Geld verschwendet werden. Leider kommt dieser Wissensschatz im täglichen Geschäft oft nicht an der richtigen Stelle an. Schon regelmäßige gemeinsame Workshops können die Zusammenarbeit immens stärken und ungeahntes Innovationspotenzial in Form von Prozess- und Produktverbesserungen liefern.

Bei aller Digitalisierung sind die analoge Kommunikation und der direkte Austausch eben nicht zu unterschätzen. Der neue Einkäufer im Zeitalter von Procurement 4.0 ist kein Cyborg, sondern ein höchst kommunikativer Zeitgenosse, neugierig, beweglich und führungsstark.

Das nächste Fokusthema: Nachhaltigkeit

Die nächsten strategischen Herausforderungen warten in der analogen Welt. Wie erreicht das Unternehmen die Nachhaltigkeitsziele und erfüllt immer strengere Regularien? Wie kann ethisch und ökologisch sauber hergestelltes Material in einer ressourcenschonenden Weise beschafft werden? Dem gesellschaftlichen Druck kann sich auch eine perfekt durchdigitalisierte Einkaufsabteilung nicht entziehen. Mit Sicherheit sind die neuen Systeme und die dabei gewonnenen Datenmengen die Voraussetzung.

Die Autorin: Agnes Erben berät Unternehmen bei der Weiterentwicklung der Einkaufsfunktion.  „Procurement 4.0“ ist zentrales Thema bei Projekten im In- und Ausland und auch Titel eines 2017 veröffentlichten Buchs. Die Betriebswirtin begann ihre Karriere in der Luftfahrtindustrie, bevor sie 2008 zur Münchner Unternehmensberatung h&z wechselte. Dort ist sie Partnerin und Mitglied der Procurement Practice. (agnes.erben@huz.dewww.huz.de)

Procurement 4.0 – nur Mut!

Frau Erben, Sie sagen, inzwischen haben alle was gemacht in Sachen Digitalisierung des Einkaufs. Ist das Thema als Teil von „Industry 4.0“ etwa schon erledigt?

Procurement 4.0, also die konsequente Digitalisierung aller Prozesse im Supply Chain Management war das bestimmende strategische Thema der vergangenen Jahre. Inzwischen hat fast jeder Einkaufsbereich dafür einen Fahrplan erstellt und Investitionen getätigt, neue Rollen im Management geschaffen und einen gewissen Transformationsprozess zumindest begonnen. Das ist aber nur der Anfang – jetzt geht es auch um die Umsetzung. Zu viele Unternehmen sind leider rein konzeptionell und theoretisch unterwegs. Einfach mal machen wäre hier die richtige Devise.

Welche Fehler können jetzt noch gemacht werden?

Mancher denkt, man könne den Mitarbeitern einfach ein neues IT-System vorsetzen und sagen: „Viel Spaß damit“. Das funktioniert aber nicht. Es gilt das Team von Anfang an mitzunehmen, zu gewinnen, zu begeistern. Alle müssen den persönlichen Mehrwert der Systeme für sich erkennen und sich eingeladen fühlen, auch aktiv an und mit den Tools zu arbeiten. Der Mensch als Gewohnheitstier ist nicht immer per se von einer Veränderung begeistert. Wer ein neues Werkzeug der Digitalisierung implementiert, darf außerdem nicht zu viel auf einmal wollen und nicht zu perfektionistisch sein. Ausprobieren und Nachschärfen funktioniert meistens besser und kommt am Ende billiger.

Das klingt nach einem großen Experiment…

Experiment weniger, eher eine spannende Reise, die Mut und Vertrauen erfordert. Schließlich geht es darum, alte Gewohnheiten abzulegen und an manchen Stellen einen Paradigmenwechsel durchzuführen. Denken Sie nur an den Bestellfreigabeprozess. Moderne Systeme setzen den mündigen Mitarbeiter voraus und verschlanken so den mehrstufigen Genehmigungsprozess. Und wer jetzt denkt, dass dann nur Unfug passiert, sei eines Besseren belehrt: digitale Spuren bringen schwarze Schafe ganz schnell ans Licht.