„In den nächsten Jahren werden viele neue Werkzeuge entstehen“

Der niederländischer Informatiker Prof. Dr. Wil van der Aalst begründete 1999 an der Technischen Universität Eindhoven die Process-Mining-Forschung. Im Interview schildert er die Entwicklung und den aktuellen Stand von Process Mining.

Herr Prof. van der Aalst, unsere erste Frage. Process Mining: Wie hat alles angefangen?

Es begann in den späten neunziger Jahren. Ich habe an Prozessmodellierungs-, Simulations- und Workflow-Managementsystemen gearbeitet. Obwohl unsere Arbeit richtungsweisend war und von vielen Menschen genutzt wurde, wurde mir klar, dass zwischen den von uns entwickelten Modellen und der Realität eine große Lücke besteht. Es war sehr schwierig, Simulationsmodelle zu erstellen, die sich ähnlich wie Personen oder Organisationen verhalten. Ich war an vielen Workflow-Projekten beteiligt und in vielen Fällen versagten Workflow-Management-Systeme, weil sie auf zu einfachen Prozessen basierten. Im Gegensatz zu uns Menschen arbeiten Maschinen oder Computerprogramme vollständig anders. Der einzige Weg die Arbeitsweise von Maschinen/Programmen zu verstehen ist, sie “in freier Wildbahn” zu beobachten. Das haben wir getan.

Sie haben in den späten neunziger Jahren den Bereich Process Mining geschaffen. Warum wurde das Thema erst in den letzten Jahren für ein breiteres  Publikum sichtbar?

Als wir Ende der neunziger Jahre damit anfingen, waren die Process-Mining-Techniken noch nicht ausgereift. Zum Beispiel war die erste echte Prozesserkennungstechnik der um die Jahrhundertwende entwickelte Alpha-Algorithmus. Die Arbeit war zu dieser Zeit sehr anspruchsvoll. Heute wissen wir, dass viele der Annahmen, die ich zur Erstellung des Alpha-Algorithmus verwendet habe, nicht der Realität entsprachen. Ein paar Jahre später gab es viel mehr Daten, und wir entwickelten viel bessere Algorithmen.

Die meisten Organisationen waren jedoch nicht für das Process Mining bereit. Die Menschen, die Process Mining in Aktion sahen, waren alle positiv überrascht – dennoch verlief die Akzeptanz sehr langsam. Das hat sich erst vor wenigen Jahren geändert. Mittlerweile gibt es mehr als 25 Process-Mining-Anbieter. Der Erfolg von Celonis, eines der wenigen deutschen Einhörner (Startups im Wert von über einer Milliarde Dollar), hat vielen Investoren und Entscheidungsträgern die Augen geöffnet.

Wenn ich Vorträge halte, stelle ich jedoch fest, dass sich viele Fachleute immer noch nicht bewusst sind, welche Möglichkeiten diese Technologie bietet. Daher werden Bewusstsein und Akzeptanz in den kommenden Jahren weiter steigen. Junge Berufstätige sind tendenziell viel datengesteuerter als ältere. Es gibt immer noch einen gewissen Widerstand gegen datengesteuerte Entscheidungen und für Transparenz.

In welchen Bereichen haben Sie Process Mining angewendet?

Wir haben Process Mining in rund 200 Organisationen über einen Zeitraum von 20 Jahren angewendet. Zu den typischen Anwendungen gehören Prozesse, die durch ERP- und CRM-Systeme – zum Beispiel SAP – unterstützt werden. Ebenso Anwendungen in Gesundheitsinformationssystemen in einer Reihe von Krankenhäusern, in Logistik und Produktion (z.B. mit Vanderlande), im E-Learning (z.B. basierend auf Coursera-Daten), im E-Government (z.B. das CoSeLog-Projekt) und vielen anderen Bereichen. Die Ziele sind stets die Verbesserung der Leistung (z.B. Kosten senken, Engpässe beseitigen) und der Compliance.

Was waren Meilensteine ​​in der Entwicklung dieses neuen Themenbereichs?

Es gibt viele, aber hier einige der bedeutendsten Meilensteine:

  • 1999 – Start der Process Mining-Forschung an der Technischen Universität Eindhoven
  • 2000 bis 2002 – Alpha und Heuristischer Miner
  • 2004 – erste Version von ProM
  • 2004 – tokenbasierte Konformitätsprüfung
  • 2005 – Organization mining, Decision Mining usw.
  • 2007 – erstes Process-Mining-Unternehmen (Futura PI)
  • 2010 – Alignment-basierte Konformitätsprüfung
  • 2011 – erstes Buch über Process Mining
  • 2014 – Coursera Process Mining MOOC
  • 2016 – Buch „Process Mining Data Science in Aktion”
  • 2018 – Marktübersicht für Process Mining von Gartner
  • 2018 – Celonis wird zum Einhorn
  • 2019 – erste internationale Process-Mining-Konferenz in Aachen (ICPM 2019)

Sie sind einer der meistzitierten Informatiker der Welt – laut Google derzeit auf Platz 15. Warum ist Ihre Arbeit so einflussreich?

Es ist wichtig, innovativ zu sein und an grundlegenden Problemen zu arbeiten. Zu viele Wissenschaftler folgen dem Mainstream oder arbeiten weiter an Dingen, die sie zu Beginn ihrer Karriere untersucht haben. Zum Beispiel begannen plötzlich viele Menschen, an neuronalen Netzwerken zu arbeiten, ohne originelle Ideen oder klar definierte Herausforderungen zu haben. In zehn Jahren wird niemand mehr diese Papiere lesen.

Die Idee, Process Science mit Data Science zu verbinden, ist einfach. Doch nur wenige Leute haben ein gutes Verständnis sowohl für die Parallelitätstheorie (z.B. Petri-Netze) als auch für Prozessmodellierung, das maschinelle Lernen, Data Mining und Statistik. Process Mining schließt die Lücke zwischen Process Science und Data Science.

Es gibt mehr als 25 kommerzielle Process- Mining-Tools auf dem Markt. Wie würden Sie den aktuellen Stand der Technik beschreiben?

Alle Tools bieten grundlegende Erkennungsfunktionen. Sie sind alle in der Lage, einen sogenannten Direct-follow-Graph zu identifizieren und Frequenzen und Zeiten anzuzeigen. Da diese Funktionalität leicht nachzuahmen ist, erwarte ich, dass in den nächsten Jahren viele neue Werkzeuge entstehen werden. Zum Beispiel ist es einfach, Dinge auf PowerBI-, RapidMiner-, Knime- oder vorhandenen R- und Python-Bibliotheken aufzubauen.

Die Prozesserfassung ist jedoch nur der Ausgangspunkt. Die führenden Tools bieten auch Konformitätsprüfungen und Ursachenanalysen. Diese erweiterten Funktionen lassen sich nicht so einfach kopieren.

Wie hängt Process Mining mit Robotic Process Automation zusammen?

Robotic Process Automation (RPA) ist ein Oberbegriff für Werkzeuge, die auf der Benutzeroberfläche anderer Computersysteme wie ein Mensch arbeiten. RPA zielt darauf ab, Menschen durch Automatisierung zu ersetzen, auf Basis der Outside-in“-Methodik. Dies unterscheidet sich vom klassischen “Inside-Out” -Ansatz, der in typischen Workflow-Automatisierungsprojekten verwendet wird. Normalerweise folgen Prozesse einer Pareto-Verteilung. Das meint, dass 80% der Fälle mit 20% der beobachteten Varianten erklärt werden können. Das heiß, dass die meisten Varianten eher selten sind. Die Automatisierung zielt auf die häufigsten Prozessvarianten ab. Sehr seltene (“one of a kind”) Varianten sollten für die Automatisierung nicht in Betracht gezogen werden. RPA hilft dabei, den Mittelteil zu adressieren, d. h. sich wiederholende Arbeiten, die nicht häufig genug sind, um die Workflow-Automatisierung oder ein neues integriertes Informationssystem zu rechtfertigen. Process Mining kann dabei helfen, Prozesse für RPA zu identifizieren. Darüber hinaus kann Process Mining nach der Einführung von RPA verwendet werden, um Roboter und Menschen zu überwachen, Probleme zu erkennen und Arbeit umzuverteilen. Komplexe Fälle können von Robotern an Personen übergeben werden, und einfache Fälle können von Personen an Roboter zur “automatischen Vervollständigung” übergeben werden.

Welche Funktionalitäten fehlen aktuellen kommerziellen Process-Mining-Tools?

Es gibt einen Trend vom rückwärts gerichteten Process Mining (z. B. zur Diagnose von Leistungs- und Compliance-Problemen) hin zum vorausschauenden Prozess Mining. Heutige Systeme unterstützen dies nicht optimal. So schlägt Process Mining beispielsweise keine Verbesserungsmaßnahmen vor. So stößt Process Mining bei der Verwendung von vereinfachten informellen Modellen während der Entdeckung (z. B. der direkt folgende Graph) und bei der eingeschränkten Verwendung von formalen (d. h. präzisen) Modellen für die Konformitätsprüfung und –vorhersage an seine Grenzen.. Prozesserkennung, Konformitätsprüfung und zukunftsweisende Ansätze müssen sogenannte “Hybridprozessmodelle” verwenden, die das Beste aus beiden Welten vereinen.

Was sind die nächsten Herausforderungen beim Process Mining?

Die heutigen Process-Mining-Tools sind ausgereift genug, um die meisten Betriebsprozesse zu verbessern. Die wichtigsten einschränkenden Faktoren sind die Qualität der Mitarbeiter und die Datenqualität.

Zertifizierte Six-Sigma-Projektleiter haben möglicherweise noch keine Ahnung von Process Mining und verwenden daher die zur Verfügung stehenden Ereignisdaten nicht. Projektleiter und -manager möchten möglicherweise um jeden Preis Transparenz vermeiden. Entscheidungsträger kennen eventuell nicht die Möglichkeiten des Process Mining. Auch kann es schwierig sein, relevante Daten in einer Organisation zu finden. Man muss Teams bilden, die über Fachkenntnisse, Systemkenntnisse und Programmierfähigkeiten verfügen.

Diese Probleme müssen dringend angegangen werden. Menschliche Skills und Datenqualität sind Katalysatoren, die schnell zu besseren Prozessen führen. Alle anderen Zutaten sind da!

Der Autor: Prof. Dr. ir. Wil van der Aalst ist ordentlicher Professor an der RWTH Aachen und leitet die PADS-Gruppe (Process and Data Science).  Nebenberuflich ist er Mitglied des Fraunhofer- Instituts für Angewandte Informationstechnik (FIT), wo er die Process-Mining-Gruppe von FIT leitet. Seine Forschungsinteressen umfassen Process Mining, Petri-Netze, Geschäftsprozessmanagement, Workflowmanagement, Prozessmodellierung und Prozessanalyse. Wil van der Aalst ist auch für Unternehmen beratend tätig, darunter Fluxicon, Celonis, Processgold und Bright Cape. Van der Aalst erhielt Ehrentitel von der Moskauer Hochschule für Wirtschaft (Prof. h.c.), der Tsinghua-Universität und der Hasselt-Universität (Dr. h.c.). Er ist auch ein gewähltes Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Künste und Wissenschaften, der Royal Holland Society of Sciences and Humanities und der Academy of Europe. 2017 erhielt er eine Humboldt-Professur.

Internationale Konferenz  zu Process Mining

Wenn Sie mehr über Process Mining erfahren möchten, gibt es diesen Sommer eine einzigartige Gelegenheit. Die erste internationale Konferenz zu Process Mining (ICPM 2019) findet vom 24. bis 26. Juni in Aachen statt. Auf der ICPM 2019 werden alle Vordenker anwesend sein, die sich mit Process Mining beschäftigen. Das Programm beinhaltet einen vollgepackten Branchentag sowie spannende Vorträge der führenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Die Konferenz wird von den wichtigsten Anbietern unterstützt, die Process-Mining-Software anbieten – ist jedoch neutral und bietet werkzeugunabhängige Einblicke. Die ICPM 2019 ist damit nicht nur Treffpunkt für alle, die mit Process Mining arbeiten, sondern bietet auch einen hervorragenden Einstieg in das Thema.