Digitalisierung als Transformationsimperativ

Um das Potential digitaler Transformation zu realisieren und Zukunft erfolgreich zu gestalten, wird Lernen mehr denn je zum strategischen Erfolgsfaktor – sowohl für den Einzelnen als auch die Organisationen, deren Teil wir sind. Die digitale Transformation ist damit Auslöser und Enabler für eine Renaissance des Lernens und der Arbeit an der eigenen Unternehmenskultur. Zeigen lässt sich das am Beispiel der Automobilbranche.

Die Digitalisierung birgt auch für die Automobilbranche weitreichende Konsequenzen. Zentrale Trends werden bei Daimler unter dem Akronym CASE zusammengefasst. Gemeint ist damit a) die zunehmende Bedeutung von Connectivity, b) die Chancen und Herausforderungen autonomen bzw. automatisierten Fahrens, c) die zunehmende Bedeutung von Shared Ownership Modellen sowie d) die Elektrifizierung des Fahrzeugantriebs.

Jeder dieser Trends bietet Möglichkeiten der erfolgreichen Differenzierung im Wettbewerb, stellt aber auch Anforderungen an das im Konzern verfügbare Wissen und an die Einstellungen, Kompetenzen und Fertigkeiten der Mitarbeiter. Denn die rasant abnehmende Halbwertzeit etablierten Wissens, insbesondere in Kombination mit der Entstehung völlig neuer Inhaltsbereiche, verkürzt die Zeiten, in denen Rollen, Funktionen und Fertigkeitsprofile als stabil gelten. Sie erfordert insbesondere, dass eine neue Form des Lernens zur Selbstverständlichkeit wird: eigenverantwortlich, vorbeugend statt nur reaktiv, agil, sozial, vernetzt – und wo sinnvoll auch unter Nutzung digitaler Technologien.

Diese Veränderung ist so grundlegend, dass es sich letztlich um eine Lern- und Kulturtransformation handelt. Die Bedeutung dieser Transformation ist in vielen Unternehmen als integraler Bestandteil der Agenda des Topmanagements angekommen.

Bei der Formulierung eines systematischen Ansatzes zur Gestaltung der Lern- und Kulturtransformation haben sich folgende Entscheidungen als hilfreich erwiesen:

  • Die Definition des Themas Wissens-, Lern- und Unternehmenskultur als strategische Priorität, die gezielt zu managen ist, die aber gleichzeitig nicht hierarchisch delegiert werden kann. Es besteht eine gemeinsame Verantwortung.
  • Die Differenzierung von Mindsets, Competencies und Skills, also von grundsätzlichen Einstellungssystemen, überfachlichen Kompetenzen und detaillierten, oft fachspezifischen Fertigkeiten.
  • Die systematische Optimierung sowohl von „Upskilling for Digital“ als auch von „Upscaling Digital“, d.h. der Aufbau digitaler Kompetenzen über unterschiedliche Formate in Verbindung mit der lerner-zentrischen Entwicklung von digitalen Inhalten und Lernumgebungen.
  • Die konsequente Förderung von Lernmotivation.
  • Eine Kulturveränderung für die Lernfunktion selbst – im Sinne eines konsequent kundenzentrierten Designs von Lernangeboten und einer Abwendung von einem stärker durch Lernaktivitäts- und Lernerfolgskontrolle geprägten Rollenverständnis.
  • Das systematische Lernen von organisationsinternen Erfolgsmodellen, d.h. von Transformationsbeispielen, ohne dabei die jeweiligen Besonderheiten der Bereiche zu unterschätzen.

Kulturtransformation I:  Leadership 2020 und IMPULSE

Für Daimler war die Bedeutung der genannten Themen im Jahr 2016 Anlass, mit Leadership 2020 die größte Kulturtransformationsoffensive in der Geschichte des Konzerns zu beginnen. Acht gemeinsam vom Vorstand und einer Gruppe von 144 Repräsentanten der Leadership Community definierte Themen umfassten einerseits organisations-zentrische Veränderungen (wie etwa optimierte Innovations- und schlankere Entscheidungsprozesse, agile Organisationsformen) als auch personal-zentrische Themen (Feedback, Performance Management, Besetzungsprozesse sowie Führungsprinzipien und Rollenentwicklung).

Die Themen fanden Eingang in ein neues HR-Eco-System. Das IMPULSE genannte System, erhöht die Transparenz und legt die Betonung auf die Eigenverantwortung der Führungskräfte und Mitarbeiter.

Kulturtransformation II:  Massive Open Online Conversation

Um über die Grenzen von Ländern, Divisionen, Regionen, Sprachen und Fachfunktionen hinweg ein gemeinsames Verständnis der Tragweite der Kulturtransformation und der sich daraus ergebenden Handlungskonsequenzen bei Daimler zu entwickeln, entstand als Initiative aus Leadership 2020 und der Daimler Corporate Academy das Konzept einer innovativen Massive Open Online Conversation (MOOC). Im Gegensatz zu am Markt etablierten MOOCs wurde hier der Inhalt gänzlich selbst entwickelt, wesentlich unter Nutzung interner Erfahrungsmodelle. Sie sollten informieren, aber auch zum Austausch anregen und ein konzernweit unter allen Führungskräften geteiltes Grundverständnis der anstehenden Transformation schaffen. Die Resonanz war überwältigend positiv.

Kulturtransformation III:  Die Individualisierung der digitalen Lernerfahrung

Auch bei Daimler beobachten wir einen Trend zur Individualisierung von Lerninhalten. Dies kann in Szenarien münden, in denen auf der einen Seite einem Skill-Zielprofil einer Funktion direkt ein individuelles Paket passender Bildungsmaßnahmen zugeordnet wird, andererseits aber die Entscheidung für die Konfiguration eines Lernpfades vollständig dem Lernenden selbst überlassen werden kann. In beiden Fällen beobachten wir einen Trend zur Ergänzung von Learning Management Systemen in Richtung von Learning Experience Plattformen, die durch teils algorithmenbasierte Empfehlungsfunktionen, Skillmapping und Lernpfade die Passung von Inhalten verbessern und die Lernmotivation erhöhen.

Ausblick

Die digitale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hat die permanente Veränderung zu einer Konstanten werden lassen. Dies bedeutet nicht nur eine Geschäfts- sondern auch eine Lern- und Kulturtransformation, denn es geht darum, Einstellungen, Kompetenzen und Fertigkeiten zu erneuern, um die Zukunft zu gestalten und nicht nur auf veränderliche Anforderungen zu reagieren.

Lernfunktionen in Organisationen sind am wirksamsten, wenn sie zwei Schwerpunkte umsetzen: wenn sie kenntnisreich und uneitel die individuellen Bedarfe der Lernenden verstehen, antizipieren und über niedrigschwellige und ansprechende Angebote adressieren – und wenn sie in enger Verzahnung mit Strategie und operativem Geschäft eine Übersetzungsleistung für die Organisation erbringen, welche Mindsets, Competencies und Skills einer gezielten Förderung bedürfen.

Der Autor: Dr. Oliver Fischer leitet als Chief Learning Officer die Corporate Academy der Daimler AG. In dieser Funktion verantwortet er auf Konzernebene Leadership Development, General Business Skills, die Qualifizierung für Konzernfunktionen, akademische Bildungsprogramme und die MINT Initiative Genius.