Die digitale (R)Evolution hat gerade erst begonnen

Deutschlands Versicherungen haben in den vergangenen Jahren eine digitale Aufholjagd gestartet. Nun geht es um eine Verstetigung und Erweiterung der Initiativen mit Blick auf die tief greifenden Veränderungen ihrer Märkte. Schritt für Schritt entstehen Versicherer der nächsten Generation.

Revolution? Kaum ein anderer Begriff scheint auf den ersten Blick so wenig zur stabilitätsorientierten, langfristig agierenden und auch deshalb eher als konservativ geltenden Versicherungsbranche zu passen. Und doch zählt er dort mittlerweile zum gängigen Vokabular. Revolution! Wie in vielen anderen Branchen entzündete sie sich an dem sich verändernden Konsumentenverhalten sowie dem Vordringen digitaler Technologien im Vertrieb und im Marketing. Dies aber war nur der Auftakt für eine viel weiter gehende Umwälzung der bestehenden Geschäftsmodelle.

Umdenken ist angesagt

Den permanenten Revolutionsprozess treiben vier Faktoren voran. Dabei handelt es sich um tief greifende Veränderungen in einer einzigartigen Koinzidenz. Im Einzelnen sind das

  • die wachsenden Erwartungen der Kunden,
  • das Aufbrechen der herkömmlichen Wertschöpfungsketten,
  • das Aufkommen zusätzlicher Wettbewerber und
  • der rasante technologische Wandel.

Alle vier Faktoren zwingen die Versicherer dazu, ihr Geschäftsmodell sowie Strukturen, Prozesse und Arbeitsweisen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu hinterfragen.

Digitale Platzhirsche wie Amazon oder Apple haben maßgeblich dazu beigetragen, dass Kunden es inzwischen als selbstverständlich ansehen, jeden Service zu jeder Zeit an jedem Ort nutzen zu können. Diese Verfügbarkeit rund um die Uhr ist ebenso wie Einfachheit und Transparenz binnen weniger Jahre auch in der Assekuranz zu einem wichtigen Differenzierungsmerkmal geworden. Doch während viele Versicherer noch an der entsprechenden Ausrichtung ihres Angebots arbeiten, zeichnen sich bereits neue Kundenerwartungen am Horizont ab. Insbesondere für die Millennials ist laut Bain-Studien die kanalübergreifende funktionale Exzellenz eine Selbstverständlichkeit und sie achten verstärkt auf Themen wie Engagement, Personalisierung und Einbettung in eine Community.

Vom Produktverkäufer zum Lösungsanbieter

Diese neuen Kundenerwartungen zwingen Versicherer zum Umdenken. Den Kunden geht es nicht mehr nur darum, sich gegen Risiken abzusichern. Auch wollen sie den Wert von Vermögensgegenständen, sei es eine Immobilie oder sei es ein Auto, erhalten, sicher in den eigenen vier Wänden leben, Schäden schnell beheben lassen oder im Fall der Krankenversicherung einfach gesund bleiben. Der Versicherer wandelt sich hierdurch vom Produktverkäufer zum Lösungsanbieter. Gefragt ist künftig ein ganzes Bündel an Services – und damit das viel zitierte Ökosystem.

Für die Versicherungsbranche ergeben sich durch diesen Wandel der Wertschöpfung große Chancen. Denn laut der aktuellen Bain-Studie „Deutscher Versicherungsreport: Die Entschlüsselung der Kunden-DNS“ sind 85 Prozent der befragten Deutschen an solchen Ökosystemen interessiert, mehr als die Hälfte sieht sogar ihren Versicherer als bevorzugten Anbieter. Das ist eine Steilvorlage, wenn man berücksichtigt, dass mit der Zahl der Services zugleich die Loyalität der Kunden steigt, deren Preissensitivität sinkt und darüber hinaus viele Versicherte einen Wechsel zu einem Anbieter mit Ökosystemen in Betracht ziehen.

Millennials akzeptieren auch Branchenfremde

Mit Ökosystemen rüstet sich die Assekuranz zugleich für das Vordringen neuer Wettbewerber, der dritte Treiber der digitalen (R)Evolution. Das Spektrum reicht von Insurtechs über Plattformen wie Check24 bis hin zu Branchenneulingen. Dazu zählen Hightech-Konzerne wie Amazon, aber beispielsweise auch Kfz-Hersteller. Die jüngste Bain-Befragung im Rahmen der bereits erwähnten Studie verdeutlicht das Ausmaß der Bedrohung. Danach hätten 47 Prozent aller Kunden sowie 74 Prozent der Millennials kein Problem, eine Versicherung auch bei einem Branchenfremden abzuschließen.

Der Vormarsch der Branchenneulinge im komplexen Versicherungsgeschäft hängt eng mit dem vierten Treiber zusammen: dem technologischen Fortschritt und hier allen voran der Verfügbarkeit einer immer höheren Zahl zunehmend umfangreicherer Daten. Telematik, Smart Home und andere Innovationen erleichtern es, Tarife passgenau zu kalkulieren und Angebote zu personalisieren – selbstverständlich im Einklang mit den jeweiligen Datenschutzrichtlinien. Dies gilt nicht nur für Privatkunden. Auch im Gewerbe- und Industriegeschäft eröffnen technische Entwicklungen wie Smart Factory neue Möglichkeiten, Risiken frühzeitig zu erkennen und Schäden zu verhindern.

Im Zusammenspiel mit dem Internet der Dinge stecken in Advanced Analytics und im maschinellen Lernen häufig die größten Potenziale für die Versicherer. Und dies gilt entlang der gesamten Wertschöpfungskette und damit auch in den Kernfunktionen des Underwriting, des Pricing und des Schadenmanagements (vgl. Abbildung).

Deutliche Kostensenkung möglich

In der Analyse „Digitalisierung der Versicherungswirtschaft: Die 18-Milliarden-Chance“ hat Bain gemeinsam mit Google am Beispiel der deutschen Sachversicherer ermittelt, welche finanziellen Effekte ein flächendeckender Einsatz digitaler Technologien über die komplette Wertschöpfungskette hinweg haben könnte. Danach würde ein typischer Sachversicherer durchschnittlich 27 Prozent seiner Kosten sparen. Vorreiter könnten zudem durch den Gewinn von Marktanteilen ihre Prämieneinnahmen um rund 25 Prozent steigern. Bei dieser Analyse handelt es sich lediglich um eine Momentaufnahme. Weitere Technologien drängen auf die Agenda der Versicherer. Dazu zählen das autonome Fahren sowie vernetzte Produktionsanlagen und Eigenheime.

Fünf Handlungsmaximen für den digitalen Erfolg

Das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Veränderungen stellen die Versicherungen sowohl hierzulande als auch weltweit vor große Herausforderungen. Fünf Handlungsmaximen ermöglichen es, in diesem Umfeld das Geschäft zu transformieren und – wo nötig – neu zu gestalten:

  1. Strategie im Spannungsfeld von Evolution und Disruption weiterentwickeln
  2. Aus der Kundenperspektive denken
  3. Sich vom Produktverkäufer zum Lösungsanbieter wandeln
  4. Transformation ganzheitlich angehen
  5. Digitale Initiativen orchestriert skalieren

Bei der Strategie empfiehlt sich ein Zusammenspiel von „Today Forward“- und „Future Back“-Ansätzen. Das Topmanagement sollte nicht nur traditionell die Strategie der kommenden drei bis fünf Jahre planen. Die Wucht der anstehenden Veränderungen erfordert es, sich zusätzlich mit Szenarien für die Versicherungsmärkte im Jahr 2030 auseinanderzusetzen. In der Praxis stellt sich in diesem Zusammenhang häufig die Frage, ob eine Organisation Schritt für Schritt transformiert werden sollte oder ob Investitionen in transformative beziehungsweise disruptive Innovationen sinnvoller sind. Aus Bain-Sicht ist die Antwort darauf kein „Entweder-oder“, sondern ein „Sowohl-als-auch“. Angesichts des Wandels kommt kein Versicherer um eine Transformation der bestehenden Organisation herum. Darüber hinaus gilt es, sich intensiv mit disruptiven Entwicklungen zu befassen und in der Folge mithilfe agiler Methoden neue Konzepte zu entwickeln und zu testen.

Die vermutlich größte Herausforderung besteht vielerorts in der fundamentalen Neuausrichtung, an der im Rahmen der Transformation kein Weg vorbeiführt. Noch liegt der Fokus häufig auf den sichtbaren Elementen wie einem neuen Kundenportal, einer kundenfreundlichen App oder verbesserten Kundenschnittstellen. Auf Sicht müssen jedoch alle Versicherer auch grundlegende Komponenten wie IT-Architektur und Datenmodelle überprüfen und modernisieren sowie notwendige Kompetenzen aufbauen und Arbeitsweisen anpassen (vgl. dazu Kurzinterview).

Digital und kundenzentriert

Wer die Herausforderungen annimmt und die Handlungsmaximen beherzigt, hat sehr gute Chancen, zu den Gewinnern der digitalen (R)Evolution zu zählen. Im laufenden Betrieb entsteht so Schritt für Schritt ein Versicherer der nächsten Generation: vollständig digitalisiert und ohne Ausnahme kundenzentriert.

Der Autor: Dr. Henrik Naujoks ist Partner bei der internationalen Managementberatung Bain & Company und leitet deren weltweite Versicherungsaktivitäten. Der promovierte Betriebswirt verfügt über mehr als 25 Jahre Beratungserfahrung und unterstützt seine Kunden insbesondere in den Bereichen Unternehmens- und Geschäftsfeldstrategie, Kundenfokusprogramm und Post-Merger-Integration. In den letzten Jahren hat er sich schwerpunktmäßig auch dem Thema Digitalisierung gewidmet.

„Skalierung vielversprechender Konzepte gelingt nicht“

Bain-Partner Dr. Henrik Naujoks zu den aktuellen digitalen Herausforderungen der Versicherungsbranche:

Wo steht die Versicherungswirtschaft in puncto Digitalisierung?

Naujoks: Die Branche hat in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht. Doch derzeit klagen viele Versicherer, dass sich die wirtschaftlichen Effekte nicht wie erwartet einstellen.

Woran liegt das?

Naujoks: Es gibt viele zum Teil sehr gut umgesetzte Einzelprojekte. Doch mitunter fehlt die Einbindung in ein stimmiges Gesamtkonzept oder aber es scheitert die Skalierung vielversprechender Konzepte wie zum Beispiel Analytics-Anwendungen oder die Neugestaltung von Kundenreisen. Mancherorts erfolgt sie gar nicht erst.

Wie lässt sich das ändern?

Naujoks: Zum einen braucht es eine klare Richtung und eine strategische Einbettung der Digitalisierungsbestrebungen. Zum anderen gilt es die Transformation sorgfältig zu orchestrieren, um Ressourcen und Veränderungsfähigkeit nicht überzustrapazieren. Und schließlich müssen Betriebsmodell und Kultur die Skalierung von Innovationen erleichtern.