Der Tod des klassischen Vertriebs

Kein Experte bestreitet, dass die Welt der Konsumgüter und des Handels gerade eine turbulente Phase des Wandels durchläuft. Alle nutzen Buzzwords wie „Agile“, „Omnichannel“ oder „Disruption“. Oft verbergen sich hinter diesen Buzzwords sinnvolle Ideen und Lösungsansätze, ein greifbares Bild der Zukunft ist gleichwohl selten erkennbar. Um dieses zu gewinnen hilft manchmal ein Gedankenexperiment, das den Blick über den Horizont lenkt und die sich abzeichnenden Veränderungen klarer hervortreten lässt.

Man stelle sich vor, ein Wirtschaftshistoriker beschreibt im Jahr 2040 den Handel mit Konsumgütern zur Zeit der Corona­Pandemie. Was würde er zum Status im Jahr 2021 sagen?

„Der Konsum steckt zu Beginn der 20er Jahre noch tief in der digitalen Übergangsphase. Erste technologische Möglichkeiten werden genutzt, aber noch dominieren die Restriktionen des analogen Zeitalters. Die traditionelle Zwischenstufe des Handels kontrolliert die Schnittstelle zum Konsumenten fast überall. In vielen Fällen muss sich der Kunde in ein physisches Geschäft begeben und mitunter Öffnungszeiten einhalten. Zwar gibt es digitale Kanäle, über die Konsumenten von überall und zu jeder Zeit bestellen können; die Verzahnung der Kanäle ist allerdings noch lückenhaft.

Ein ganz entscheidendes Defizit besteht darüber hinaus darin, dass die Hersteller von Konsumgütern ihre Kunden in der Regel nur sehr oberflächlich kennen. Meist stehen sie nicht in direktem Kontakt zu ihnen und besitzen kaum Daten über ihre Präferenzen und ihr Verhalten. Vermeintliches Wissen über die Kunden erkaufen Hersteller durch die antiquierte Form der Sekundärmarktforschung. Regelmäßigen Kontakt pflegen sie dagegen zu ihrem Distributionspartner, dem Handel. Die Unternehmen treffen ihre Entscheidungen in erster Linie auf der Basis von Erfahrungswerten und nur selten datengetrieben. Wie so oft in historischen Strukturbrüchen existieren auch im Pandemiejahr 2021 nur wenige Unternehmen, die innovativ herausstechen und sich radikal wandeln.

Konsumgüterunternehmen treffen Entscheidungen über das Sortiment, neue Produkte und die Zielgruppenauswahl vorwiegend produkt­ oder marketingorientiert. Sie handeln nach einem traditionellen Push­Modell – und je ausgeprägter die produzierten Güter einen Lifestyle­Charakter haben, desto stärker dominiert das Marketing. Dieses Modell zeigt allerdings zunehmend Schwächen: Verbraucher*innen informieren sich eigenständig und suchen gezielt, was ihren Bedürfnissen entspricht. Sie sind bereit für ein Pull­Modell mit einer Demand­Driven Supply Chain.“

Es fällt sicherlich nicht schwer, der Diagnose des Historikers zuzustimmen; schwieriger ist es, daraus eine ganzheitliche Zielvorstellung sowie ein strategisches Programm abzuleiten. Versuchen wir es!

Die neue Macht der Kunden

In unserer Welt des Überangebotes ist das Konkurrenzangebot nur den sprichwörtlichen Click weit entfernt. Die räumlichen und zeitlichen Grenzen zwischen der privaten und der kommerziellen Welt, wie wir sie früher kannten, existieren kaum mehr. Digitalen Geräten, allen voran dem Smartphone, ist es geschuldet, dass konsumrelevante Tätigkeiten wie das Suchen nach Produkten, Lesen von Vergleichstests bis hin zum tatsächlichen Kauf jederzeit und von überall aus gemacht werden können.

Das Sprichwort vom König Kunde ist somit Wirklichkeit geworden, denn der Kunde verfügt nun über Wissen, das ihm Macht verleiht. Auch misstraut er zunehmend Werbebotschaften in der klassischen Massenkommunikation. Er sucht sich vertrauenswürdige oder als vertrauenswürdig und neutral empfundene Quellen, die er jenseits der traditionellen Kanäle auf Vergleichsportalen oder in der Welt der Social Media findet. Botschaften von Unternehmen betrachtet er nur dann nicht als unerwünscht oder sogar nervend, wenn sie Relevanz für ihn haben – und das in der konkreten Situation des Hier und Jetzt.

Dem Kunden alle Wünsche von den Daten ablesen

Wenn die Kunden ihre neue Macht einsetzen, dann haben Konsumgüterhersteller gar keine andere Wahl als vollständig kundenzentriert zu werden. Erfolg kann mit der Fokussierung auf Produkte nicht mehr erzielt werden, denn die Kunden verlangen nach einer Lösung ihrer Probleme. Das können sachlich­rationale Probleme wie Hunger und andere Grundbedürfnisse oder auch emotionale und psychosoziale Probleme sein – wie das Bedürfnis, mit seiner Kleidung einen bestimmten Lifestyle auszudrücken. Sieger in diesem Wettbewerb werden diejenigen Hersteller sein, die den Kunden am besten kennen. Dazu müssen sie über eine direkte Schnittstelle zum Kunden verfügen, über die sie mit relevanter und individualisierter Kommunikation sein Vertrauen gewinnen können.

Auch in diesem Hyperwettbewerb werden Premiummargen möglich sein, denn Kunden belohnen treffende Problemlösungen mit wahrer, nicht­transaktionaler Loyalität, die mit einer höheren Preisausgabebereitschaft einhergeht. Das Lösungsangebot, das Unternehmen ihren Kunden unterbreiten, muss „predictive“ werden.

Ein konkretes Beispiel: Wenn im März die ersten Sonnenstrahlen den Frühling ankündigen, was in der Vergangenheit die Menschen in Baumärkte lockte, wird dies in Zukunft so kaum noch funktionieren, denn über eine KI­basierte Schnittstelle wird ein Gartenmöbelunternehmen oder eine Handelsplattform den Kunden ein individualsiertes Angebot unterbreiten, bevor ihm das Bedürfnis bewusst wird. Der Anbieter kennt die Ausmaße des Balkons unseres Wirtschaftshistorikers der Zukunft, den Zustand der bestehenden Möbel, die Stilrichtungspräferenz, die finanziellen Möglichkeiten und vieles mehr und berücksichtigt dies entsprechend. Damit verlieren auch die klassischen Orte des Konsums ihre Bedeutung. Konsum wird dort angebahnt und vollzogen, wo das Bedürfnis entsteht.

Um die Kunden zu kennen, müssen die Unternehmen Daten über sie sammeln und aus diesen Daten anwendbare Erkenntnisse gewinnen, die die Grundlage ihrer relevanten und individualisierten Kommunikation mit den Kunden darstellen. Gegenwärtig sind die allermeisten Konsumgüterunternehmen von diesem Zielbild sehr weit entfernt. Oft betreiben sie nur eine rudimentäre direkte Schnittstelle zum Kunden; vieles wird noch über den Handel realisiert, der kaum relevante Daten zurückspielt – und wenn dies möglich wäre, dann scheitert es an der mangelnden Standardisierung der Datentypen.

Kundenzentrierung erfordert Datenzentrierung

Einige Konsumgüterhersteller haben daher eigene Kanäle wie Webshops oder physische Flaggshipstores etabliert, und nahezu jedes hat eigene Apps entwickelt. Die meisten Apps leiden jedoch an einer zu geringen Nutzung, da sie den Kunden kaum Mehrwert bieten. Wie auch, wenn die App zu wenige Daten hat, um daraus Relevanz abzuleiten? Die Vielzahl an Kanälen geht meist damit einher, dass man in unterschiedlichen Kanälen verschiedene Dinge tun kann. Wenn ich als Kunde etwa in einem App-­Profil meine Präferenzen hinterlegt habe und ein physisches Geschäft derselben Marke betrete, wo diese Informationen nicht bekannt sind, dann zeigt das, wie weit wir noch von einer konsistenten Omnichannel­-Erfahrung entfernt sind.

Langer Rede kurzer Sinn, der Wandel der Konsumgüterunternehmen zu echter Kunden­ und der damit verbundenen Datenzentrierung hat gerade erst begonnen. Google, Facebook und Amazon zählen zu den wertvollsten Unternehmen der Welt – nicht etwa weil sie besonders außergewöhnliche Produkte anbieten, sondern weil sie die meisten Daten über ihre Kunden bzw. User haben und in der Lage sind, diese sinnvoll zu verarbeiten.

Und was ist mit dem Handel?

In Abhängigkeit der Kategorie bleibt der Handel ein wichtiger Distributionspartner für Konsumgüterhersteller – im Lebensmittelbereich zum Beispiel stärker, im Kosmetikbereich weniger stark. D2C­-Modelle und Marktplätze treten neben den klassischen Vertriebsweg über den Handel und führen zu einer vielfältigeren und komplexeren Distributionslandschaft. Der entscheidende Unterschied liegt aber nicht im physischen Weg des Produktes, sondern in der direkten Kommunikation mit dem Kunden und dem darauf – wie auf vielen anderen Daten – basierenden Verständnis des Unternehmens für den Kunden. Konsumgüterunternehmen wandeln sich unter Anwendung des „Customer Centricity“ Paradigmas zu echten Problemlösern. Der physische Vertrieb, auch über den Handel, bleibt wichtig, wird aber zu einem abgeleiteten Faktor. Bisweilen in Kooperation mit dem Handel, manchmal ohne ihn und sicher auch manchmal unter Führung eines Handelsunternehmens, das sich schneller zu einem datengetriebenen Unternehmen gewandelt hat.

Konsumgütermarkt im Umbruch: Vom alten Regime zur Omni-Kanal-Welt (Copyright Capgemini)

IT ist ein entscheidender Faktor, …

Die für den Wandel notwendigen IT-­Instrumente existieren bereits bzw. befinden sich in der Entwicklung. Leistungsfähige Omnichannel­, Marketing­ und CRM-­Software ist ebenso vorhanden wie recht einfach einsetzbare Pakete für Advanced Analytics und Künstliche Intelligenz. Wenn man sich die einzelnen Segmente der Konsumgüterindustrie anschaut, seien es nun Güter des alltäglichen Bedarfs, Sportartikel oder andere, dann kann man mittlerweile feststellen, dass diejenigen Unternehmen, die die IT-­Modernisierung und Digitalisierung konsequent vorantreiben, ihre Mitstreiter outperformen.

... der zum Erfolg führt, wenn Organisation, Kultur und Strategie ihr die Chance dazu bietet

Viele Konsumgüterunternehmen haben schon vor einiger Zeit umfassende IT­Modernisierungsprogramme angestoßen, deren Erfolg – wenig überraschend – recht unterschiedlich ausfällt. Entscheidend ist, inwiefern sie die Transformation nicht nur technologisch, sondern auch auf strategischer, organisatorischer und kultureller Ebene umsetzen. Ein Chief Digital Officer etwa nutzt kaum etwas, wenn es sich um eine „zahnlose“ Stabsstelle handelt. Der Wandel zu einem kundenzentrierten Unternehmen kann nur funktionieren, wenn finanzkennziffernbasierte durch kundenzentrierte KPIs ersetzt werden. Wenn agile Methoden zum gewünschten Erfolg führen sollen, der muss auch die Mauern zwischen den Silos einreißen und cross­funktionale Teams als Standard etablieren.

Und selbstverständlich muss eine Transformation dieses Ausmaßes von der Unternehmensführung selbst gesteuert und gelebt werden. Ohne die hundertprozentige Unterstützung des C­Levels wird sie scheitern müssen. Jedes Unternehmen hat seine eigene Sprache, manifestiert in KPIs, Dashboards, Freigabeprozessen und vielem mehr. Diese Sprache muss in eine kunden­ und datenzentrierte verwandelt werden und in der Unternehmenskultur jeden Tag aufs Neue gelebt werden.

Der Wirtschaftshistoriker kennt letztlich die Zeit zwischen 2021 und 2040 und die Unternehmen, denen die Transformation gelungen ist. Die Verlierer haben nicht an einem Mangel an Technolgie gelitten, sondern an einer zu schwachen Integration der technischen Möglichkeiten in Strategie und Kultur.

Der Autor: Achim Himmelreich ist Global Head Consumer Engagement, Consumer Products & Retail bei Capgemini. Er berät seine Kunden, wie sie mit der digitalen Transformation umgehen und neue digitale Geschäftsmodelle anpassen oder entwickeln können. Dabei spielt in zahlreichen aktuellen Transformationsprojekten der Einsatz von künstlicher Intelligenz eine entscheidende Rolle. Zudem ist Achim Himmelreich Vizepräsident des Bundesverbandes Digitale Wirtschaft (BVDW e.V.).